Aus der Perspektive der Frau

jinhaJINHA: Die weltweit erste feministische Nachrichtenagentur

Interview einer Hamburger Newrozdelegation mit der feministischen Nachrichtenagentur Jin Haber aus Amed

Wir sind hier, weil wir uns sehr für die Frauenbewegung und Frauenarbeit in Kurdistan interessieren.
Wir sind kein Frauenverein oder eine NGO, sondern eine Nachrichtenagentur. Unser Schwerpunkt ist, dass wir als Mitarbeiterinnen in den Medien das Problem von Sexismus in den Medien angehen.
Wir stellen uns gegen Sexismus in der Medienlandschaft. Unsere Agentur besteht von Reporterinnen bis Redakteurinnen ausschließlich aus Frauen. Damit stellen wir die weltweit erste feministische Nachrichtenagentur dar. Unsere Gründung war am 8. März 2012 [Anm: Internationaler Frauenkampftag].

Im journalistischen Bereich sind wir alle recht erfahren, der Schwerpunkt Sexismus in den Medien ist zum Teil neu für uns. Inhaltlich beschäftigen wir uns allerdings nicht nur mit den Themen Sexismus, Patriarchat und Frauen, sondern mit allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, aber eben aus der Perspektive der Frau. Kurd_innen werden in der Türkei unterdrückt. Kurdische Frauen erfahren zusätzlich zur Unterdrückung aufgrund ihrer kurdischen Identität auch noch die Unterdrückung aufgrund ihrer Identität als Frau.
Die Medien innerhalb des Systems berücksichtigen diese Thematik überhaupt nicht. Wir sehen unsere Herausforderung darin, die Unterdrückung, die auf den Schultern der kurdischen Frauen lastet, anzugehen. Unsere Arbeit betrifft allerdings nicht nur kurdische Frauen, sondern genauso türkische, armenische, tscherkessische und alle weiteren in der Türkei lebenden Ethnien sowie alle Frauen weltweit.

Warum herrscht gerade in Kurdistan der Bedarf, dieses Problem bzw. diese Herausforderung anzugehen?
Hier in Kurdistan erfahren wir als Feministinnen viel Unterstützung. Im Vergleich zu anderen Teilen der Türkei, wo oft nur eine Identität (eine Nation, ein Frauenbild, eine Farbe) dominiert, ist hier vieles offener und vielseitiger. Hier sind die Frauen recht stark organisiert, allgemein ist ein Bewusstsein vorhanden und die Organisierung gut. Sobald also Probleme mit Frauen sichtbar werden (Übergriffe, Vorfälle, etc.), werden diese hier thematisiert.

Wie ordnet Ihr Euch ideologisch/philosophisch ein?
Jede Mitarbeiterin hat ihre eigene ideologische Einstellung. Die Ebene, auf der wir uns treffen, ist der Kampf gegen die Ungleichheit der Geschlechter.
Unser Hauptanliegen ist es, den Gleichberechtigungsprozess der Geschlechter voranzubringen.
Innerhalb des Feminismus gibt es natürlich unterschiedliche Theorien und Abzweigungen. Unsere gemeinsame Basis ist aber, die Ungleichheit in allen Lebensbereichen zu bekämpfen.

Arbeitet Ihr auch zur Gleichberechtigung von lesbischen Frauen?
Ja. Erst gestern hat uns eine Vereinigung von trans- und homosexuellen Menschen aus Berlin besucht. Wir empfinden sehr viel Sympathie für diese Gruppe und haben uns eine gegenseitige Unterstützung zugesagt. Eine transsexuelle und eine lesbische Person haben sich bereit erklärt, als freie Mitarbeiterinnen mit uns zusammenzuarbeiten. Ihr erster Beitrag wird sich mit der Situation von transsexuellen und lesbischen Frauen in Gefängnissen befassen. Diese Menschen erfahren oft besonders starke Unterdrückung, da sie gleichzeitig Kurd_innen, Frauen und lesbisch oder transsexuell sind. Je mehr Identitäten Menschen haben, desto mehr Unter­drückung müssen sie erleiden.

Wie schätzt Ihr die Rolle der Unterdrückung der Frau durch Religion ein?
Es ist sehr wichtig, von welchem Standpunkt aus man das betrachtet. Es kommt auf den Willen der Frauen an. Von Geburt an werden Menschen geprägt: Medien, Eltern, Umfeld und andere Einflüsse formen den Charakter. Im gesamten Nahen Osten wird man meist in eine Religion hineingeboren. Es ist selten, dass Menschen hier ihre Religion frei wählen. Man findet nicht durch den freien Willen zu einer Religion, sondern erfährt durch Religion Prägungen und Sozialisation. In Religionen herrschen oft Dogmen vor. Dadurch, dass hinter diesen Dogmen ein Tabu steckt, fällt es schwer, aus solchen Blickwinkeln herauszukommen und das Ganze ernsthaft in Frage zu stellen.
Durch die Entwicklung der kurdischen Bewegung, vor allem in den letzten Jahrzehnten, haben Frauen die Möglichkeit, gesellschaftliche Gegebenheiten zu hinterfragen und dadurch andere Blickwinkel und Positionen zu erlangen und sich weiter zu befreien. In der gesamten kurdischen Frauenbewegung werden Themen aufgemacht, die bisher als Tabu galten. Dazu gehören unter anderem Ehre oder Jungfräulichkeit.

Wie geht Ihr mit den patriarchalen Verhaltensweisen der Genossen aus der Bewegung um? Welche Erfahrungen gibt es? Gibt es von Männern in der Bewegung Widerstände?
Die Frauenbewegung ist fest in der Befreiungsbewegung Kurdistans verankert, ein großer Teil der hier lebenden Frauen ist Mitglied in Frauenorganisationen. Die Guerilla hat eigene Fraueneinheiten. Trotzdem ist es schwierig, gegen feudale Strukturen anzukämpfen. Sicherlich sind die Männer nicht immer komplett einverstanden, doch sie sehen, wie stark die Frauenbewegung ist, und können sich deswegen nicht gegen sie aussprechen.

