Afrin – kein kurdisches Problem

Aktuelle Bewertung von Nilüfer Koç, Kovorsitzende des Nationalkongresses Kurdistan (KNK); für den Kurdistan Report März/April 2018

Der Monat Februar ist für uns Kurden ein besonders schwieriger Monat. Denn an einem 15. Februar wurde der Volksführer der Kurden Abdullah Öcalan in einem internationalen Akt entführt. Seitdem befindet er sich als eine Geisel auf der Gefängnisinsel Imralı. Seine Entführung vor den Augen der Welt war eines der dunkelsten und ungerechtesten Kapitel in der kurdischen Geschichte. Als »Störer« sollte er mundtot gemacht werden und seiner Funktion als Denker nicht mehr nachkommen können. Doch der internationale Sonderstatus Imralı, wobei die Türkei eigentlich die Rolle des Wächters spielt, konnte Öcalan nicht daran hindern, sein Denken den Kurden zur Verfügung zu stellen. Seinen Ideen ist es zu verdanken, dass sie heute im Nahen/Mittleren Osten die Grundlage für den demokratischen Konföderalismus in Nordsyrien gelegt haben. Er hat es geschafft, die Kurden zu überzeugen, dass nicht nur sie, sondern auch alle anderen Völker des Nahen/Mittleren Ostens Opfer hegemonialer Politik geworden sind. Dass nicht nur Kurden auf die vier Staaten Türkei, Iran, Irak, Syrien aufgeteilt wurden, sondern auch die arabischen Stämme, Assyrer, Armenier, Turkmenen, Tschetschenen Opfer der Teile-und-herrsche-Politik geworden sind. In der Demokratischen Föderation Nordsyrien (DFNS) bezeichnen sich heute diese Volksgruppen als Bürger und Bürgerinnen der autonomen Selbstverwaltung. Durch die Vermittlung Öcalans wird heute eine ganz andere Art der Demokratie geschaffen. Eine Demokratie, die zuallererst auf die Frage der Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern eingeht. Diese Gleichberechtigung bildet die Grundlage der sozialen Gerechtigkeit bei jeder der sozialen Gruppen. Dieses Kriterium haben nicht nur Kurden, sondern auch Araber, Assyrer, Turkmenen, Tschetschenen, Aleviten, Christen, Êzîden, Muslime angenommen. Heute wird Öcalan in der DFNS nicht nur als ein Führer der Kurden gesehen, sondern hat die Herzen aller Volksgruppen und Glaubensgemeinschaften der DFNS gewonnen. Seine Ideen und Vorschläge für Demokratie und Frieden sind heute auch außerhalb Kurdistans angekommen. Er hat den Krieg gegen sich mit seinen Ideen für die Freiheit der Frauen und Völker gewonnen.

Auch der Kanton Afrin in Nordsyrien, der gegenwärtig beschossen wird, ist Resultat seiner Ideen. Da auch hier das gesellschaftliche Fundament fest sitzt, wird es schwer sein, diesen Kanton völlig zu eliminieren. Es kann durchaus sein, dass die Stadt wie in Kobanê (Ain al-Arab) 2015 in Schutt und Asche gelegt wird, aber der Widerstand zeigt, dass sich die Menschen in Afrin nicht stellen. Diese Einstellung ist zugleich die Sicherheit des Erfolges.

Die schwierige Endphase des Syrienkonflikts: Afrin

Seit dem 20. Januar 2018 steht der kurdisch dominierte Kanton Afrin in Nordwestsyrien unter türkischem Beschuss. Als Kanton der Demokratischen Föderation Nordsyrien war Afrin eine sichere Fluchtregion für vom Islamischen Staat (IS) verfolgte Araber, Christen und Êzîden.

Erdoğan hatte bereits letztes Jahr mehrmals signalisiert, er werde einen »kurdischen Korridor zum Mittelmeer« nicht zulassen. Diplomatisch hatte er sich Russland und den USA aufgedrängt, um Erlaubnis für den Angriff auf Afrin zu bekommen. In der dritten Januarwoche 2018 wurde ihm grünes Licht gegeben, Afrin für kurze Zeit unter Beschuss zu nehmen, um den Kanton zu schwächen.

