Am Anfang eines Prozesses mit weitreichenden Veränderungen …

rojava_gelEine Einschätzung der Lage in Westkurdistan/Syrien
Amed Dicle, Journalist

Mit der Gefahr einer Wiederholung der Geschichte des Landes sind die Entwicklungen in Syrien erheblich durcheinandergeraten.

Die zahlreichen Köpfe einer zumeist sunnitischen Opposition, die Versuche, die Kurden außen vor zu lassen, der hohe Organisierungsgrad der kurdischen Bevölkerung und die Interessenspolitik der internationalen Mächte in Syrien sind nicht nur Bestandteile dieses Durcheinanders, sondern weisen auch darauf hin, dass ein stabiles Syrien noch in weiter Ferne liegt.

Die aktuelle Situation im Land ist ein Ergebnis der letzten 50–60 Jahre in Syrien. Wenn wir in jene Zeit zurückkehren, um uns ein Bild des damaligen Syriens zu verschaffen, können wir auch die heutige Situation besser begreifen. Lassen Sie uns gemeinsam einen Blick zurück in die Geschichte werfen …

Zwischen 1925 und 1946 war Syrien eine Kolonie Frankreichs. Die Franzosen hatten ein politisches Gebilde im Sinne einer klassischen Kolonie erschaffen. Das Land wurde von drei Zentren aus regiert, es gab drei Verwaltungsstrukturen. Im Westen bestimmten Alawiten, im Süden Drusen und in Heleb (Aleppo) und Damaskus Sunniten die Administration. Auf diese Weise gelang es den Franzosen, die Kontrolle im Land aufrechtzuerhalten. Innerhalb dieser Strukturen wurde in den 21 Jahren, in denen Frankreich das Land kontrollierte, die kurdische Bevölkerungsgruppe offiziell nicht anerkannt, stattdessen aufgrund der guten französisch-türkischen Beziehungen gar unterdrückt.

Die Situation hat sich 1946, als Frankreich seine nun ehemalige Kolonie in die Unabhängigkeit entließ, nicht grundlegend geändert. Auch die erste »unabhängige« Regierung Syriens erkannte die Kurden nicht an. Viele kurdische Intellektuelle, die zu jener Zeit auf die kulturellen Rechte und das Recht auf die eigene Muttersprache ihrer Bevölkerung pochten, waren staatlicher Repression ausgesetzt, wurden festgenommen und/oder mussten ins Exil fliehen.

Der Zusammenschluss Syriens und Ägyptens von 1958 bis 1961 zur Vereinigten Arabischen Republik basierte auf arabischem Nationalismus und war für die Kurden gleichbedeutend mit neuem Leid und stärkerer Unterdrückung. Auch wenn die arabischen Staaten bei allen möglichen Themen Widersprüche untereinander hatten, waren sie bei der Unterdrückung der Kurden stets einer Meinung.

1962 wurde in der westkurdischen Region Cizîre (Dschazira) 70?000 Kurden die Staatsangehörigkeit entzogen. Sie galten fortan als »im Land lebende Fremde«. Ihnen wurde dadurch das Recht auf Bildung, Reisefreiheit und Eigentum entzogen. Die 70?000 Menschen aus jener Zeit zählen mit ihren Nachfahren heute rund 300?000.

Für Syrien ist das Jahr 1963 von großer Bedeutung, als nämlich die Baath-Partei mit einem Putsch die Kontrolle im Land übernahm. Sie erklärte Syrien zu einem arabischen Land. Die in Syrien lebenden Kurden wurden kurzerhand zu »aus der Türkei stammenden Migranten«. Damit wurden ihnen gleichzeitig alle Rechte aberkannt. Die kurdische Identität galt fortan als verboten, die kurdischen Namen der Dörfer und Städte wurden arabisiert. Was die Türkei also seit 1920 praktizierte, erreichte rund 50 Jahre später auch Syrien. Allein einen Text in kurdischer Sprache zu schreiben, konnte empfindliche Strafen nach sich ziehen.

