Brief an Hayrünnisa Gül [Gattin des Staatspräsidenten der Türkei Abdullah Gül]

abdullah gul-hayrunisa gulYildirim Türker / Autor, Journalist und Kolumnist der Zeitung “Radikal”, 4.3.2012

Fatma Tokmak, im Gefängnis sitzende Mutter von Azat, hat in einem Brief, ausgehend von ihren eigenen Erlebnissen, über die Erlebnisse von Frauen in Gefängnissen berichtet.
Ich hoffe ihr habt Fatma Tokmak nicht vergessen. Sie ist Azats Mutter. Heute überlasse ich den Platz in meiner Kolumne ihrem an Hayrünnisa Gül geschriebenen Brief.

Guten Tag geehrte Frau Hayrünnisa,
ich schreibe ihnen diesen Brief aus der Justizvollzugsanstalt für Frauen in Bakirköy. Zunächst beginne ich damit, mich vorzustellen. Ich stamme aus Sirnak. Ich bin schwer herzkrank, aber vor allem bin ich Mutter. Ich bin ein Häftling. Dass ich ein Häftling bin, liegt von allem daran, dass ich Kurdin bin, denn ich konnte kein Wort türkisch sprechen und verstehen. Bei meiner ersten Festnahme 1996 wurde ich schwer gefoltert. Ich war 24 Tage lang zusammen mit meinem Sohn nackt auf der Wache der Terrorbekämpfung. Ich wurde, damit ich eine türkischsprachige Aussage mache, mit verschiedenen Methoden wie Stromschlägen, Zigaretten auf der Haut ausdrücken, Aufhängen und Fußschlägen gefoltert. Meinen Sohn haben sie vor meinen Augen nackt ausgezogen und an seinem Körper Zigaretten ausgedrückt. Sie haben ihm Stromschläge verpasst. Mein Sohn war gerade einmal eineinhalb Jahre alt. Er hat noch immer die Verbrennungsnarben an seinem Körper. Ich konnte überhaupt kein türkisch. Sie haben das als bewusste politische Handlung bewertet und mich schwer gefoltert. Wenn ich von den Folterungen berichte, schämt sich jeder Mensch ein Mensch zu sein. Es reichte, dass ich Kurdin bin und kein türkisch konnte.
Nach 24 Tagen Untersuchungshaft haben sie am letzten Tag der möglichen Festnahmedauer mit Gewalt meine Fingerabdrücke unter eine ihnen passende Aussage gedrückt. Dass meine Fingerabdrücke unter Gewalt und durch Folter genommen wurden, ist klar deutlich. Sie drückten gewaltsam meine Finger und ich versuchte meine Finger wegzuziehen. Ich wusste weder was geschriebenen worden war, noch wer diese Aussage gemacht hatte. Ich wusste nur, dass zu irgendetwas beschuldigt wurde. Aber ich wusste nicht, warum und für was ich beschuldigt wurde.
So gefoltert wurde ich vor Gericht gebracht. Es war ein Militärgericht (d. Ü. Staatssicherheitsgericht). Ich wurde inhaftiert. Während der Untersuchungshaft wurde mir mein Sohn weggenommen. Vier Monate lang gaben sie mir meinen Sohn nicht zurück. Denn mein Sohn war mit den Zigarettenverbrennungen in einem sehr schlechten Zustand. In diesem Zustand gaben sie ihn mir nicht wieder. Zum Ende des vierten Monats, als die Verbrennungsnarben ein bisschen abgeheilt waren, gaben sie ihn mir wieder. Bis dahin lebte ich vollkommen nackt – hatte alle möglichen Folterungen und sehr schwere psychologische Auswirkungen erlitten – vor mich hin.
Doch mein Sohn war nicht bei mir und ich suchte ihn mit Hilfe meiner Rechtsanwälte. Grund für das nicht Zurückgeben meines Sohnes war der, dass die PKK angeblich die Verbrennungszeichen der Presse zeigen und damit Propaganda betreiben könnte.
