Doch wie wollt ihr das Leben von Sur von neuem aufbauen?

cizre
Nurcan Baysal für das Nachrichtenportal T24, 25.04.2016

Auch wenn in den Medien die Belagerung vom Stadtteil Sur nicht mehr viel thematisiert wird, hält die Ausgangssperre in sechs Vierteln des Stadtteils weiterhin an. Die Viertel sind seit 146 Tagen von den Ausgangssperren betroffen. Die übrigen Viertel von Sur versuchen indes in die Normalität zurückzukehren.

Viele Geschäfte auf der Haupteinkaufsstraße von Sur haben wieder geöffnet. Doch die Zahl der Menschen auf der Straße ist nicht mehr dieselbe. Die Panzer und Wasserwerfer an den Straßenenden von Sur gehören nun zum normalen Erscheinungsbild des Stadtteils. Die Räumfahrzeuge fahren immer wieder in Stadtbezirke rein und raus, um den Schutt wegzuräumen. Die Bevölkerung beäugt das Geschehen mit einer Mischung aus Trauer und Wut.

Wir besuchen zunächst die Viertel Lalebey und Ziya Gökalp. Der Ortsvorsteher begleitet uns eine Weile. Die Bewohner vor Sur kehren in ihre Häuser zurück. Ein Großteil der Bevölkerung ist wohl wieder zurück. Und so führen wir Gespräche mit den Frauen, die uns aus ihren Fenstern beobachten. Eine dieser Frauen ist Fatma, die mit ihren Kindern wieder zurückgekommen ist. „Die Kinder waren an dem neuen Ort unglücklich. Wir haben uns alle an das Leben in Sur gewöhnt. Wir können nur hier und nicht woanders leben.“ Mit diesen Worten erklärt sie uns die Gründe für ihre Rückkehr.  Sobald die Schulen wieder eröffnet hatten, sind sie zurückgekehrt. Und Fatma wirkt hier glücklich.

Man erzählt uns, dass in einige verlassene Häuser eingebrochen worden ist. Die wertvollen Gegenstände wurden aus diesen Häusern geklaut. Wer dafür verantwortlich ist, kann nicht ermittelt werden.

In dem Stadtteil wurden alle zerbrochenen Fenster durch die Stadtverwaltung ersetzt. Zudem hat der Landrat an diejenigen Familien, der Häuser Schäden davongetragen haben, Entschädigungsgelder verteilt. Eine Frau berichtet uns, dass die ausgezahlten Entschädigungen für kaum was ausreichen würden. „Wir haben 200 TL erhalten. Damit konnten wir gerade einmal unsere Haustür auswechseln“, erklärt sie uns. Die Schäden an den Häusern wurden ermittelt und dokumentiert. Doch die Entschädigungen reichen für die Menschen von vorn und hinten nicht aus.

Trotz der ganzen Zerstörung gelingt es dem Bezirk Lalebey uns sofort in seinen Bann zu ziehen. Die Schönheit der Gassen, die glücklich spielenden Kinder und nachbarschaftlichen Gespräche auf der Straße, all das belebt Sur von neuem.

Wir kommen am Dengbej Haus (Dengbej=trad. kurdischer Sprachgesang) vorbei. Es wird  saniert und soll in naher Zukunft wieder eröffnet werden.

Wir treten anschließend in das Dicle-Firat Kulturzentrum ein. Hier sitzen weiterhin Familien, die auf die Übergabe der Leichname ihrer Kinder warten. Ich spreche mit Mehmet. Er berichtet uns, dass er auf den Leichnam seines 14-Jährigen Neffen wartet. Vor zwei Monaten habe die Familie über die Sozialen Medien erfahren, dass er getötet worden ist. In dem Beitrag sei auch Bild seines Leichnams zu sehen gewesen. Aber dieser Leichnam ist immer noch nicht aufgetaucht. Mehmet berichtet mir verzweifelt, dass die ganze Familie wegen dieser Situation am Durchdrehen ist. „Er war geistig zurückgeblieben. Jedes Mal ist er los in den Stadtteil und wir haben ihn anschließend wieder zurückgeholt. Und jetzt ist sein Leichnam verschwunden“, erzählt Mehmet.

„Erst der Krieg und jetzt die Enteignung…“

Wir treten in Sülüklü Han ein, um dort einen Kaffee zu trinken. Hier kehrt so langsam die alte Geschäftigkeit wieder ein. Wir sprechen mit zwei jungen Männern, die vor Ausbruch der Belagerung ein altes Haus in Sur gekauft hatten. Sie planten, es zu restaurieren und ein Restaurant darin aufzumachen. Wir fragen sie, was nun ihr Plan ist. „Wir haben keinen Plan“, sagen sie uns. „Der Krieg hat unser Seelenleben völlig durcheinandergebracht. Und jetzt geben uns die Enteignungspläne den Rest. Wir sind hier alle traumatisiert. Ich glaube, wir wissen noch gar nicht, was mit uns hier geschehen ist. Wir werden Monate, vielleicht Jahre brauchen, um das zu verarbeiten.“

