Angriffe in Westkurdistan, um einen Status der Kurden in Syrien zu verhindern

serekaniye1Cemil Bayik zum Hintergrund der Situation in Syrien
Von Martin Dolzer, Journalist, Südkurdistan, Ende August 2013

(…) Die Kurden sind nicht mehr die alten Kurden der Ära des 1. und 2. Weltkrieges. Sie haben ihre eigene Identität entwickelt, eigene Organisationen aufgebaut und Repräsentanten gewählt. Sie fordern ein Mitsprache- und Mitbestimmungsrecht bei der Gestaltung der Region. Obwohl versucht wurde die Kurden aus der Geschichte der Menschheit herauszuhalten, haben sie sich zu einer bestimmenden und der dynamischsten Kraft im Mittleren Osten entwickelt. Die Kurden sind diejenigen, die die Demokratisierung der Region vorantreiben und sich für Demokratie und gleiche Rechte für alle Bevölkerungs- und Religionsgruppen einsetzen. (…)

Im folgenden Auszüge eines Gesprächs mit Cemil Bayik:

Syrien ist momentan das Zentrum der internationalen Politik. Die Akteure, die sich an der dortigen Auseinandersetzung beteiligen, kämpfen auch um die weltweite Hegemonie. In Syrien wird demzufolge eigentlich gerade ein Weltkrieg geführt. Wir bezeichnen ihn als den 3. Weltkrieg. Er begann in Afghanistan und Irak, wurde in Tunesien und Libyen fortgesetzt und findet nun in Syrien seine letzte Station in der arabischen Region. Die Grundlagen für die Neuaufteilung des Mittleren Ostens werden in diesem Verteilungskrieg gelegt.

Auf der Grundlage ihrer taktischen und strategischen Schritte, ihrer Erfolge oder Misserfolge in Syrien werden die Akteure dann etwaig den Iran und weitere Länder in Mittelasien destabilisieren und/oder in Kriege verwickeln.

Kurdistan als Rückgrat des Mittleren Ostens

Der 1. und 2. Weltkrieg wurden u.a. aufgrund der Auseinandersetzung um die Aufteilung der Ressourcen des Mittleren Ostens und die Vorherrschaft in dieser Region geführt. Die Aufteilung der kurdischen Bevölkerung auf vier Staaten ist eine Folge davon. Der Mittlere Osten ist das Rückgrat der Welt – und Kurdistan das Rückgrat des Mittleren Ostens. Wenn ein Akteur anstrebt weltweiter Herrscher zu werden, sollte er auch die bestimmende Kraft im Mittleren Osten sein. Um die Herrschaft über den Mittleren Osten zu erlangen, ist es auch nötig Kurdistan zu kontrollieren.

Das System, dass die herrschenden Kräfte nach dem 2. Weltkrieg weltweit etablierte, basierte auch auf der Aufteilung Kurdistans auf die Staaten Türkei, Iran, Iran und Syrien. Als die weltweit dominanten Akteure beschlossen den Mittleren Osten neu aufzuteilen und umzugestalten, führten sie als ersten Schritt 1999 einen internationalen Komplott gegen den Vorsitzenden der PKK Abdullah Öcalan durch. Die Festnahme und Übergabe Öcalans an die Türkei sind ein wichtiger Hintergrund des jetzigen Krieges im Mittleren Osten.

Dieser 3. Weltkrieg begann also mit einem Angriff auf die Integrität der Kurden und hat jetzt Westkurdistan (die kurdischen Provinzen in Syrien) erreicht. Dadurch hat sich auch der Charakter des Krieges im Mittleren Osten verändert. Er ist nun zu einem Krieg in Kurdistan geworden. Wer hier eine Vormachtstellung erlangt, kann den neuen Status quo der gesamten Region definieren. Kurdistan ist auf die Staaten Iran, Irak, Türkei und Syrien verteilt. Das sind die zentralen Staaten im Mittleren Osten. Deshalb habe ich auch davon gesprochen, dass Kurdistan das Rückgrat des Mittleren Ostens ist.