10 Jahre lang ging mein Sohn die Gefängnistore mit den Wunden entlang. Die schwere Folter, die Misshandlungen führten bei mir zu einer schweren Herzerkrankung. Lange Zeit konnte ich wegen der Gefängnisbedingungen nicht behandelt werden. Vom Gericht wurde mein Recht auf Verteidigung vier Jahre lang missachtet, indem für meine Verteidigung ein Dolmetscher verhindert wurde. Denn ein kurdischer Dolmetscher war verboten. Nachdem mein Rechtsanwalt nach vier Jahren fragte:“Diese Frau spricht kein türkisch, sie kann kein tprkisch, wer hat also diese Aussage gemacht?”, luden sie den Kommissar (dieser arbeitete damals bei der „Terrorbekämpfung zur Aussage vor. Der Kommissar sagte aus:“Wir haben die Aussagen der anderen Personen, deren Namen in der Akte stehen, genommen. Weil diese Frau kein türkisch konnte, haben wir diese Aussage vervielfältigt, als ihre Aussage genommen und ihre Fingerabdrücke daruntergesetzt. Wir haben die Tatsache, dass sie nur kurdisch spricht als eine politische Handlung bewertet.” Wegen dieser Aussage habe ich eine lebenslange Haftstrafe bekommen. Mein Verfahren hat Jahre gedauert. Ich wurde zum Militärgericht hin und hergebracht, wo ich den Leuten nur ins Gesicht schaute.
2006 wurde ich wegen meiner Herzerkrankung und chronischen Erkrankungen unter der Auflage eines „Ausreiseverbotes” aus der Haft entlassen. Ich habe mein Leben zusammen mit meinem Kind fortgeführt. Mein Verfahren lief weiter. Auch wenn es nicht viel ist, habe ich in den 10 Jahren im Gefängnis ein wenig türkisch gelernt. Ich habe angefangen, im Kinderheim zu arbeiten. Ich habe mir ein Leben mit meinem Sohn aufgebaut. Meine medizinische Behandlung fortgeführt. Weder bin ich geflüchtet, noch habe ich mich versteckt.
Wenn ich in die Vergangenheit blicke, so sehe ich, dass viele Menschen unter ähnlichen Bedingungen wie ich ihr Leben führen. Ich habe viele Menschen kennengelernt, die in den Untersuchungsgefängnissen der Militärgerichte durch Folter verstümmelt wurden, die vergewaltigt, misshandelt wurden und dem Tod ins Gesicht schauten. Sie waren wie ich. Wir sind die Generation der 90er, die mit diesen Wunden leben. Es sind 20 Jahre vergangen. Wir haben gelernt, mit diesen Wunden zu leben. Bei jedem haben sich in Folge der Folter wie bei mir Krankheiten entwickelt. Bei der/dem einen das Herz, der/m anderen die Nieren, der/m nächsten Krebs und wieder einer/m anderen psychologische Beschwerden.
Nachdem meine Strafe beim Kassationsgerichtshof bestätigt wurde, wurde ich erneut festgenommen. Trotz meiner schweren Erkrankung wurde ich ins Gefängnis gebracht. Seit zwei Jahren bin ich in Haft. Wie die anderen Kranken im Gefängnis warte ich täglich auf den Tod. Täglich verlieren wir einen unserer kranken Freunde oder Freundinnen. Wir werden ständig an die Gerichtsmedizin verwiesen. Dort warten wir gefesselt und ohne angeschaut zu werden stundenlang, monatelang, Jahre vergehen. Außerdem sind wir dort den Beschimpfungen und Angriffen der Soldaten, Aufsehern, Personal oder Krankenhausangestellten ausgesetzt, die von der Art her Folter gleichzusetzen sind. Keine bekommt zeitig ihr Attest von der Gerichtsmedizin. Bis das Attest vorliegt sind wir, wie unser Freund Mehmet Aras, bereits tot.
Wir, die in den 90ern festgenommen wurden, mussten schwere ehrverletzende Folter, Beschimpfungen, Misshandlungen und Vergewaltigungen erleiden. Egal ob Frau oder Mann.
Ich möchte diese Frage an Sie stellen! Zuallererst sind Sie eine Frau und Mutter. Sie besuchen viele Orte. Haben Sie überhaupt schon einmal daran gedacht, wie viele Frauen in den Gefängnissen in unserem Land fern von ihren Kindern leben? Wie viele Kinder gefoltert wurden, wie viele Kinder in Haft verschwunden gelassen wurden? Wie viele Tage halten Sie es aus, ohne Ihre Kinder zu sehen oder deren Stimmen zu hören.

