Die türkischen Medien und das Kurdenproblem

presse freiheitAnalyse von Ragip Duran zur Pressefreiheit und ihrem Bezug zur kurdischen Frage in der Türkei, 29.02.2016

In der Türkei ist es schwierig sich in der Öffentlichkeit und in den Medien über die kurdische Frage frei zu äußern. Denn wenn man den Aussagen des Präsidenten der Türkei Erdoğan folgt, gibt es in der Türkei „kein Kurdenproblem sondern ein Terrorismus-Problem“. Also jedes Mal, wenn man von Kurden, den Rechten für Kurden oder von der friedlichen Lösung redet, wird man direkt vor den Staatsanwalt gebracht und wegen separatistisch-terroristischer Propaganda oder wegen Beleidigung des Präsidenten der Republik angeklagt.

Wenn man verurteilt wird, hat man Glück. Denn der Präsident der Anwaltskammer von Diyarbakir, Herr Rechtsanwalt Tahir Elci, ein leidenschaftlicher Verteidiger der friedlichen Lösung, der sich der Gewalt des Staates aber auch der PKK öffentlich widersetzte, wurde neulich mitten im Stadtzentrum von Diyarbakir erschossen. Die Polizei und Ermittlungsbeamten haben seit dem 28. November 2015, dem Tag der Ermordung von Tahir Elci, fast nichts getan. Herr Elci gehört von nun an zu den tausenden Opfern der „Morde unbekannter Täter“, allgemein übliche Taten gegen die Regimegegner und Journalisten in den kurdischen Gebieten des Landes, zumindest seit dem Militärputsch vom 12. September 1980.

32 Journalisten – unter ihnen 24 Kurden – befinden sich zurzeit in türkischen Gefängnissen. Fast allen wird vorgeworfen einer „terroristischen Organisation“ anzugehören, obwohl sie lediglich Nachrichten veröffentlicht oder ihre Meinungen geäußert haben und weder eine Waffe besitzen noch irgendwelche Verbindung zu einer Organisation haben.

Mehr als 400 Personen, darunter Journalisten, Gewerkschaftler, Akademiker, Schriftsteller oder Leiter von NGOs werden zurzeit von der Staatsanwaltschaft wegen Beleidigung des Präsidenten angeklagt, obwohl es sich einfach nur um Kritik an der politischen Macht handelt.

Und ich rede noch nicht einmal von den 2000 Studenten, von dem TV-Moderator Beyaz oder von der Lehrerin aus Diyarbakir, die zurzeit von der Staatsanwaltschaft angeklagt werden, obwohl sie lediglich eine Petition für einen Waffenstillstand unterschrieben haben, oder sich für das Ende der Auseinandersetzungen eingesetzt haben. „Verräter“, „Freunde der Terroristen“, „Intellektuelle der Kolonien“, „Ignoranten“ werfen der Präsident und die Staatspresse ihnen vor.

Das Kurdenproblem ist ein Tabu, aber gleichzeitig auch die Achillesferse der türkischen Presse.

Es wäre vielleicht sinnvoll daran zu erinnern, dass seit ihrem Anfang in der Türkei, genauer gesagt seit 1831, sich die Presse als offizielles Organ der politischen Macht und nicht als Stimme der Öffentlichkeit, als Stimme der Wahrheiten benimmt. Die erste veröffentlichte Tageszeitung im osmanischen Reich war das direkte Produkt des Palastes, des Sultans. Und die allerersten Pressekorrespondenten, Redakteure und Zeitungsverleger waren Beamte der „Hohen Pforte“ (Metonym für den Sitz der osmanischen Regierung). Also unsere Berufsvorfahren waren schon vom Sultan bezahlte Beamte. Sie veröffentlichten nur die Wünsche des Sultans. Der osmanische Palast war der einzigste und wahre Eigentümer, im ökonomischen, politischen, ideologischen und editorialen Sinne des Wortes, der ersten Tageszeitung.

Die Dinge haben sich kaum verändert – seit 185 Jahren. Heutzutage werden über 80% der türkischen Medien direkt oder indirekt vom neuen Palast Ankaras, dem Sitz des Präsidenten Erdoğans aus, geleitet. Die Regierungspartei AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung), die seit 2002 an der Macht ist, benutzt alle Mittel, um die Medien zu unterdrücken und die Stimme der Opposition zum Schweigen zu bringen: Zensur (Alo Fatih), Selbstzensur, Entlassungen von Redakteuren und Pressekorrespondenten, die die Regierung kritisieren (mehr als 250 Journalisten sind seit den Gezi-Unruhen vom Juni 2013 entlassen worden), Festnahmen und Anklagen gegen Journalisten (Can Dündar, Erdem Gül), von den Führungskräften der AKP organisierte Razzien in den Gebäuden der Tageszeitungen (Hürriyet), massive Geldstrafen (Doğan), Übergriffe auf Redakteure (Ahmet Hakan) usw. Und neue Taten: Die Regierung hat vor Kurzem die vier Gesellschaften der Holding Koza Ipek, Verleger von zwei Tageszeitungen und Eigentümer von zwei TV Kanälen in enger Verbindung mit Fetullah Gülen – alter Alliierter und neuer Feind Erdoğans – beschlagnahmen lassen.