Die Kurden sind nicht mehr die alten Kurden der Ära des 1. und 2. Weltkrieges. Sie haben ihre eigene Identität entwickelt, eigene Organisationen aufgebaut und Repräsentanten gewählt. Sie fordern ein Mitsprache- und Mitbestimmungsrecht bei der Gestaltung der Region. Obwohl versucht wurde die Kurden aus der Geschichte der Menschheit herauszuhalten, haben sie sich zu einer bestimmenden und der dynamischsten Kraft im Mittleren Osten entwickelt. Die Kurden sind diejenigen, die die Demokratisierung der Region vorantreiben und sich für Demokratie und gleiche Rechte für alle Bevölkerungs- und Religionsgruppen einsetzen.

Die Rolle von Abdullah Öcalan und das neue Paradigma

Das Ziel der internationalen Konspiration gegen Abdullah Öcalan im Jahr 1999 war, die Vorherrschaft über die kurdischen Gebiete zu erlangen und die Position der kurdischen Bewegung zu schwächen – sie zu vernichten. Trotz all dieser Angriffe konnte die PKK aufgrund unseres Widerstands vernichtet werden und entwickelte sich zur stärksten Kraft in Kurdistan.

Durch die Angriffe auf die Kurden in Syrien, wollen die hegemonialen Kräfte die Position der apoistischen Bewegung im Mittleren Osten schwächen und ihre weitere Entfaltung verhindern sowie bereits aufgebaute demokratische Strukturen zerstören. Der Grund für all diese Angriffe ist, dass die PKK ein Gegenmodell, ein neues Paradigma als Gegensatz zur „Kapitalistischen Moderne“ entwickelt und aufgebaut hat – das Modell der „Demokratischen Moderne“. Dabei handelt es sich um ein Modell, das ohne Fixierung auf einen Staat auskommt und stattdessen kommunale demokratische Mitbestimmungsstrukturen für die Bevölkerung in den Mittelpunkt der Gesellschaftsgestaltung stellt. Im Rahmen der KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans) wird demzufolge ein neues Modell des gemeinschaftlichen kommunalen Lebens in Kurdistan entwickelt. Es basiert u.a. auf kommunaler demokratischer Selbstverwaltung, Geschlechtergleichheit, Ökologie, Frieden und Freiheit.

Westkurdistan befindet sich in einem umfangreichen Ausnahmezustand

Diejenigen, die im Mittelpunkt des Verteilungskrieges und Machtkampfes im Mittleren Osten stehen, wollen den Willen der Kurden insbesondere durch ihr Vorgehen in Westkurdistan brechen. Westkurdistan befindet sich aus diesem Grund in einem politischen, diplomatischen und ökonomischen Ausnahmezustand und wird zudem militärisch angegriffen. Die Akteure wollen mit aller Macht und sämtlichen zur Verfügung stehenden Mitteln Kontrolle über Westkurdistan erlangen.

Trotz der Unmenschlichkeit der Angriffe und widriger Umstände, wie der geographischen Trennung zwischen den kurdischen Regionen in Syrien, leisten die Menschen ungebrochen historischen Widerstand und kämpfen für Demokratie und Freiheit. Dieser Widerstand wird nicht nur für Westkurdistan und die Kurden sondern für den gesamten Mittleren Osten geleistet. Die kurdische Bevölkerung versucht in Syrien ein neues Gesellschaftsmodell umzusetzen. Sie versucht sämtliche demokratischen Kräfte, Bevölkerungs- und Religionsgruppen im Rahmen kommunaler demokratischer Strukturen zu vereinen, um das Land gemeinsam in ein freies, demokratisches und vereintes Land verwandeln zu können.

