Angriffe des IS in Südkurdistan – 3000 Tote in Sengal – zehntausende Menschen auf der Flucht

Sengal_FluchtPressemitteilung, Civaka Azad, 08.08.2014

Seit dem 2. August greifen Kämpfer der islamisch-fundamentalistischen Gruppe Islamischer Staat (IS) die Stadt Sengal (Sindschar) in Südkurdistan/Nordirak an. Nach zweitägigen Angriffen hatten sie die Stadt und einige Dörfer im Umland eingenommen. Kurz vor der Einnahme durch die Islamisten zogen sich die militärischen Einheiten der südkurdischen Autonomieregion Peshmerge, die der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) unterstehen, aus der Region zurück. Die zurückgelassene  Zivilbevölkerung verteidigte sich selbst gegen den IS oder floh vor den Islamisten ohne Nahrungsmittel und Wasser in die nahegelegenen Sengalberge. Laut aktuellen Berichten aus der Region beträgt die Anzahl der in Sengal getöteten Menschen mindestens 3000. 5000 weitere Menschen sollen von den Kämpfern des IS entführt worden sein, unter ihnen rund 1500. Rund 300 weitere ältere Menschen und Kinder sind in den Bergen verdurstet.

Währenddessen konnten KämpferInnen der Volksverteidigungseinheiten (YPG) aus Westkurdistan/ Nordsyrien (Rojava), die die Grenze zwischen den Staaten Syrien und Irak überquert hatten, um der Zivilbevölkerung zu Hilfe zu kommen, weite Teile der Grenzstadt Rabia vom IS befreien. Kurdische Guerilla-Einheiten der Volksverteidigungskräfte (HPG) setzten sich ebenfalls vom Kandil-Gebirge aus in Bewegung, um gemeinsam mit der YPG die Zivilbevölkerung in den Sengalbergen zu schützen und den IS in Sengal zurückzudrängen. Die historisch-kulturell bedeutende Region Sengal ist das Hauptsiedlungsgebiet der êzîdischen Religionsgemeinschaft. Die ÊzîdInnen sind KurdInnen und leben seit Jahrhunderten in Sengal, wo sich zahlreiche ihrer religiösen und kulturellen Stätten befinden.

Es flohen bereits zu Beginn der Kämpfe um Sengal zehntausende Menschen aus der Region – unter ihnen auch schiitische TurkmenInnen, die bereits aus Tel Afar vor dem IS nach Sengal geflohen waren. Laut UN-Angaben sind im Norden des Iraks ca. 200.000 Menschen ohne Wasser- und Nahrungsmittelversorgung auf der Flucht. Sie sind mit einer humanitären Katastrophe konfrontiert. Sengal ist aufgrund seiner êzîdischen Identität nicht nur ein Symbol für die kulturell-religiöse Vielfalt des Nahen und Mittleren Ostens, sondern für den IS auch ein militärisch-strategisch wichtiger Ort. Sengal liegt an der Grenze zwischen Syrien und Irak sowie zwischen dem Zentralirak und der kurdischen Autonomieregion in Südkurdistan/ Nordirak. Die Kontrolle über diese Region ermöglicht größerer Angriffe des IS auf die selbstverwalteten und sich selbst verteidigenden Kantone in Rojava/ Nordsyrien – vor allem den östlichsten Kanton Cizîre, aber auch auf die Autonomieregion Südkurdistan.

Nach  der Kontrollübernahme von Sengal durch den IS erreichte uns am 7. August die Meldung, dass auch das UN-Flüchtlingscamp Maxmur im Norden des Iraks zum Angriffsziel der Islamisten geworden ist. Die rund 13.000 Bewohner des Camps sind bereits evakuiert worden. Allerdings lebt rund die Hälfte der Bevölkerung des Camps nun auf offener Straße im Sami-Abduraman-Park in Hewlêr (Erbil). Die Peshmergekräfte hatten am Morgen desselben Tages auch diese Region kampflos verlassen. Nach den letzten Vorstößen des IS  befindet sich derzeit auch die Bevölkerung der Hauptstadt der Autonomieregion Südkurdistans Hewler in Aufruhr. Dort sollen sich aus Furcht vor einem weiteren Vorrücken des IS bereits tausende Menschen auf der Flucht in Richtung Norden befinden.

Unterdessen erklärte die PKK, dass ihre bewaffneten Kräfte der HPG bereit sind Hewlêr und andere Gebiete der Autonomieregion gegen den IS zu verteidigen. Hierzu forderte sie die politischen Verantwortlichen Südkurdistans auf, gemeinsam mit der HPG eine gemeinsame Verteidigungslinie gegen die Islamisten aufzubauen. Erste Versammlungen hierzu haben bereits stattgefunden. Allerdings wurden bislang keine Ergebnisse der Öffentlichkeit mitgeteilt.

Nilüfer Koc, Co-Vorsitzende des Kurdistan Nationalkongresses (KNK), berichtete uns gegenüber telefonisch aus Hewlêr, dass das nächste Ziel des Islamischen Staates die Übernahme der Stadt Kirkuk ist. Kirkuk gehört mit Mosul zu den erdölreichsten Städten des Iraks. Die PDK hatte dort die Kontrolle übernommen, nachdem das irakische Militär nach dem Vorstoß des IS neben Mosul auch Kirkuk verlassen hatte. Außerdem forderte Koc im Namen des KNK die internationale Staatengemeinschaft dazu auf, gegen alle Staaten, die direkt oder indirekt den IS unterstützen, politische Schritte einzuleiten. „Allen voran die Türkei trägt eine große Mitverantwortung dafür, dass der Islamische Staat zunächst die Kurden in Rojava und nun auch in Südkurdistan angreift“, so Koc.

Der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu verharmloste am 07. August gegenüber einem türkischen Fernsehsender den IS und erklärte, dass es sich bei der Organisation um eine wütende Gemeinschaft handele. Davutoglu fuhr wie folgt fort: „Eine Struktur wie der IS mag auf dem ersten Blick wie eine radikale und terroristische Organisation erscheinen, aber in ihr sind Massen organisiert. Im IS gibt es sunnitische Araber und auch nicht wenige Turkmenen.“  Zeitgleich mit den neuesten Angriffen des IS  startete  das türkische Militär in Nordkurdistan trotz scheinbaren Waffenstillstands in den Gebieten Dersim (Tunceli), Sirnex (Sirnak) und Cewlig (Bingöl) Militäroperationen gegen die Volksverteidigungskräfte der HPG.

 

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