Eigentum ist mittlerweile kein unantastbares Hab und Gut mehr in der Wirtschafts- und Finanzwelt der neuen Türkei.

Warum denn all diese antidemokratischen, illegalen und illegitimen Maßnahmen gegen die Pressefreiheit? Die türkische politische Macht, mit Erdoğan als Anführer, wird gravierender Verletzungen des internationalen Rechtes (Transfer von Waffen an Dschihadisten in Syrien), der Menschenrechtsverstöße gegen Kurden und Oppositionelle und erheblicher Korruption (Skandal von 17. – 25. Dezember 2013) beschuldigt. Die politische Macht hat Angst; sie versucht alle ernsten Anschuldigungen zu verbergen oder zu verfälschen. Weil wenn sie vor Gericht gebracht werden sollte, würde sie sehr wahrscheinlich verurteilt werden. Wenn die gesamte Bevölkerung gut über diese schweren Taten informiert wäre, könnte sie ihre Macht verlieren. Sie braucht einen großen Medien-Mechanismus, so groß wie die Anschuldigungen, um sich aus dem Visier der Kritik zu fühlen. Die türkische Presse wurde zum ersten Mal mit dem Kurdenproblem im Jahre 1925 konfrontiert, während des Aufstandes von Scheich Said in der Region Diyarbakir. Die ersten Informationen darüber wurden erst nach drei Monaten nach dem Beginn der militärischen Operationen, um den Aufstand niederzuschlagen, veröffentlicht. Es handelte sich hauptsächlich um antikurdische Propaganda. „Unzivilisierte Verbrecher und reaktionäre Religiöse wollen sich den Errungenschaften der Republik widersetzen“, hieß es laut der Presse, die die Erklärungen der Armee wiederholten.

Eine zweite wichtige Begegnung zwischen der türkischen Presse und den Kurden fand während der Operationen von Dersim 1937 statt. Die Titelseite der türkischen Presse über die Niederschlagung von Dersim ist voller Hassreden: Die Kurden werden als „dreckige Hunde“, „reaktionäre Ignoranten“, „Urmenschen, die in Höhlen leben“ bezeichnet. Der Journalist Faik Bulut publizierte 1992 ein Buch „Die Kurden in der türkischen Presse“, in dem hunderte Beispiele von Beschimpfungen gegen Kurden zu lesen sind.

Seit 1984, dem Beginn des bewaffneten Kampfs der PKK gegen die zentrale Macht, werden die Kurden immer negativ in der türkischen Presse behandelt. „Eine Nation, eine Sprache, eine Fahne“ ist der beliebteste Slogan nicht nur der politischen Mächte sondern auch der Medien des Landes.

Selbst die Existenz der kurdischen Nation und der kurdischen Sprache wurde lange Zeit verleugnet. Seit dem 1. November 2015 nun werden umfassende „Durchkämmungsaktionen“ oder „Säuberungsoperationen“ – laut der offiziellen Terminologie –in den kurdischen Regionen des Landes durchgeführt. Schwere Bilanz: 162 Zivilisten wurden getötet, darunter sind 32 Kinder und 29 Frauen laut einem Bericht der Stiftung für Menschenrechte (TIHV, 9. Januar 2016).

In 20 Bezirken von 7 Provinzen wurde die Ausgangssperre 56 Mal verordnet. Gesamte Viertel wurden bombardiert und zerstört. Die Leichen der getöteten Zivilisten konnten nicht begraben werden, man musste sie deshalb in Kühlschränken aufbewahren oder mitten auf den Straßen belassen.

Die Medien der Regierung schieben der PKK die Morde und Zerstörungen zu, ohne jegliche Beweise, ohne Fotos etc. Sie veröffentlichen auch Berichte laut denen zwischen 69 und 123 PKK-Kämpfer während den Operationen getötet worden seien. Aber immer noch keine Namen, keine Beweisfotos … Wenn man sich einfache Fragen bezüglich dieser Operationen stellt, wird einem schnell klar, dass die Mainstream-Presse die Wahrheiten verdreht und verbirgt. Gebäude, darunter auch Moscheen und Schulen, werden von schweren Waffen, Panzern, Granaten und Raketen zerstört. Die PKK-Kämpfer bzw. Milizen haben dagegen nur leichte Waffen. Warum sollte die PKK ihre eigenen Anhänger oder Sympathisanten töten? Warum sollte die PKK die Wähler töten, die so zahlreich der kurdischen Partei ihre Stimmen gegeben haben?

Ist die gesamte Bevölkerung, sind die Babies, Kinder und Senioren der Bezirke Sur, Cizre, Nusaybin, Silopi, Gever, Lice, Siverek usw. Mitglieder der PKK?