Weder der türkische oder der syrische Staat, noch die Opposition, die vorgibt für Demokratie und Frieden zu kämpfen, sind demokratische Kräfte. Die Opposition wird von Al-Nusra und Al-Qaida dominiert. Sollten diese Gruppen sich durchsetzen, ist das noch viel gefährlicher als die jetzige Staatsmacht. Das ist der Grund dafür, dass wir auf die genannte demokratische Gestaltung und ein gemeinsame Handeln bestehen. Das von uns entwickelte Modell der demokratischen Beteiligung aller Menschen ist ein geeignetes und wegweisendes Organisationsmodell, in dem unter Beteiligung aller gesellschaftlichen Gruppen das Dilemma von Krieg und Spaltung überwunden werden kann.

Türkei will mit allen Mitteln einen Status der Kurden in Syrien verhindern

Die türkische Regierung will die Errungenschaften der Kurden in Westkurdistan aus zwei Gründen zerstören. Der erste Grund ist, dass die Kurden in Syrien einen Status erlangen und ihre eigenen Strukturen stabilisieren können. Ein solcher Status würde sich auch positiv auf die Situation der Kurden in der Türkei auswirken. Die türkische Regierung wäre dann gezwungen, auch den Status der Kurden in der Türkei anzuerkennen. Das will sie jedoch mit allen Mitteln verhindern. Sie will die kurdische Identität grundsätzlich nicht anerkennen. Deshalb unterstützt sie auf vielfache Weise Al-Nusra und Al-Qaida.

Durch das Embargo versucht die KDP die Kontrolle zu übernehmen

Der zweite Grund ist, dass die Strategie der türkischen Regierung im Mittleren Osten nicht aufgegangen ist und sie nun mit Hilfe der islamistischen Gruppen versucht, eine bessere Position in diesem Verteilungskampf um die Zukunft Syriens und der Region zu erlangen. Die Freie Syrische Armee, Al-Nusra und andere Banditenbanden können nicht mehr so erfolgreich wie zuvor gegen die syrische Armee kämpfen, da sie stark geschwächt wurden. Deshalb greifen diese Gruppen nun Westkurdistan an, um dort die Herrschaft zu übernehmen. Die türkische Regierung, die syrische Regierung und auch die Regionalregierung von Südkurdistan (der kurdischen Autonomieregion im Irak) unterstützen diese Politik, um diesem Ziel zum Erfolg zu verhelfen. Mit der Unterstützung der türkischen Regierung und der Regierung der kurdischen Autonomiegebiete im Nordirak wollen sie eine De-facto-Regierung in den kurdischen Teilen Syriens errichten. Die kurdische Regionalregierung und insbesondere die KDP (Partei von Mezud Barzani) nimmt wahr, dass die türkische Regierung und Al-Nusra die kurdischen Selbstverwaltungsstrukturen in Westkurdistan vernichten wollen, und versucht diese Situation auszunutzen, um dort selbst die Kontrolle und Herrschaft übernehmen zu können.

Aufgrund der beschriebenen Zusammenhänge praktizieren die türkische Regierung, die kurdische Regionalregierung und die Al-Nusra-Front ein Embargo gegen Westkurdistan und attackieren die Bevölkerung und die Selbstverwaltungsstrukturen, die von der Partei der Demokratischen Einheit (PYD) aufgebaut wurden.

Auch die Regierung des Iran versucht in diesem Konflikt in Syrien ihre eigenen Interessen durchsetzen. Ihre Strategie ist Druck auf die Kurden in den kurdischen Autonomiegebieten auszuüben, damit sie den Iran unterstützen. Wenn die Kurden den Iran nicht unterstützen, kann er den Konflikt in Syrien nicht zu seinen Gunsten entscheiden. Dann kann der Iran auch sich selbst nicht mehr verteidigen und seine Strategie für den Mittleren Osten nicht umsetzen. Auf Grundlage dieser Konstellation unterstützt der Iran die KDP und die kurdische Regionalregierung.