Im Gefängnis von Bakirköy sind ca. 1000 Frauen inhaftiert. Vielleicht sind Sie schon mehrfach an diesem Gebäude entlang gegangen. Haben Sie aber schon jemals daran gedacht, was hinter den Wänden drinnen passiert? Manche von uns hier drinnen haben seit Monaten, manche seit Jahren Sehnsucht nach ihren geliebten Menschen. Wir können nicht ihre Stimmen hören, wir können nicht in ihre Augen schauen. Wir können uns noch nicht mehr daran erinnern, wie lange es her ist, mit ihnen am selben Tisch gesessen zu haben um Tee zu trinken.
Angeblich haben wir ja monatlich einen offenen Besuchstag. Könnten Sie doch einmal herkommen und diesen Zustand sehen. In einem riesigen Saal können wir unsere Besucher nicht umarmen, können nicht nebeneinander sitzen. Denn zwischen uns gibt es breite Tische. Keiner darf auf die andere Seite gehen. Sobald unsere Kinder ein bisschen auf dem Tisch sitzen, greifen die Soldaten und Aufseher dazwischen. Mein Sohn verlässt mich jedes Mal weinend. Um ihn nicht traurig zu stimmen, halte ich mich zurück. Ich weine erst, wenn ich zurück in der Zelle bin.
Ich kann mich nicht mehr zurückhalten. Obwohl laut Erlass die Besuchszeit eine Stunde beträgt, hat die Verwaltung dieses auf eine halbe Stunde reduziert. Wenn die Besuchszeit zu Ende ist, dies beendigen die Soldaten durch Pfeifen, werden wir mit hin und her stoßend herausgetrieben. Diese Besuche erzeugen eine Quälerei.
Egal welche Schuld es gibt, auch die geliebten Menschen der Insassen werden bestraft. Diese Quälerei wirkt sich am meisten auf die aus, die draußen sind. Denn auch bei den Einzelbesuchen gibt es keinen Unterschied. Wegen der Trennscheiben können wir uns nicht hören. Wir reden über ein Telefonsystem. Wann dieses System empfängt oder nicht, ist vom guten Willen der Verwaltung abhängig.
Wir sitzen doch unsere Strafen ab. Warum dann diese Sonderstrafen? Ohne Zweifel sind wir nicht auf der Suche nach einem 5-Sterne-Hotel. Wir wollen nur den respektvollen Umgang der Menschenrechte, einen anständigen Umgang. Ist das denn zu viel verlangt?
Ich lade Sie in das Bakirköy Gefängnis ein. Werden Sie kommen? Werden Sie kommen und einen Tee mit uns trinken? Muttersein-Frausein zwingt dazu, gefühlvoll, gewissenhaft und fürsorglich zu sein. Ich schreibe Ihnen, ihre Gefühle ansprechend.
Als eine Mutter, deren Kind gefoltert wurde und die trotz ihrer Wunden versucht, auf eigenen Beinen zu stehen, appelliere ich an Sie. Und ich warte auch Ihre Antwort.

Hochachtungsvoll
Fatma Tokmak

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