Das HDK-Europa Projekt: Exilvertretung oder basisdemokratische Bündnisse?

HDK-AÜber die Bemühungen türkeistämmige und kurdische Organisationen unter einem Kongressdach zusammenzubringen, Murat Çakır, 30. April 2016

Seit Jahrzehnten versuchen Vereine und Verbände von linken, sozialistischen und kommunistischen Migrant*innen aus der Türkei und Kurdistan in Europa themenbezogene Bündnisse aufzubauen. Es sind i. d. R. aktuelle Entwicklungen in der Türkei und in Kurdistan, die zu solchen, meist befristeten Bündnissen und gemeinsamen Aktionen führen. Für die beteiligten Organisationen haben diese Aktionsbündnisse Vorteile in doppelter Hinsicht: Zum einen werden durch konkrete gemeinsame Aktivitäten die Kommunikation zwischen den Verbänden verbessert und das gegenseitige Vertrauen ausgebaut. Zum anderen führen die massenhaften Aktionen und gemeinsam formulierte Forderungen zu einer breiteren öffentlichen Wahrnehmung und ziehen die Aufmerksamkeit der Medien, politischen Parteien, Parlamenten und Regierungen auf diese Forderungen. Dennoch kann bilanziert konstatiert werden, dass weder eine nachhaltige öffentliche Wahrnehmung, noch ein nachhaltiger Einfluss auf politische Entscheidungsmechanismen erreicht werden konnte. Das hat verschiedene Gründe.

Das wichtigste ist wohl die bewusste Marginalisierung und Ausgrenzung der linken Selbstorganisationen in Europa. Die Kriminalisierung und Stigmatisierung kurdischer Organisationen aufgrund des PKK-Verbots kommt erschwerend hinzu. Zudem ist der Einfluss der Türkei als NATO-Mitglied auf den europäischen Regierungen und allgemein die Auswirkungen der imperialistischen Politik nicht zu vernachlässigen.

Doch das ist nur die eine Seite der Medaille. Auf der einen Seite agieren die migrantischen Selbstorganisationen meist Türkei- bzw. Kurdistanbezogen und beteiligen sich ungenügend an den sozialen Kämpfen und politischen Auseinandersetzungen in dem jeweiligen europäischen Land. So sind z.B. an den Maifeiern die meisten migrantischen Selbstorganisationen nur folkloristisches bzw. kulinarisches Beiwerk. Andererseits entstehen die bisherigen Bündnisse nur in Top-down-Prozessen. Die Einbeziehung der jeweiligen Basis in die Entstehungs- und Entscheidungsprozesse führen dazu, dass die Mitglieder der Selbstorganisationen außer der verordneten »nebeneinander demonstrieren« keine Gemeinsamkeiten entwickeln können. Vorstände entscheiden und Mitgliedsvereine führen aus – mehr ist es nicht.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Es geht nicht darum, die Existenz der unterschiedlichen Selbstorganisationen sowie deren politischen und sozialen Aktivitäten zu hinterfragen. Im Gegenteil: die Unterschiedlichkeiten und die Vielfalt sind eine Bereicherung für die Bündnisarbeit. Verankerung, Organisierung und Stärkung der jeweiligen Bündnisorganisation innerhalb ihrer Zielgruppe ist zugleich zum Vorteil der gemeinsamen Arbeit. Die Kritik richtet sich an das Verständnis und an die bisherigen Methoden der Zusammenarbeit.

Und positive Beispiele gibt es auch zuhauf: So hat der gemeinsame Wahlkampf während der türkischen Parlamentswahlen am 7. Juni und 1. November 2015 dazu geführt, dass die HDP das zweitbeste Wahlergebnis in den Auslandsurnen herausholen konnte. Über 90.000 Stimmen allein in der BRD und die erfolgreiche Arbeit der gemeinsamen örtlichen Komitees sind nicht nur gute Beispiele. Sie zeigen zugleich die Notwendigkeit einer nachhaltigen und langfristig ausgelegten Zusammenarbeit auf.

Ein kurzer Blick auf die politische Lage

Die Situation in der Türkei und in Kurdistan ist bekannt. Das AKP-Regime, dass sich nach den letzten Wahlen konsolidieren und die Unterstützung nahezu aller Kapitalfraktionen, der Staatsbürokratie und imperialistischen Staaten sichern konnte, ist auf dem Weg zu einer offenen Diktatur. Wir müssen davon ausgehen, dass der schmutzige Krieg in Kurdistan weiter an Fahrt gewinnen, die gesamte Opposition noch mehr unterdrückt, die Rechtsstaatlichkeit völlig ausgehöhlt, das Parlament zur Funktionslosigkeit degradiert und ein autoritäres Präsidialsystem verfassungsrechtlich verankert sein wird. Das AKP-Regime hat bewiesen, dass sie die Macht durch Wahlen nicht aus der Hand geben und alle Instrumente, die ihr zur Verfügung stehen nutzen wird, um ihre Macht auszubauen. Es ist zu konstatieren, dass das Regime den gesamten Staatsapparat, die Armee und die Justiz unter ihre Kontrolle gebracht hat und eine reaktionär-nationalistische Regierungsmacht geworden ist, die zudem über ein nicht zu unterschätzenden gesellschaftlichen Einfluss verfügt.