Der zweite ist auch wütend über das Geschehene und sagt: „Wir verstehen nicht, was hier geschehen ist. In solch einem Ort kann doch kein Krieg geführt werden. Die inneren Viertel von Sur haben eine 5000 jährige Geschichte. Selbst wenn der Staat das hier eingreift, hätten wir diese Viertel verteidigen müssen. Aber wir verstehen nicht, wie es so weit kommen konnte.“

Ein Ladenbesitzer mit dem ich sprach, berichtet uns, dass alle sechs Schulen, die es in Sur gab, nun geschlossen werden sollen. Stattdessen plant die Regierung die Errichtung von zwölf Polizei- und Militärstationen. “Was will der Staat hier machen? Sie haben die Menschen aus ihren Häusern vertrieben. Wollen sie nun die Häuser an ihre eigene Anhängerschaft verkaufen?“, fragt er uns.

Auch wir wissen die Antwort nicht. Aber all das deutet darauf hin, dass der Stadtteil entvölkert werden soll.  Die Trauer und die Wut in Sur sind allgegenwärtig.

Die inneren Viertel von Sur haben einen anderen Charakter als die übrigen Stadtteile von Amed (Diyarbakir). Obwohl Sur ein Armutsviertel ist, muss hier niemand Hunger leiden. Wenn ein Haus hier Besuch bekommt, bringt aus der Nachbarschaft der eine den Tee und der andere den Zucker. In den Abendstunden treffen sich die Menschen in den Vorhöfen eines der Häuser und jeder bringt für das gemeinsame Abendessen etwas mit. Ja, hier herrscht Armut. Aber deutlich stärker als die Armut sind hier die Solidarität untereinander und die Nachbarschaftsverhältnisse.

Der Staat spricht nun davon, die Viertel von Sur zu verstaatlichen. Er will anstelle der Schulen Kasernen errichten. Wenn das umgesetzt wird, was wird dann aus dem Leben der Menschen hier?

Sur ist nicht nur eine Vielzahl von Häusern und Wohnungen in einem Stadtteil. Hier herrscht ein Leben vor. Was soll aus diesem Leben dann werden? Was wird passieren, wenn an diesem Ort, an dem seit 5000 Jahren ein reges Leben vorherrscht, dieses Leben auf einmal abgeschnitten wird?

Man muss hier folgende Frage an die Verantwortlichen stellen:

Ihr habt die Häuser in Sur zerstört und wollt nun neue Häuser an ihrer Stelle aufbauen. Doch wie wollt ihr das Leben von Sur von neuem aufbauen?

Doch wie wollt ihr das Leben von Sur von neuem aufbauen?

Auch wenn in den Medien die Belagerung vom Stadtteil Sur nicht mehr viel thematisiert wird, hält die Ausgangssperre in sechs Vierteln des Stadtteils weiterhin an. Die Viertel sind seit 146 Tagen von den Ausgangssperren betroffen. Die übrigen Viertel von Sur versuchen indes in die Normalität zurückzukehren.

Viele Geschäfte auf der Haupteinkaufsstraße von Sur haben wieder geöffnet. Doch die Zahl der Menschen auf der Straße ist nicht mehr dieselbe. Die Panzer und Wasserwerfer an den Straßenenden von Sur gehören nun zum normalen Erscheinungsbild des Stadtteils. Die Räumfahrzeuge fahren immer wieder in Stadtbezirke rein und raus, um den Schutt wegzuräumen. Die Bevölkerung beäugt das Geschehen mit einer Mischung aus Trauer und Wut.

Wir besuchen zunächst die Viertel Lalebey und Ziya Gökalp. Der Ortsvorsteher begleitet uns eine Weile. Die Bewohner vor Sur kehren in ihre Häuser zurück. Ein Großteil der Bevölkerung ist wohl wieder zurück. Und so führen wir Gespräche mit den Frauen, die uns aus ihren Fenstern beobachten. Eine dieser Frauen ist Fatma, die mit ihren Kindern wieder zurückgekommen ist. „Die Kinder waren an dem neuen Ort unglücklich. Wir haben uns alle an das Leben in Sur gewöhnt. Wir können nur hier und nicht woanders leben.“ Mit diesen Worten erklärt sie uns die Gründe für ihre Rückkehr.  Sobald die Schulen wieder eröffnet hatten, sind sie zurückgekehrt. Und Fatma wirkt hier glücklich.

Man erzählt uns, dass in einige verlassene Häuser eingebrochen worden ist. Die wertvollen Gegenstände wurden aus diesen Häusern geklaut. Wer dafür verantwortlich ist, kann nicht ermittelt werden.

In dem Stadtteil wurden alle zerbrochenen Fenster durch die Stadtverwaltung ersetzt. Zudem hat der Landrat an diejenigen Familien, der Häuser Schäden davongetragen haben, Entschädigungsgelder verteilt. Eine Frau berichtet uns, dass die ausgezahlten Entschädigungen für kaum was ausreichen würden. „Wir haben 200 TL erhalten. Damit konnten wir gerade einmal unsere Haustür auswechseln“, erklärt sie uns. Die Schäden an den Häusern wurden ermittelt und dokumentiert. Doch die Entschädigungen reichen für die Menschen von vorn und hinten nicht aus.