Zwischen 1972 und 1974 siedelte das Regime zehntausende Araberinnen und Araber im westkurdischen Cizîre-Gebiet an, was als Etablierung eines »Arabischen Gürtels« bekannt wurde. Die Arabisierungspolitik Westkurdistans wurde auch nach 1974 in geringerem Ausmaß kontinuierlich fortgesetzt; ebenso hat sich an dieser Situation nach dem Tod von Hafiz al-Assad und der Machtübernahme seines Sohnes Baschar al-Assad nicht viel geändert.

Das erste für die Kurden bedeutende Ereignis nach der Machtübernahme Baschar al-Assads datiert vom 12. März 2004, dem Tag des Massakers von Qamislo (Al-Qamishli). Angestachelt vom Sturz Saddam Husseins im Nachbarland Irak erhoben sich die Kurden auch gegen Assad. Mit Unterstützung der Türkei wurden daraufhin Dutzende Kurden ermordet; der türkische Ministerpräsident Erdogan beglückwünschte Baschar al-Assad für dessen Umgang mit den Kurden im eigenen Land. Allerdings bildete aus kurdischer Sicht der 12. März 2004 auch den Ausgangspunkt für die seit dem 15. März 2011 ausbrechenden Ereignisse in Syrien. Diejenigen Kräfte in Syrien, die das aktuelle Regime beseitigen und ein demokratisches Syrien aufbauen wollen, müssen sich eingestehen, dass die Kurden den Kampf dafür bereits sieben Jahre vorher aufgenommen haben.

Innerhalb der Grenzen Syriens leben heute rund vier Millionen Kurdinnen und Kurden, rund?15?% der Gesamtbevölkerung Syriens. Im Norden des Landes gibt es drei kurdische Regionen mit reichen landwirtschaftlichen Anbauflächen. Die größten Erdölvorkommen im Land liegen ebenso in den kurdischen Gebieten. Und der größte Vorteil der Kurden ist ihr hoher Organisierungsgrad. Sie waren entsprechend gut vorbereitet, als am 15. März 2011 in Syrien der revolutionäre Prozess losbrach. Statt vermeintlich großer Politik haben sie sich auf die gesellschaftliche Organisierung konzentriert, statt kurzfristiger politischer Ziele haben sie ihren Fokus auf eine langfristige Politik gesetzt. Dementsprechend haben sie, angefangen mit Kobanî (Ain al-Arab) am 19. Juli, bis jetzt in neun kurdischen Städten, in Dutzenden Stadtteilen und Dörfern eine Volksrevolution vollbracht und bauen gegenwärtig ihre Selbstverwaltung auf.

Ein großes Problem für die Kurden in Syrien ist es, dass sie in drei verschiedenen Regionen ohne direkte Verbindung leben. Das genannte Cizîre-Gebiet ist das reichste des ganzen Landes. Es erstreckt sich von Dêrik (Al-Malikiya) bis nach Serê Kaniyê (Ras al-Ayn). Auch wenn die Mehrheit der Bevölkerung kurdisch ist, leben doch noch andere Volksgruppen in Cizîre. Dort hat das Regime zwischen alle kurdischen Dörfer jeweils arabische angesiedelt und die vormals dort ansässigen Kurden enteignet. Doch die jetzigen kurdischen Selbstverwaltungsstrukturen versuchen alle in der Region ansässigen Volksgruppen in ihre Strukturen einzubinden. So wurden vielerorts gemeinsame Rätestrukturen aufgebaut. Dennoch versuchen bestimmte inländische und ausländische Kräfte, Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Gruppen zu provozieren. Mit Waffendepots in Städten wie Qamislo oder Hesîçe (Al-Hasaka) und mit Geld und anderen Mitteln versuchen sie bewaffnete Gruppen zu organisieren. Daher sind in nächster Zeit bewaffnete Auseinandersetzungen in den beiden genannten Städten nicht unwahrscheinlich. Ich denke, die kurdischen Selbstverwaltungsstrukturen sind sich dieser Gefahr ebenfalls bewusst.

Das Cizîre-Gebiet endet in Serê Kaniyê, danach beginnt [in westlicher Richtung] das rund 200?km breite Tall Abyad. Auch dort wurden seinerzeit viele Araberinnen und Araber angesiedelt, weshalb heute die Freie Syrische Armee (FSA) dort einflussreich ist. Daran schließt das vorwiegend kurdische Gebiet von Kobanî an. Und die dritte kurdische Region ist Afrîn. Kobanî und Afrîn sind allerdings auch durch ein weiteres Gebiet voneinander getrennt. Angesichts dieser geografischen Lage wird deutlich, dass die drei westkurdischen Gebiete unmöglich vereinigt werden können. Das ist ein wichtiger Aspekt, im Gegensatz zu Südkurdistan beispielsweise.