Weiter ist davon auszugehen, dass die Außenpolitik noch aggressiver und militaristischer gestaltet, die Zusammenarbeit mit anderen despotischen Regimen sowie djihadistischen Terrorbanden intensiviert und Kriegstreiberei verstärkt wird. Sowohl eine solche, auf verstärkte Kollaboration mit dem Imperialismus basierende Außenpolitik, als auch die neoliberale Wirtschafts- und restriktive Innenpolitik bedürfen die Absicherung durch den Aufbau eines autoritären Sicherheitsregimes und Repressalien. Der schmutzige Krieg gegen die kurdische Bevölkerung, die Konfessionalisierung und Islamisierung aller Lebensbereiche, die Mobilisierung eines faschistischen, aggressiv nationalistisch-rassistischen Mobs und die Willkürjustiz zeigen, wie groß inzwischen die Gefahr einer faschistischen Diktatur geworden ist.

Genauso ist es davon auszugehen, dass die türkeistämmigen und kurdischen Menschen in Europa die Auswirkungen dieser Entwicklung mit aller Härte hautnah spüren werden. Am 10. April 2016 konnten wir mit den zeitgleichen und europaweiten Demonstrationsversuchen türkischer Faschisten und Rassisten erleben, wie das AKP-Regime im Ausland ihren Einfluss geltend machen will. Mit ihren regierungsnahen Vereinen und Verbänden, geheimdienstlichen Organisationen und Medien ist das Regime in Europa bestens vernetzt.

Seitens der EU und europäischen Regierungen ist keine Abhilfe zu erwarten. Im Gegenteil, wie im Skandalpakt gegen Flüchtlinge zu sehen ist, werden die EU und europäische Regierungen das Regime weiter unterstützen. Gleichzeitig wird die imperialistische Politik im Nahen Osten weiter den Flächenbrand anfachen und weitere Fluchtursachen schaffen. In diesem Zusammenhang ist auch die rechtspopulistische Tendenz in den europäischen Ländern zu sehen. Die Stärkung von rechtspopulistischen und rassistischen Bewegungen führt dazu, dass die übrigen bürgerlichen Parteien deren Positionen übernehmen und dem Druck der Straße nachgeben. Gleichzeitig ist diese Entwicklung den herrschenden Klassen in Europa ein willkommener Anlass, um die Militarisierung der EU-Außenpolitik und den neoliberalen Umbau voranzutreiben. Die als uferlos verstandene Abschottungspolitik sowie der Ausbau des Sicherheitsstaats in allen EU-Ländern wird auch dazu führen, dass oppositionelle linke migrantische Selbstorganisationen unter dem Vorwand der »Terrorismusbekämpfung« vermehrt Ziel staatlicher Repressionen werden. Die Verfahren nach dem § 129b StGB und Isolationshaft von kurdischen und türkischen Linken ist nur die Spitze des Eisbergs, mit der Europa zu kollidieren droht.

Diese Entwicklungen werden kurdische und türkische Selbstorganisationen unter einem besonderen Druck bringen und das alltägliche Leben der Migrant*innen negativ beeinflussen. Natürlich werden die demokratische Öffentlichkeit, linke Parteien, die Friedens- und Gewerkschaftsbewegung sich gegen eine solche Entwicklung positionieren und als unsere natürlichen Bündnispartner uns beistehen. Aber das Fehlen eines breiten, starken und geeinten migrantischen Zentrums wird sich als ein Faktor darstellen, der die Solidarität und den gemeinsamen Kampf weiter schwächen wird. Die angemessene Antwort darauf ist die qualitative Weiterentwicklung der bisherigen Bündniserfahrungen und die Schaffung eines linken politischen Zentrums von türkeistämmigen und kurdischen Migrant*innen.

Notwendigkeiten und Methoden des gemeinsamen Kampfes

In der Türkei hat die Gründung des »Demokratischen Kongress der Völker« (HDK) im Kampf um Demokratie, friedliche Lösung der Nationalitätenfrage, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit neue Impulse gegeben. Die aus der HDK herausgegangene und als »Kongresspartei« konzipierte »Demokratische Partei der Völker« (HDP) hat die undemokratische Wahlhürde von 10 Prozent funktionslos gemacht. Es konnten gesellschaftliche Bündnisse aufgebaut werden, die vielfach größer waren als die Summe der Massen, die alle HDK bzw. HDP Mitgliedsorganisationen zusammenbringen können. Die Erfahrungen des HDK-Aufbaus sind lehrreich.

Die meisten türkisch-kurdischstämmigen Organisationen in Europa haben in der Türkei und in Kurdistan Schwesterorganisationen, die sich in der HDK bzw. HDP zusammengeschlossen haben. Das, was in der Türkei und in Kurdistan als Notwendig angesehen und erfolgreich umgesetzt wurde, gilt in gleicher Weise auch in Europa. Es wäre nicht nachvollziehbar, wenn die gleichen politischen Strömungen in der Türkei und in Kurdistan ein basisdemokratisches Bündnis wie die HDK aufgebaut haben, in Europa aber dies nicht bewerkstelligen könnten.