Erdoğan nutzte diese Gelegenheit und sprach sehr selbst­sicher davon, Afrin binnen einiger Tage plattzumachen. Andere Regierungen bestätigten Erdoğan im Grunde diplomatisch mit Phrasen wie »Wir verstehen die Bedenken der Türkei«. Afrin wurde durch das türkische Militär und dessen Bündnispartner der verschiedenen Al-Qaida-Gruppen aus der Luft und vom Boden aus täglich 24 Stunden bombardiert. Erdoğan hat aber sein Versprechen nicht halten können, da er in Afrin auf unerwarteten Widerstand stieß. Dieser Widerstand hat nicht nur bei Arabern und Assyrern in Nordsyrien zu einer noch stärkeren Solidarität geführt, sondern weltweit.

Menschen in Europa, den USA, Russland, Australien, Japan, Indien, allen Teilen Kurdistans, im Nahen/Mittleren Osten etc. beweisen permanent »Afrin ist Widerstand – Widerstand ist überall!«

Viele Bürger und Bürgerinnen der USA, Russlands und europäischer Staaten beschuldigen ihre Regierungen des Verrats an den Kurden, da sie empört sind über die schmutzige Machtpolitik. Sie sind nicht nur empört, dass die Türkei mit dem Einmarsch in fremdes Territorium einen illegalen Akt verübt, sondern vor allem darüber, dass die Staatengemeinschaft dazu schweigt. Dabei, so meinen viele, hätten die Kurden die Welt bislang vor der globalen Gefahr des IS geschützt. Ihr menschliches Gewissen, ihre humane Moral, die sie mit Kurden gemeinsam zum Ausdruck bringen, ist außerordentlich. Man kann sagen, dass diese Solidarität eine Art Quelle ist, aus der der Widerstand in Afrin seine Stärke bezieht. Diese Solidarität ist in ihrer Qualität eine ganz andere als bei der Befreiung Kobanês 2015. Hier kritisieren die Bürger und Bürgerinnen ihre Regierungen und beschuldigen sie der Heuchelei. Die Kurden brauchen auch gar nicht mehr zu sprechen, Millionen andere Menschen tun das für sie. Es ist eine historische Entwicklung für uns Kurden. Daher ist der Krieg gegen Afrin kein kurdisches Problem! Sondern er ist zum einem globalen Aspekt geworden.

Afrin – ein globales Problem

In weltpolitischer Hinsicht wird die Schlacht um Afrin maßgeblich die Zukunft Syriens entscheiden. Afrin symbolisiert sozusagen die Endphase des Krieges in Syrien, dem diplomatische Verhandlungen folgen werden. In dieser letzten Runde wollen die verschiedenen Interessengruppen einige geostrategisch wichtige Regionen für die spätere Aufteilung klären, damit der Weg zum Verhandlungstisch geebnet ist.

Wer Afrin unter Kontrolle bekommt, wird auch über die künftige Energieroute bestimmen. Über Afrin hat man Zugang zum Mittelmeer, über den später Erdöl und -gas nicht nur aus Nordsyrien und dem Nordirak (Südkurdistan), sondern auch aus dem asiatischen Raum (Iran, Russland etc.) einfacher und kostengünstiger auf den Weltmarkt gebracht werden können. Mit Äußerungen wie der, er werde »keinen kurdischen Korridor zum Mittelmeer dulden«, positionierte sich Erdoğan letztes Jahr mehrmals öffentlich zu Afrin.

Die Gründe für den türkischen Einmarsch in Afrin sind den Kurden mehr als bekannt. 2015 hatte Erdoğan seinen Hass auf Kurden mit Sätzen demonstriert wie »Selbst wenn im All zehn Kurden zusammenkommen, wird dies die Türkei stören«. Damit hatte er damals den Krieg gegen Kobanê legitimiert.

Wichtig ist zu wissen, dass die Türkei im Aufteilungskrieg in Syrien, der jetzt in Afrin konzentriert ist, als Knüppel gegen die DFNS eingesetzt wird. Dabei wird allerdings die AKP-Regierung fatal unterschätzt. Genauso wie sich die USA und Russland die Kontrolle über Syrien aufteilen wollen, besteht Erdoğan darauf, dass die Türkei rechtmäßige Erbin Nordsyriens als ehemalige osmanische Provinz sei. Er hatte versprochen, es bis zum hundertsten Jahrestag des Vertrages von Lausanne, also 2023, zu annektieren. Nun hat er sämtliche Al-Qaida-Gruppen aktiviert, um den Krieg in Afrin zu gewinnen, »koste es, was es wolle«. Ist Afrin geschwächt, wird Erdoğan für die Annektierung Aleppos aktiv werden. Denn der Verlauf des Krieges in Syrien wird auch seine Zukunft bestimmen. Er hat in den letzten sieben Jahren sehr viel in diesen Krieg investiert. Daher ist der Widerstand in Afrin ein Widerstand für die Einheit ganz Syriens.