Wie sieht es mit dem restlichen Teil der Türkei aus? Gibt es Zusammenarbeit mit anderen Frauenorganisationen und wie sieht es außerhalb Kurdistans mit Frauenbewegungen aus?
Für uns ist sehr wichtig, offen zu sein. Wir versuchen mit allen verschiedenen Ethnien und Identitäten zusammenzuarbeiten. Unsere Agentur hat unter anderem über turkmenische Frauen berichtet. Problematisch ist, dass viele türkische Frauen die Identität kurdischer Frauen nicht anerkennen. Außerdem sind türkische Frauen, die mit der kurdischen Bewegung zusammenarbeiten, genauso wie wir, starken staatlichen Repressionen ausgesetzt.
Es ist verständlich, dass Menschen sich dieser Gefahr nicht aussetzen wollen. Für uns ist es wichtig, dass wir trotz der Repression gemeinsam arbeiten, weil die Unterdrückung der Frau überall auf der Welt vorhanden ist und überall sehr ähnlich ist. Die türkische Frauenbewegung ist sehr stark zersplittert. Im Gegensatz dazu ist der Zusammenhalt in der kurdischen Frauenbewegung stärker, wird allerdings auch stärker kriminalisiert.

Viele patriarchale Verhaltensweisen sind bei Männern so stark verankert, dass sie diese erkennen und als falsch sehen, aufgrund der starken Verinnerlichung aber nicht bzw. nur schwer ablegen können. Wie können Männer diese ablegen, und was können die Frauen tun?
Es geht darum, die Denkweise, Psyche und Denkmuster der Männer zu verändern. Dies geschieht über den Bildungsweg, sowie an vielen anderen Punkten innerhalb des herrschenden Systems. Die Sprache in der Gesellschaft, sowie die Gesellschaft allgemein, werden von den Medien stark geprägt. Wenn die Medien es schaffen, sich von Sexismus und sexistischen Denkweisen zu lösen, beeinflusst das die gesamte Gesellschaft und natürlich auch die Männer.
Das geschieht nicht von heute auf morgen. Gesellschaftliche Dogmen und Verhaltensweisen zu hinterfragen und zu überwinden, stellt einen sehr langen Kampf und Prozess dar.
Es gibt sehr vieles, was für diese Entwicklung getan werden muss, wir versuchen da unseren Beitrag zu leisten. Wir wollen verhindern, dass Medien sexistische Sprachrohre bleiben.

Wie arbeitet Ihr und was produziert Ihr? Wie seid Ihr strukturiert? Gibt es Hierarchien?
In erster Linie sind wir eine Nachrichtenagentur, wie zum Beispiel Reuters. Wir empfangen und verfassen Nachrichten in Schrift, Bild und Video. Diese verarbeiten wir und publizieren sie auf unserer Internetseite. In der Regel verkaufen wir unser Material an ein breites Netzwerk in der Medienlandschaft und nehmen so Einfluss.
Es gibt keine strukturellen Hierarchien, und es wird kollektiv gearbeitet. Mit unserem Konzept sind wir bereits jetzt weltweit auf sehr viel Aufmerksamkeit gestoßen. Wir publizieren auf Türkisch, Englisch, Kurdisch und bald auch auf Deutsch.
Dabei sehen wir uns nicht nur auf physischer Ebene als Frauen. Der Begriff „Frau“ meint nicht ausschließlich die biologische Frau oder das äußere Erscheinungsbild, sondern meint das Bewusstsein als Frau: kollektiv, offen und kollegial sein – das ist das, was wir mit „Frau“ meinen.
Wir versuchen zum Beispiel auch mit der Art der Kameraaufnahmen alternative und offenere Perspektiven zu ermöglichen. Wir wollen Kategorisierungen, die durch Bilder geschaffen werden, aufbrechen.
Wir machen auch interne Bildungsarbeit. Ein Thema ist z.?B. die Frage: „Wie schaffe ich es, hierarchiefreie Pressemitteilungen zu schreiben?“
Unsere Leitlinien sind Unterstützung statt Konkurrenz, antimilitaristische und ökologische Sichtweisen vermitteln, großen Respekt gegenüber allem zu haben. Weltoffenheit, sowie die Beschäftigung mit weltweiten Themengebieten, ist uns sehr wichtig. Unser wichtigster Grundsatz ist allerdings, dass wir keine Hierarchien haben oder reproduzieren wollen.

Was habt Ihr für Feedback seit Eurer Gründung von der Bewegung sowie anderen Medien bekommen? Gibt es Repression von staatlicher Seite aus?
Alle, die von uns gehört haben, haben eine sehr, sehr positive Rückmeldung gegeben. Unsere Gründung hat für große Aufmerksamkeit gesorgt. Wir erhalten jeden Tag Anfragen und Angebote für eine freiwillige Mitarbeit oder von Berichten. Unsere Vernetzung reicht von Amerika über Europa bis zu lokalen Ebenen. Vor kurzem hat sich eine Frau aus Deutschland bereit erklärt, hierherzukommen und mitzuarbeiten.
Von staatlicher Seite gibt es bisher keine Repression. Aber unsere Webseite (www.jinhaber.com/) ist erst sehr kurz online und der Staat hat uns vielleicht noch nicht bemerkt. Wenn wir dieses Männersystem stören, werden wir sehen, wie sie reagieren.

Kurdistan Report Nr. 161 Mai/Juni 2012

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