„Ausbeutungscamp“ für kurdische Flüchtlinge aus Rojava in Istanbul

Syrien FrauenTugçe Tatari, Journalistin, 15.08.2013

Ich habe mich schon immer nach der Geschichte der Kinder gefragt, die im Istanbuler Stadtteil Eminönü barfuß auf den Straßen Wasser verkaufen. Ich dachte mir immer, dass Erwachsene diese Kinder ausbeuten, ihnen verdreckte Kleidung geben und sie auf die Straßen zum Verkauf schicken.

Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass wir unsere Menschlichkeit verloren haben oder, dass wir diejenigen, die ihre Menschlichkeit verloren haben, als normalen Teil unserer Gesellschaft betrachten. Aber ich dachte immer, dass diese Kinder bloß eine „Inszenierung“ von irgendwelchen Erwachsenen sind.

Für 200 Lira nach Istanbul

Was in Syrien und in den letzten Tagen in Rojava (Westkurdistan/Nordsyrien) vorgeht, ist uns durch die Medien bekannt. Ein Meer aus Blut, überall Zerstörungen durch den Krieg. Die Bomben zerstören nicht nur die Städte sondern auch die Familien.

Viele, die einen Ausweg aus dem Krieg suchen, folgen, nichtwissend wohin sie sonst können, einfach der Menge der Flüchtlinge. Nicht wenige finden sich in der Türkei wieder.

Die Nähe der Grenze zur Türkei und die Tatsache, dass es jenseits der Grenze auch Leute von ihnen (gemeint Kurden, Anm. d. Übersetzers) gibt, tragen dazu bei, dass diese Menschen sich mit letzter Kraft in die Türkei „retten“.

Antakya und Ceylanpinar (türk. Grenzorte zu Syrien, Anm. d. Übersetzers) sind praktisch Teil dieses Krieges.

Die Menschen, die sich auf diese Seite der Grenzen retten, befinden sich auf einem neuen „Bazar des Überlebens“.

Denn auf der anderen Seite der Grenze warten Menschen auf sie. Keiner weiß, wer diese Menschen sind, zu welcher Bande sie gehören.

Das einzige, was man weiß, ist, dass sie jeweils für 100 Lira die tausende Menschen nach Urfa und von dort nochmal für jeweils 100 Lira diese Menschen nach Istanbul bringen

Ich weiß nicht, was den Menschen, die vom Krieg hierher flüchten, in Urfa alles wiederfährt. Aber ich möchte an dieser Stelle erzählen, womit sie in Istanbul konfrontiert werden.

Ein „Flüchtlingscamp“ als Ausbeutungssystem

Meine Begegnung diesen Menschen beginnt in den Straßen des Stadtteils Unkapi. Im Viertel Küçükpazar …

Das ist ein Viertel, das übersät ist mit vermeintlichen „Hotels“, die aus kleinen Zimmern bestehen. Ich denke, dass es vielmehr ein Ausbeutungscamp getarnt als Flüchtlingscamp ist.

Meinem Kollegen, ein Fotojournalist, und mir fallen sie sofort auf, als wir den Stadtteil betreten. Viele Menschen versammeln sich um uns herum. Die meisten von ihnen sprechen nur kurdisch.

Als ich jemanden, der türkisch spricht, nach den Flüchtlingen in diesem Stadtteil frage, packt er zu meiner Verwunderung eine Namensliste aus seiner Tasche aus. „Es gibt hier 200 von ihnen“, sagt er, „Sie sind alle auf meiner Liste eingetragen.“ Auf meine Frage, weshalb er sie auf seine Namensliste eintrage, antwortet er nicht. Ich frage weiter: „Von wo kommen sie? Wie kommen sie hierher? Was essen sie? Wo schlafen sie? Wo arbeiten sie? Haben sie Papiere und einen Pass?“ Die Antwort ist einfach nur: „Hier gibt es viele von ihnen. Wir wissen die Antworten auf deine Fragen nicht. Aber in Fatih, Esenyurt, Sultangazi (alles Istanbuler Stadtteile, Anm. d. Übersetzers) gibt es sehr viele von ihnen.“

Kurz darauf kommt ein kleinwüchsiger Mann in unsere Nähe. Er denkt wohl, dass wir hier nach einem Zimmer suchen und bietet uns eins an, das er für 1500 Lira an uns vermieten möchte. Wir sagen ihm, dass wir das Zimmer sehen möchten. Doch als er die Kamera meines Kollegen sieht, verschwindet er ganz schnell wieder.