Afrin sagt Nein zum Neokolonialismus

In der russischen Machtpolitik im Hinblick auf Afrin hat Erdoğan eine Chance gewittert und erneut einen Angriffsversuch unternommen.

Russland hatte von der politischen Führung der DFNS gefordert, den Kanton Afrin dem syrischen Regime zu übergeben. Verständlicherweise lehnte sie dies klar und deutlich ab. Afrin wurde von den Volksverteidigungs- und Frauenverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) nicht für das Regime vom IS befreit, sondern für die Bürger und Bürgerinnen. Auch ist der Kanton Cizîrê nicht für die USA, sondern für die Kurden, Araber, Assyrer, Êzîden, Christen, Tschetschenen, Turkmenen befreit worden. Denn die YPG/YPJ und die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) bestehen aus Frauen und Männern dieser Völker und sind keine bezahlten Söldner oder Instrumente fremder Mächte. Heute verwalten diese Volks- und Glaubensgemeinschaften ihre Gebiete im Rahmen eigener Verwaltungsstrukturen. Bei der Zusammenarbeit der YPG/YPJ und QSD mit Russland und den USA ging es um eine militärische Zusammenarbeit für die gemeinsame Bekämpfung des IS und aller Al-Qaida-Gruppen. Das heißt, weder ist Cizîrê US-amerikanische Kolonie noch Afrin russische Kolonie. Als Global Player mögen die beiden Supermächte die Dinge anders sehen, aber die Sicht der Bürger und Bürgerinnen der DFNS ist ausschlaggebend. Würden sich die drei DFNS-Kantone als Kolonie einer der Mächte verstehen, so würde es heute keinen Krieg in Afrin geben. So hätte man kein Problem mit dem IS in Cerablus (Dscharabulus) gehabt, als die USA der Türkei grünes Licht zum Einmarsch gegeben hatten, da die DFNS Washingtons Forderung nicht gefolgt war. Der Widerstand in Afrin spricht für sich: Afrin wird keine Neokolonie irgendeiner Macht werden, koste es, was es wolle.

Die Türkei zerstört nicht Afrin, aber die Demokratie und sich selbst!

Die Demokratische Föderation Nordsyrien, ein Zusammenschluss von Kurden, Arabern, Assyrern, Tschetschenen, Turkmenen sowie den Glaubensgemeinschaften der Êzîden, Christen, Aleviten und Muslime, stellt ein Hindernis bei der Aufteilung Syriens dar. Denn sie steht für die Einheit Syriens und kämpft für einen radikalen Wandel des bisherigen repressiven Baath-Regimes. Das Modell, die DFNS, soll das Fundament des zukünftigen Syriens bilden. Die DFNS kämpft um die Einheit und nicht um die Spaltung Syriens. Während die regionalen und globalen Mächte das Land unter sich aufspalten wollen. Man könnte sagen, auch eine weitere Unwahrheit über die Kurden ist entlarvt worden. Jahrelang wurde ihnen der Vorwurf des Separatismus gemacht und der Türkei wurde Verständnis entgegengebracht bei der Bekämpfung der Kurden. Die Wahrheit ist aber, dass außer diesen alle anderen den Staat Syrien aufspalten wollen. Allen voran die Türkei, da sie mit dem Einmarsch in Afrin deutlich gezeigt hat, dass sie die staatlichen Grenzen Syriens nicht akzeptiert.

Die DFNS ist die bislang einzige Alternative zur Kriegspolitik in Syrien. Der bereits jetzt absehbare Erfolg in Afrin wird auch die demokratische Alternative auf den Verhandlungstisch bringen. Afrin wird gewinnen, da es die Solidarität aller vier Teile Kurdistans und der internationalen Öffentlichkeit genießt. Der Widerstand in Afrin wird gewinnen, weil die Türkei mit ihrer Besatzungspolitik dort in einen Sumpf geraten ist und seit Wochen nur wenige Meter weit in Afrin eindringen konnte.