Trotz der ganzen Zerstörung gelingt es dem Bezirk Lalebey uns sofort in seinen Bann zu ziehen. Die Schönheit der Gassen, die glücklich spielenden Kinder und nachbarschaftlichen Gespräche auf der Straße, all das belebt Sur von neuem.

Wir kommen am Dengbej Haus (Dengbej=trad. kurdischer Sprachgesang) vorbei. Es wird  saniert und soll in naher Zukunft wieder eröffnet werden.

Wir treten anschließend in das Dicle-Firat Kulturzentrum ein. Hier sitzen weiterhin Familien, die auf die Übergabe der Leichname ihrer Kinder warten. Ich spreche mit Mehmet. Er berichtet uns, dass er auf den Leichnam seines 14-Jährigen Neffen wartet. Vor zwei Monaten habe die Familie über die Sozialen Medien erfahren, dass er getötet worden ist. In dem Beitrag sei auch Bild seines Leichnams zu sehen gewesen. Aber dieser Leichnam ist immer noch nicht aufgetaucht. Mehmet berichtet mir verzweifelt, dass die ganze Familie wegen dieser Situation am Durchdrehen ist. „Er war geistig zurückgeblieben. Jedes Mal ist er los in den Stadtteil und wir haben ihn anschließend wieder zurückgeholt. Und jetzt ist sein Leichnam verschwunden“, erzählt Mehmet.

„Erst der Krieg und jetzt die Enteignung…“

Wir treten in Sülüklü Han ein, um dort einen Kaffee zu trinken. Hier kehrt so langsam die alte Geschäftigkeit wieder ein. Wir sprechen mit zwei jungen Männern, die vor Ausbruch der Belagerung ein altes Haus in Sur gekauft hatten. Sie planten, es zu restaurieren und ein Restaurant darin aufzumachen. Wir fragen sie, was nun ihr Plan ist. „Wir haben keinen Plan“, sagen sie uns. „Der Krieg hat unser Seelenleben völlig durcheinandergebracht. Und jetzt geben uns die Enteignungspläne den Rest. Wir sind hier alle traumatisiert. Ich glaube, wir wissen noch gar nicht, was mit uns hier geschehen ist. Wir werden Monate, vielleicht Jahre brauchen, um das zu verarbeiten.“

Der zweite ist auch wütend über das Geschehene und sagt: „Wir verstehen nicht, was hier geschehen ist. In solch einem Ort kann doch kein Krieg geführt werden. Die inneren Viertel von Sur haben eine 5000 jährige Geschichte. Selbst wenn der Staat das hier eingreift, hätten wir diese Viertel verteidigen müssen. Aber wir verstehen nicht, wie es so weit kommen konnte.“

Ein Ladenbesitzer mit dem ich sprach, berichtet uns, dass alle sechs Schulen, die es in Sur gab, nun geschlossen werden sollen. Stattdessen plant die Regierung die Errichtung von zwölf Polizei- und Militärstationen. “Was will der Staat hier machen? Sie haben die Menschen aus ihren Häusern vertrieben. Wollen sie nun die Häuser an ihre eigene Anhängerschaft verkaufen?“, fragt er uns.

Auch wir wissen die Antwort nicht. Aber all das deutet darauf hin, dass der Stadtteil entvölkert werden soll.  Die Trauer und die Wut in Sur sind allgegenwärtig.

Die inneren Viertel von Sur haben einen anderen Charakter als die übrigen Stadtteile von Amed (Diyarbakir). Obwohl Sur ein Armutsviertel ist, muss hier niemand Hunger leiden. Wenn ein Haus hier Besuch bekommt, bringt aus der Nachbarschaft der eine den Tee und der andere den Zucker. In den Abendstunden treffen sich die Menschen in den Vorhöfen eines der Häuser und jeder bringt für das gemeinsame Abendessen etwas mit. Ja, hier herrscht Armut. Aber deutlich stärker als die Armut sind hier die Solidarität untereinander und die Nachbarschaftsverhältnisse.

Der Staat spricht nun davon, die Viertel von Sur zu verstaatlichen. Er will anstelle der Schulen Kasernen errichten. Wenn das umgesetzt wird, was wird dann aus dem Leben der Menschen hier?

Sur ist nicht nur eine Vielzahl von Häusern und Wohnungen in einem Stadtteil. Hier herrscht ein Leben vor. Was soll aus diesem Leben dann werden? Was wird passieren, wenn an diesem Ort, an dem seit 5000 Jahren ein reges Leben vorherrscht, dieses Leben auf einmal abgeschnitten wird?

Man muss hier folgende Frage an die Verantwortlichen stellen:

Ihr habt die Häuser in Sur zerstört und wollt nun neue Häuser an ihrer Stelle aufbauen. Doch wie wollt ihr das Leben von Sur von neuem aufbauen?