Der Staat organisiert staatliche Beerdigungszeremonien für die Polizisten und Soldaten, die während den Gefechten ums Leben kamen, aber die Mainstream-Presse berichtet nicht ein Mal über die getöteten zahlreichen Zivilisten. Am 9. Januar hat der Staat entschieden, sofort die Leichname der getöteten Zivilisten ohne die Zustimmung der Angehörigen zu begraben, um zivilen Beerdigungszeremonien, die schnell zu Protesten gegen die türkische Regierung werden können, zu vermeiden. Die Regierung will auch Autopsien der Getöteten verhindern und die Täter schützen. Die religiösen Regeln werden dabei von der Regierung, die behauptet moslemisch zu sein, keinesfalls respektiert.

Ein fremder Journalist, oder ein französischer, englischer oder deutscher Soziologe zum Beispiel, der türkisch lesen kann und jeden Tag zuhause die türkische Mainstream-Presse liest, kann nicht verstehen, was in der Türkei, in der türkischen Gesellschaft, geschieht. Die türkische Mainstream-Presse spiegelt nicht die Realität der Türkei oder der türkischen Gesellschaft wider, sondern hauptsächlich die Wünsche der türkischen Macht – des Palastes Erdoğans – und das in einer undeutlichen sogar widersprüchlichen Weise. Wenn der Palast seine Politik ändert, folgen ihm automatisch die Mainstream-Medien ohne jegliche Erklärung. Die Einnahmen durch offizielle Anzeigen und Werbespots sind die Hauptfinanzquellen der Medien der Regierung. Die Anzahl der verkauften staatlichen Tageszeitungen wurden vervier- sogar verfünffacht. Und das, um einerseits offizielle Anzeigen zu bekommen und andererseits, um sich wie der Frosch zu präsentieren, der sich so groß wie ein Ochse machen will. Also eine falsche Größe und ein überflüssiges Prestige … Ein Redakteur aus dem Umfeld des Palastes musste gestehen, dass zum Beispiel die Tageszeitung Milliyet nur tatsächlich 30 Tausend Exemplare verkauft, obwohl die Vertriebsgesellschaft der türkischen Presse über Zahlen von 144 Tausend Exemplaren berichtet. Die türkische Mainstream-Presse verkauft sich nicht, weil sich nicht mehr vertrauenswürdig ist. Selbst die AKP-Wähler vertrauen ihr nicht mehr.

Die sozialen Netzwerke und die internationale Presse sind die wichtigsten Quellen für richtige Informationen über das kurdische Problem. Selbst wir Journalisten bekommen manchmal mehr Informationen dank der Tageszeitungen Le Monde, New York Time oder Guardian. Den wahren Journalismus kann man nur in einem freien, demokratischen Land ausüben, wo das Recht herrscht. Aber die Justiz in der Türkei ist zu einem einfachem Instrument in den Händen der Macht geworden. Außergewöhnliches Ereignis: Zum ersten Mal in der Geschichte der türkischen Republik, das heißt seit 1923, sind Richter und Staatsanwälte festgenommen und verurteilt worden, weil sie Urteile gefällt haben, die dem Staat zuwiderliefen. Zwei Staatsanwälte mussten illegal das Land verlassen … Es ist also schwierig, bei uns überhaupt von der Existenz einer freien unabhängigen Justiz zu reden.

Zwei neue Phänomene in den türkischen Medien:

  • Erstens soll es angeblich einen Redakteur geben, offiziöser Sprecher des Palasts, der öffentlich Mord- und Entlassungsdrohungen an unsere Kollegen entrichtet, die es wagen, die Macht zu kritisieren. Er wird von den Männer der Macht unterstützt und die Gerichte schließen die Augen, trotz erhobener Klagen.
  • Zweitens gibt es ein Boulevardblatt (vergleichbar mit dem Ici-Paris in Frankreich, The Sun in Großbritannien oder Bild in Deutschland), das es wagt, systematisch Fotomontagen im Titelblatt zu veröffentlichen, die zum Beispiel Selahattin Demirtaş – Kovorsitzender der Demokratischen Partei der Völker HDP – im Guerilla-Uniform in den PKK-Lagern zeigen, oder eine Fotomontage mit PKK-Kämpfern, die eine Selbstmordattentäterin mit Bomben ausrüsten. Das arme fiktive Mädchen nimmt Drogen zu sich! In der Vergangenheit hatte diese Tageszeitung ein imaginäres Interview mit Christiane Amanpour von CNN veröffentlicht.

Die Medien sind in sehr enger Verbindung mit der Politik, Ideologie, Kultur und Gesellschaft. Die aktuelle Lage der türkischen Medien ist so schlecht, dass nur eine starke Veränderung hin zur Freiheit, Demokratie und Justiz endlich die Situation für den Wiederaufbau der Medien vorbereiten könnte, die den Bürgern und nicht der Macht nutzen würden.