Insofern war es kein Zufall, dass in Europa unterschiedliche migrantische Organisationen – wenn auch verspätet – eine solche Debatte begonnen haben. Auch wenn sich der Prozess etwas langwierig darstellt, so ist es nicht notwendig, das Rad neu zu erfinden. Es ist völlig ausreichend, den HDK-Gründungskonsens und die Programmatik, ergänzt um die spezifischen Bedürfnissen und politischen Forderungen in Europa, aufzunehmen und zur Grundlage eines ständigen basis- bzw. rätedemokratischen Bündnisses – z.B. als HDK Europa – zu machen.

In den Diskussionen, die auf verschiedenen Ebenen geführt werden, suchen die beteiligten Organisationen nach Wegen, ein solches Bündnis aufzustellen. Einige Selbstorganisationen wie die ATIK, DIDF oder alewitische Föderation AABF stehen diesen Diskussionen noch reserviert gegenüber. Es wird also noch einiges an Überzeugungsarbeit notwendig sein, die sich aber auf jeden Fall lohnen werden. Denn eine »HDK Europa« ohne ATIK, DIDF und AABF könnte die vorhandenen Potentiale nicht entfalten können.

In den bisherigen Diskussionen hat es sich herauskristallisiert, dass auf örtlicher, regionaler, auf Landes- und europaebene über Rätestrukturen von Unten nach Oben das Bündnis aufgebaut werden sollte. Diese Aufbaustruktur, die die jeweilige Vertretung auf der übergeordneter Ebene durch Delegiertensystem vorsieht, könnte, anders als bei den klassischen Vereinsstrukturen, die beteiligungsorientierte freiwillige Mitarbeit möglichst breiter Kreise fördern. Die Sicherstellung der Geschlechtergerechtigkeit auf allen Vertretungsebenen, die Möglichkeit der Mitwirkung und Mitentscheidung in thematischen Räten bzw. Kommissionen, basisdemokratische Entscheidungsmechanismen, der Aufbau von örtlichen Räten zu Zentren der sozialen Arbeit, Begegnung, politischen Bildung, der Solidarität, von bedarfsorientierten sozialen wie kulturellen Angebote und des gemeinsamen Kampfes ist machbar und kann breite Kreise mobilisieren.

Es wäre jedoch fatal, wenn die Rätestrukturen eines solchen Bündnisses eine reine Exilvertretung türkischer und kurdischer Bewegungen bliebe. Die politische Arbeit und Organisierung des HDK-Europas sollte auf drei Säulen fußen:

 

  • Solidarität mit den Kämpfen in der Türkei und in Kurdistan; Öffentlichkeitsarbeit, Lobbyarbeit für demokratische Kräfte, soziale und Friedensbewegungen der Türkei und Kurdistan, eben internationalistische Intervention in die politischen Entscheidungsmechanismen und der Meinungsbildung in Europa.
  • Beteiligung an sozialen Kämpfen, an Aktionen der Friedens- und Gewerkschaftsbewegungen, der antifaschistischen und antirassistischen Organisationen in dem jeweiligen europäischen Land und auf EU-Ebene. Kurz, als fester Bestandteil der Bewegungen in Europa unseren Beitrag für die demokratische, soziale und friedliche Gestaltung der Zukunft zu leisten.
  • Als Dach der Selbstorganisationen der Migrant*innen eine basisdemokratische Interessensvertretung in den Bereichen Migration, Flucht und Asyl zu sein, Angebote für die Lösung der spezifischen migrantischen Probleme, für eine Politik der Gleichstellung, Antirassismus und Antidiskriminierung entwickeln, politische Bildung organisieren, Selbstermächtigung und Wissensaneignung fördern, Organizing.

Eine so aufgestellte HDK-Europa könnte vor Ort, in den Kommunen, Ländern und auf der Bundes- wie EU-Ebene ein wichtiger, ernstzunehmender politischer und gesellschaftlicher Akteur werden. Die Erfahrungen in den Wahlkämpfen bei den türkischen Parlamentswahlen haben gezeigt: durch die gemeinsame Arbeit wurde die Dynamik und das Potential des HDP-Bündnisses auch für die europäische Öffentlichkeit sichtbar. Zudem war dies eine zusätzliche Motivation für die gesellschaftliche und politische Linke in Europa.

Ob wir es wollen oder nicht: die Entwicklungen in der Türkei und in Kurdistan, die aktuelle Lage in Europa, die Rechtsentwicklung, der neoliberale Umbau und die Militarisierung der EU beeinflussen unser alltägliches Leben und machen deutlich, dass die Zeit für den Aufbau eines HDK-Europas längst gekommen ist. Auch wenn derzeit nicht alle Selbstorganisationen davon überzeugt sind, gilt es kontinuierlich und beharrlich daran zu arbeiten, die basisdemokratische Bündnisarbeit auf allen Ebenen voranzutreiben. Die Zeit ist reif. Das einzige, was uns verhindern könnte, ist nichts anderes als Organisationsegoismen und die Kurzsichtigkeit der Akteure.