KDP Politik treibt mit der Türkei und dem Iran auf einer Linie

Dadurch, dass die KDP das Embargo gegen Westkurdistan unterstützt, ist sie nicht nur mit der türkischen Regierung sondern auch mit der iranischen Regierung auf einer politischen Linie. Durch die beschriebene Bündnispolitik und den Druck auf die Bevölkerung in den kurdischen Provinzen Syriens, will die iranische Regierung die dortigen Kurden dazu bringen mit der Regierung Assad zusammenzuarbeiten, mit der sie selbst verbündet ist. Auf diese Weise will die Regierung des Iran diesen Verteilungskrieg zu ihren Gunsten entscheiden.

Der eigentliche Grund für diesen großen Krieg ist, dass diejenige Kraft, die ihn für sich entscheiden kann, den Status für Kurdistan definieren und demzufolge die Hegemonie im Mittleren Osten erlangen kann.

In Bezug auf die internationalen Akteure kann folgendes gesagt werden: Zuerst versuchten die internationalen Hegemonialmächte die syrische Regierung dadurch zu schwächen, dass sie sie in eine Auseinandersetzung mit Al-Qaida verwickelten. Dann sahen sie, dass die Kurden im Norden Syriens die Kontrolle übernommen hatten, demokratische Strukturen etablierten und stabilisieren konnten. Um dieses Modell der Demokratisierung zu verhindern, haben sie mehrere Akteure befördert, Westkurdistan angreifen. Auf diese Weise soll die demokratische Stabilität, die nicht nur von den Kurden sondern auch von anderen Bevölkerungs- und Religionsgruppen mitgetragen wird, zerstört werden.

Wir bestehen auf einen dritten Weg zur Gestaltung Syriens

Die internationalen Kräfte wollen die Region auf jeweils unterschiedliche Weise ebenfalls nach ihren eigenen Vorstellungen aufteilen und gestalten. Um dieses Ziel zu erreichen, sind sie auch bereit Kriegsverbrechen und Massaker in Westkurdistan durchzuführen oder geschehen zu lassen. Gleichzeitig, behaupten sie, dass sie sich für eine Demokratisierung, Menschenrechte und Frieden einsetzen. Das verstößt gegen das Völkerrecht und hat nichts mit Freiheit und Demokratie zu tun. Es handelt sich im Gegensatz um einen „Schmutzigen Krieg“, durch den Syrien in eine destabilisierte und zerstörte Ruine verwandelt werden soll.

Wir bestehen dagegen auf einen dritten Weg zur Gestaltung Syriens. Diese Strategie ist in der Entwicklung der Bevölkerung vor Ort verankert. Lang anhaltende Konflikte und Krieg sind keine Lösung. Ausschließlich ein friedlicher und demokratischer Wandel ist ein Ausweg aus dieser Situation. Die zweite Konferenz von Genf ist u.a. ein Beweis für den Erfolg unseres Handelns. Alle ethnischen und religiösen Gruppen sollten in einem Dialog an einer demokratischen Gestaltung des Landes teilnehmen können und respektvoll miteinander umgehen.

Kurdische Nationalkonferenz wird Einheit und Demokratie fördern

Seit einiger Zeit bereiten die entscheidenden kurdischen Organisationen, PKK, KDP, YNK, Goran und 39 weitere Organisationen gemeinsam eine „Kurdische Nationalkonferenz“ vor. Das Projekt basiert auf einem Impuls von Abdullah Öcalan. Die Konferenz sollte sich eine demokratische Struktur geben und im Sinne der Rechte der gesamten kurdischen Bevölkerung und nicht im Sinne der unterschiedlichen Regierungen in der Region handeln. Deshalb sollte es ein Prinzip von Kovorsitzenden geben, so dass nicht ein Akteur oder eine Person die politische Ausrichtung dominieren kann. Diese Kovorsitzenden sollten in Intervallen ausgetauscht werden. Von Beginn an haben wir daran gearbeitet eine demokratische Struktur der Konferenz zu entwickeln, um den Interessen der kurdischen Bevölkerung gerecht zu werden. Diese Konferenz kann den Traum und die Sehnsucht der kurdischen Bevölkerung nach Einheit und Demokratie in die Realität umsetzen.

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