Die Menschen, die uns immer noch begleiten, zeigen auf die offene Tür eines Hauses. Wir treten in das Erdgeschoss der Wohnung ein. Übergelaufene Toiletten, ein scharfer Geruch, feuchte Wände, nach Schimmel stinkende Räume. Und alle Räume sind mit Menschen überfüllt. Wir haben erfahren, dass die Menschen für die Räume monatlich 600 Lira, also 20 Lira pro Tag zahlen.

Als wir die Räume fotografieren wollen, werden wir vom Eigentümer des Hauses, der uns zwischenzeitlich bemerkt hat, raus gejagt.

Junge Frauen werden in die Prostitution getrieben

Wir begegnen einem jungen Mann auf der Straße. In seinen Armen trägt er sein Kind. Er heißt Mahmut und ist 25 Jahre alt. Wir erfahren im Gespräch, dass er ein Kurde aus Rojava ist.

Wir wollen wissen, wo er wohnt. Er bringt uns zu seinem Wohnort. Im Gegensatz zu den vorher besichtigten Räumen erscheint dieses Zimmer zwar luxuriös. Aber auch hier werden wir von stechendem Kanalgestank empfangen. Mahmut und seine Familie zahlen 800 Lira monatlich für diese Räume.

„Wo ist deine Lebensgefährtin?“, fragen wir. „Sie sucht nach Essen“, sagt Mahmut. Wie sie nach Essen sucht und ob sie denn Geld habe, fragen wir. „Sie hat kein Geld, ich weiß es nicht“, lautet seine Antwort.

As dem gegenüberliegenden Zimmer schauen kleine Kinder in unsere Richtung. Wir treten in das Zimmer ein. Hier wohnt Xezal. Sie ist 45 Jahr alt und hat vier Kinder. Besser gesagt, nur diese vier Kinder haben überlebt. Drei ihrer Kinder, ihren Mann, ihre Mutter und ihren Vater hat sie im Krieg verloren. „In Homs stand kein Stein mehr auf dem anderen. Wir sind aus dem Haus geflüchtet und der Menge gefolgt“, sagt sie.

Ihr ältestes Kind Süheyla ist 13 Jahre alt. Sie hat Angst alleine auf die Straße zu gehen. „Junge Frauen werden hier in die Prostitution gedrängt. Deswegen will ich nicht, dass sie auf die Straße geht“, sagt Xezal. Süleyha erzählt, dass sie in ihre Heimat zurückkehren möchte und für einen kurzen Augenblick leuchten ihre Augen auf. Doch dann verändert sich ihr Blick wieder. „Wir haben den Tod hinter uns gelassen“, sagt sie.

Ihre Geschwister sind noch klein. Doch indem sie auf der Straße Wasser verkaufen oder betteln, versuchen sie die Miete zusammenzukriegen. Das erzählt uns Xezal erst spät im Gespräch, als sie schon mehr Vertrauen zu uns aufgebaut haben.

Xezal zeigt auf vier Eier und zwei Fladenbrote. Das ist die Tagesration, für die die Kinder arbeiten gehen, sagt uns Xezal.

Man traut sich gar nicht zu fragen, wie sie morgen oder in naher Zukunft leben wollen.

Als wir uns von den Familien trennten und mein Blick sich mit den Blicken der ängstlichen Kinder kreuzte, überkam mich ein Gefühl, das ich nicht in Worten ausdrücken kann.

Bei jedem Krieg werden immer die Kinder und die Frauen am stärksten in Mitleidenschaft gezogen. Und wir sind lediglich Zuschauer …

Ohne Geld kein Ausweis

Als wir das Haus verlassen, fallen uns die Müllberge auf den Straßen auf. Und die Kinder, die auf den Müllbergen versuchen ein wenig ihre Kindheit zu leben.