Für die Zukunft Syriens gibt es zwei Szenarien. Erstens: Die Parteien einigen sich und es wird ein neues Syrien gegründet, in dem alle politischen, kulturellen und ethnischen Gruppen bei gegenseitiger Anerkennung und auf gleicher Augenhöhe miteinander leben können. Zweitens: Die Auseinandersetzungen verschärfen sich, das Land wird gespalten. Im Falle des ersten Szenarios wird es im Land drei autonome kurdische Gebiete geben: Cizîre, Kobanî und Afrîn, im Falle des zweiten Szenarios werden die Kurden vermutlich nur die Cizîre-Region kontrollieren können und die wird zugleich zur Zielscheibe aller anderen Gruppen werden. Kobanî wird voraussichtlich Teil eines sunnitischen Staates und Afrîn an einen alawitischen Staat angebunden werden. Die Realisierung sowohl des ersten als auch des zweiten Szenarios liegt im Rahmen des Möglichen. Tatsache ist, dass derzeit in Syrien ein gnadenloser Krieg anhält. Das Einzige, worin sich alle einig sind, ist die Überzeugung, dass die Fronten der verschiedenen Lager verhärtet sind und sie die unterschiedlichsten Ansichten über die Zukunft des Landes haben. Keines dieser Lager und auch die internationalen Mächte verfügen über ein gesundes Rezept für Syrien. Jede Kraft ist allein auf ihre Eigeninteressen fokussiert und führt dafür ihren Krieg. Die Entwicklungen in Syrien können als Beginn einer Phase gesehen werden, die im gesamten Mittleren Osten zur Neustrukturierung führen wird. So wird beispielsweise der Konflikt zwischen den USA und dem Iran gegenwärtig auch in Syrien ausgetragen, ebenso wie sich dort derzeit die Auseinandersetzung zwischen dem türkischen Staat und dem kurdischen Widerstand fokussiert. Selbst auf die aktuellen Imrali-Gespräche haben die Entwicklungen in Syrien einen nicht zu unterschätzenden Einfluss. Das sind Aspekte des syrischen Bürgerkriegs, die intensiver diskutiert werden müssen.

Politische und militärische Organisierung der Kurden

Wie bereits oben erwähnt leben die Kurden in Syrien hauptsächlich auf drei Regionen verteilt. Aber ihre gegenwärtige Organisierung läuft unter einem gemeinsamen Dach. In allen kurdischen Siedlungsgebieten wurden Strukturen geschaffen, die sich unter dem Dach des Kurdischen Hohen Rates zusammenfinden. In allen Gebieten hat sich die Bevölkerung in den ökonomischen, politischen, kulturellen und sozialen Lebensbereichen organisiert. Die direkt-demokratische Basisorganisierung der Bevölkerung stellt ein Modell dar, das als Vorbild für den gesamten Mittleren Osten dienen kann.

In Sachen Selbstverteidigung haben sich die Kurden in den Volksverteidigungseinheiten (YPG) organisiert und verfügen mittlerweile über 10?000 Kämpferinnen und Kämpfer. Damit sind sie die bedeutendste bewaffnete Kraft in ihrer Region. Auf ihrer letzten Konferenz haben sie sich dazu entschieden, in eine Organisierung als professionelle militärische Einheit überzugehen. In den Reihen der YPG sind auch Frauen, die mit rund 1?500 Kämpferinnen eine autonome Organisierung ihrer Kräfte vorantreiben.

Für die Aufgaben der Verkehrsregelung und Sicherheit in der Stadt sind die Kräfte der Asayis verantwortlich, die sich separat von den YPG organisieren. Für die Ausbildung der Asayis-Kräfte wurden eigens Akademien errichtet und ihre Arbeit ist angebunden an die Volksräte. Die wichtigsten Fragen der letzten Monate in Westkurdistan drehen sich um die ökonomischen Probleme und das Wirtschaftsembargo. Alle verantwortlichen Teile der Selbstverwaltungsstrukturen arbeiten auf Hochtouren für die Lösung dieser Probleme.