Türkei will durch Afrin den IS wiederbeleben

Eine weitere Befürchtung infolge des Krieges in Afrin ist die höchstwahrscheinliche Gefahr, dass die Türkei, sollte sie in irgendeiner Form Fortschritte erzielen, den IS und alle Gruppen der al-Qaida als Drohung reanimieren wird. Immerhin halten sich noch mehrere Tausend Angehörige solcher Gruppen unter türkischer Kontrolle in Idlib, Cerablus, Azaz auf. Hier liegt auch ein weiterer Grund für die türkische Afrin-Invasion. Bislang hatte die Türkei diese Gruppen als Handlager in Nordsyrien eingesetzt. Nach der Befreiung Raqqas als IS-Hauptstadt und der Region um Deir ez-Zor im Oktober/November 2017 hatte der IS eine Niederlage erlitten. Mit dem Einsatz ihrer Spezialeinheiten, die bislang den IS ausgerüstet hatten, will die Türkei in Afrin diese Gruppen zum Kampf motivieren. Diese Absicht stellt nicht nur eine Gefahr für die DFNS dar, sondern sie ist auch eine globale Gefahr.

Mit Afrin soll die Türkei geschwächt werden

Aufgrund ihrer neoosmanischen Expansionspolitik hat es die Türkei vor allem im Syrienkonflikt mit allen dort beteiligten Mächten aufgenommen. Sie hält sich nicht mehr an die Interessenpolitik der NATO, der internationalen Koalition zur Bekämpfung des IS, sie folgt nicht mehr den EU-Richtlinien. Mit der AKP ist die Türkei für viele ein Störfaktor. Auch innerhalb der Türkei sind Erdoğan und vor allem das Bündnis aus der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) und der Partei für eine Nationalistische Bewegung (MHP) ein extrem repressives Regime. Meinungs-, Presse-, Organisationsfreiheit, alles ist jetzt verboten. Nordkurdistan wird wegen des Ausnahmezustands permanent bekämpft. Unerträgliche Zustände sind Alltag. Dennoch ist der Widerstand in Nordkurdistan groß, wie es zuletzt auf dem Kongress der Demokratischen Partei der Völker (HDP) am 10. Februar in Ankara der Fall war. Zehntausende waren zusammengekommen und hielten Erdoğan entgegen: »Überall ist Afrin – überall ist Widerstand!« Einen Tag später wurden gegen die HDP mehrere Untersuchungsverfahren verhängt. Ärzte, die sich gegen den Krieg in Afrin ausgesprochen hatten, wurden verhaftet und entlassen.

Dass allen voran die Kurden, die Demokraten in der Türkei die AKP-MHP-Koalition loswerden wollen, ist richtig. Aber auch, dass die USA, Russland, die EU Probleme mit der Türkei haben, ist offensichtlich.

Nur sollte man die Türkei nicht mithilfe des Krieges mit den Kurden in Afrin schwächen wollen. Anders ist es auch möglich. Die Unzufriedenheit aller in Syrien und dem Irak aktiven Staaten mit der Türkei sollte nicht über die Kurden ausgetragen werden. Das ist gegen jede menschliche Kultur und unethisch. Ferner wird die Türkei, wenn sie in Afrin kein Resultat erzielt, irgendwo anders im Nahen/Mittleren Osten Unruhe stiften. Dafür hat sie die Kapazitäten und auch die Voraussetzungen. Sie ist sich ihrer geostrategischen Bedeutung für die NATO und die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) bewusst und profitiert davon.