Ein älterer Mann hinter uns ruft uns was auf Kurdisch zu. Wir suchen hilfeblickend nach Übersetzern. Als jemand da ist, erfahren wir, dass das Kind neben dem Mann sein Enkelkind ist. Er lebt mit seinen drei Schwiegertöchtern und seinen sechs Enkeln in einem Zimmer. Seine drei Söhne hat er im Krieg verloren. „Ich hatte ein gutes Leben. Ein Haus mit einem Garten. Aber das ist alles in Aleppo zurückgeblieben. Ich suche nach Milch für meinen Enkel. Aufgrund der Kriegserfahrungen konnte seine Mutter ihn nicht mehr stillen. Jetzt muss ich Milch für ihn finden.“

Seine größte Angst ist, dass seine Enkel erkranken. Als in Syrien einer seiner Enkelkinder erkrankte, wollte man ihn im Krankenhaus von Haseke zunächst nicht behandeln, weil sie nicht aus Haseke sondern aus Aleppo sind. Dann untersuchten sie ihn doch gegen eine Anzahlung. Doch weil er den Rest des Betrags nicht zahlen konnte, behielt das Krankenhaus einfach den Ausweis des Kindes.

Wir verabschieden uns von dem alten Mann und laufen weiter. Als wir an einem Park vorbeikommen, merken wir, dass dort Menschen leben. Wir gehen zu ihnen.

Der 35-jährige Berekat war Bauarbeiter in Aleppo. Aufgrund des Krieges ist er mit seinen drei Kindern und seiner Frau geflohen und vor einer Woche in Istanbul angekommen. Seitdem leben sie im Park.

Weil seiner Frau in Urfa die Tasche geklaut wurde, können sie sich jetzt in Istanbul kein Zimmer leisten. Sie leben von dem, was die Passanten ihnen geben.

Ich sehe, wie Kinder Wasser von der Rasensprenganlage trinken, um ihren Durst zu stillen. In dem Moment kreuzt sich mein Blick mit dem Blick von Bahar, der Ehefrau von Berekat …

Auch die 17-jährige Seyma lebt auf der Straße. Sie ist schwanger.

Sie ist eine junge Frau mit hellem Gesicht. Erst als ich mich ihr nähere, bemerke ich ihren Bauch. Ich muss schlucken.

Eine junge Frau, die schwanger auf der Straße lebt.

Mit 13 Jahren wurde sie verheiratet. Sie hat noch ein Kind, eineinhalb Jahre alt. Das Kind ist krank. Aber die Krankenhäuser behandeln sie nicht, weil Seyma kein Geld hat.

„Wie willst du das Kind auf die Welt bringen? Hier auf der Straße?“, frage ich.

„Ich weiß es nicht. Ich weiß überhaupt nichts.“

Ihr Ehemann ist 25 Jahre alt. Er kommt mit seinem Kind, dem er einen Teller Reis gekauft hat, auf uns zu. Auch sie stammen aus Homs. Seyma hat ihren elfjährigen Bruder und ihren 40-jährigen Vater im Krieg verloren. Ihre Mutter ist mit ihr geflohen. Aber sie ist in Urfa geblieben. „Vermutlich werden wir uns nie wieder sehen“, sagt Seyma.

Eine ständig hungrige, auf die Geburt ihres zweiten Kindes wartende 17-jährige Mutter. Schuld an ihrem Schicksal ist der Krieg. Der Grund ihrer Flucht war dem Tod zu entfliehen.

Ich stehe von ihrer Seite auf und fange an zu gehen. Ich gehe schnell.

Kriegsflüchtlinge, die kein Platz zum Schlafen haben, kaum Essen finden, ihre Familienmitglieder im Krieg verloren haben, aber noch nicht einmal die Zeit zum Trauern haben, die von dieser Gesellschaft ausgegrenzt, auf sich allein gelassen und sogar verkauft werden, die zur Prostitution, zum Betteln, zur Sklaverei genötigt werden. Und das alles ganz in unserer Nähe. Und das zu Tausenden. Und viele von ihnen sind Kinder.

Mitten in Istanbul wurden Ausbeutungscamps für Flüchtlinge errichtet!

Verschließt eure Augen nicht davor!

Quelle: t24.com.tr, 15.08.2013, ISKU

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