Was sind die langfristigen Gefahren für die Kurden?

Es gibt zwei grundlegende Gefahren, die wir betonen müssen, die innere und die äußere Gefahr. Erstere betrifft also das Risiko, dass unter den Kurden oder zwischen den Kurden und anderen Gruppen Auseinandersetzungen geschürt werden. Wie wir wissen, hat sich die große Mehrheit der Kurdinnen und Kurden unter dem Dach des Kurdischen Hohen Rates organisiert. Allerdings haben sich nach dessen Gründung einige kleinere Gruppen dazu entschlossen, ihn nicht zu akzeptieren. Auch wenn sie behaupten, ihre Erwartungen an dieses Gremium seien nicht erfüllt worden, liegt die Vermutung nahe, dass sie von bestimmten Kreisen beeinflusst wurden und sich deshalb zu einem solchen Schritt entschieden haben. Anders ausgedrückt, sie wollen nicht akzeptieren, dass die Partei der Demokratischen Einheit (PYD) innerhalb dieses Zusammenschlusses einen bestimmten Einfluss hat. Obwohl die PYD die größte gesellschaftliche Unterstützung in Westkurdistan genießt, verfügt sie im Rat über dieselbe Anzahl Sitze wie die anderen Gruppen. Aus den bekannten Gründen fühlen sich Staaten wie die Türkei vom PYD-Einfluss gestört und wollen ihn brechen. Dafür versuchen sie seit jeher, Provokationen zu inszenieren. Nach dem Ausbleiben des gewünschten Erfolgs wollen sie nun manche Gruppen in ihrem Sinne steuern, um für Chaos zu sorgen. Es ist nicht schwer, künftige Vorfälle und Ereignisse vorauszusagen, die angeblich daraus resultieren werden, dass die PYD die Region nicht anständig leite. Parallel dazu sollen kurdisch-arabische Auseinandersetzungen in der Region provoziert werden. Verantwortlich für derartige Szenarien sind die Türkei, Frankreich, Katar, Saudi-Arabien, aber auch bestimmte politische Gruppen in Südkurdistan und die Al-Qaida.

Die zweite und brisantere Gefahr keimt allerdings aus der Politik der auswärtigen Mächte. Wie soll der Kuchen in Syrien aufgeteilt werden? Wird der Status der Kurden anerkannt? Und wird die Türkei, wenn sie die Kurden in Syrien akzeptiert, auch dazu gezwungen sein, die Kurden im eigenen Land anzuerkennen? Bei letzterer Frage gehe ich von einem Ja aus. Deshalb kann Syrien für die Kurden zum Finale werden. Wenn sie dort gewinnen, werden sie in der gesamten Region gewinnen. Dann wird ein weiteres Bein des Vertrages von Lausanne gebrochen sein. Sowohl die kurdische Bewegung als auch die antikurdischen Kräfte sind sich dessen bewusst. Entweder wird der Status der Kurden in Syrien anerkannt und sie werden dadurch zu einer aktiven gesellschaftlichen Kraft im Mittleren Osten oder sie werden erneut verleugnet, was unweigerlich zu einer Steigerung des Chaos in der Region führen wird.

Die Antworten auf diese Fragen werden wir in nächster Zukunft erhalten. Die Kurden treffen ihre Vorkehrungen, indem sie in der Zwischenzeit ihre Organisierung verstärken und dadurch zeigen, dass sie nicht mehr außen vor gelassen werden können. Der in diesem Punkt empfindlichste Staat, die Türkei, versucht unterdessen, durch die Gespräche mit Öcalan einen neuen rechtlichen Rahmen für das Zusammenleben mit den Kurden im eigenen Staat zu schaffen, um auch ihre [eigene] Ausgangslage in der Region zu verbessern. Wie dieser rechtliche Rahmen aber aussehen wird, ist noch unklar. Deshalb stehen wir noch am Anfang eines Prozesses, der zu weitreichenden Veränderungen beitragen wird.

Kurdistan Report Nr. 167 Mai/Juni 2013

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