Diplomatische, politische, militärische und vor allem wirtschaftliche Sanktionen gegen die AKP/MHP wären effektiver und schneller. Denn die Türkei mit der AKP und der MHP unter Erdoğan ist auf dem besten Wege, sich zu einem totalitären Regime mit faschistoidem Charakter zu entwickeln. Bis zu den Wahlen 2019 will Erdoğan das Fundament für den türkischen Faschismus festigen und ihn verfassungsmäßig endgültig offiziell machen. Die extrem gestiegene Expansionslust Erdoğans im Nahen/Mittleren Osten muss gestoppt werden. Vor allem vor dem Hintergrund, dass er auch über die Al-Qaida-Gruppen verfügt wie kein anderer Staat. Auch hält er weiterhin die islamische Karte auf der Hand, mit der er in der islamischen Welt an Einfluss gewinnen kann. Wie am Beispiel der Frage Jerusalems als Hauptstadt Israels. Die Türkei wird durch diese Intension mit Gewissheit zu einer regionalen wie globalen Bedrohung. Weder die USA noch Russland noch die EU und vor allem die Bundesrepublik Deutschland sollten durch ihre gegenseitige Konkurrenzpolitik der Türkei Gelegenheit zum wachsenden Faschismus bieten. Denn mit Erdoğan hat der türkische Staat seine ganze Hoffnung auf die Besetzung Nordsyriens und des Nordiraks gesetzt. Dafür wird der Charakter des Staates selbst faschistisch. Wir haben es mit einem zunehmenden Problem zu tun. Die Türkei profitiert von der Konkurrenz der globalen Mächte in Nordsyrien und im Nord­irak. Wie jetzt in Afrin. Russland ist bemüht, die Türkei gegen die NATO auf seine Seite zu ziehen, und hat daher grünes Licht für den Einmarsch gegeben. Während die USA bemüht sind, den türkischen Weg nach Eurasien Richtung SOZ zu versperren. Wie zu Zeiten des Kalten Krieges balanciert die Türkei nun zwischen NATO und SOZ. Das strategische Ziel Großtürkei kann man nicht durch Kurden aufhalten. Auch die Türkei hat ein eigenes Konzept für den Nahen und Mittleren Osten wie die USA, Russland und die EU. Dabei geht es jetzt primär um Nordsyrien, aber sie will alle Territorien zurück, die sie nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches verloren hat.

Den globalen Mächten ist zu empfehlen, die neue Türkei mit neuen Augen wahrzunehmen. Wir haben es unter Erdoğan mit einer Türkei zu tun, die für ihren Neoosmanismus große Risiken eingeht.

Bundesregierung sollte die neue Wahrheit sehen

Ich freue mich, als Kurdin in Deutschland die deutsche Türkeipolitik nicht mehr (allein) kritisieren zu müssen, da dies jetzt ganz intensiv in den deutschen Medien und von den Bürgerinnen und Bürgern Deutschlands selbst gemacht wird. Unser Anliegen, aber auch die Ungerechtigkeit gegen uns, ist jetzt ein innerdeutsches Thema geworden. Die Regierung in Berlin wird es schwer haben zu erklären, warum sie mit Waffen und Politik ein faschistoides Regime unterstützt. Auch wenn deutsche Waffen im Rahmen der NATO-Bündnispolitik überlassen werden, so werden sie von der Türkei in Afrin illegalerweise gegen ein fremdes Territorium in Syrien eingesetzt. Die deutsche Regierung macht sich international auch strafbar. Es ist Beihilfe zu einem illegalen Akt. Heute versucht Berlin Erdoğan durch Waffenlieferungen als »Freund« zu halten. Morgen wird er für seine Großtürkei auch Weiteres fordern, was neue Herausforderungen mit sich bringen wird. Vor allem, dass es die Regierung aufgrund des steigenden öffentlichen politischen Drucks sehr schwer haben wird. Es ist Berlin zu raten, die neue Türkei mit neuen Augen zu sehen. Und es ist der Bundesregierung zu raten, die Kurden nicht als Knüppel gegen die Türkei einzusetzen, da sie im Nahen/Mittleren Osten auch nicht mehr die alten sind. Dort hat sich die Türkei zum Negativen, die Kurden haben sich zum Positiven entwickelt. Die Türkei tendiert zu Faschismus und Diktatur, während die Kurden Demokratie entwickeln und festigen. Es wird der Bundesregierung nicht leichtfallen, die Beziehungen zu Erdoğan, einem Diktator, gegen die Förderer der Demokratie, die Kurden, zu rechtfertigen. Inmitten der globalen und regionalen Konkurrenzkriege haben es die Kurden in den letzten sieben Jahren in Nordsyrien zumindest geschafft, entgegen der »Teile-und-herrsche-Politik« alle Volksgruppen und Glaubensgemeinschaften in der DFNS zusammenzubringen. Auch schwächelt die Politik der Einteilung in »böse und gute Kurden«, da im irakischen Kurdistan sowohl Parteien als auch die gesamte Bevölkerung in einem nationalen Bewusstsein hinter Afrin stehen. Das kurdische Regionalparlament hat nicht nur eine Sondersitzung zu Afrin einberufen, sondern auch eine Parlamentarierdelegation dorthin entsandt, in der auch die PDK präsent war. Afrin ist für alle Kurden zu einer nationalen Angelegenheit geworden.