Das »kurdische Guernica«

26652Nick Brauns, junge Welt Ausgabe vom 24.11.2016

Sirnak: Betretungssperre für Bevölkerung aufgehoben. Nach monatelangem Beschuss sind von der Stadt im Südosten der Türkei nur noch Ruinen geblieben

Seit voriger Woche dürfen die vertriebenen Bewohner von Sirnak (kurdisch: Sirnex) wieder in die Stadt in den Bergen im äußersten Südosten der Türkei zurückkehren. Nach achtmonatiger Betretungssperre hoffen sie, kurz vor Wintereinbruch ihre Häuser, die während wochenlanger Kämpfe im Frühjahr beschädigt wurden, wieder notdürftig instand setzen zu können. Doch viele Rückkehrer, die sich zuerst an Polizeiposten registrieren lassen müssen, finden nicht einmal mehr Trümmer ihrer Häuser vor. 80 Prozent der Stadt wurden zerstört.

Noch vor rund einem Jahr hatten sich Vertreter der linken prokurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) aus Sirnak gegenüber junge Welt zuversichtlich gezeigt, dass ihre Stadt von Angriffen des Staates verschont bleibe. »Die Berge sind nah, die Guerilla kann schnell zu unserer Verteidigung kommen«, war man sich in Sirnak gemeinhin einig. Es wurde auf die in den nahen Cudi- und Gabarbergen verschanzten Kämpfer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) vertraut. Um die durch Volksräte selbstverwalteten Stadtviertel von Sirnak vor Polizeiübergriffen zu schützen, hatten junge PKK-Anhänger damals Barrikaden errichtet. Damit, dass die Armee Wohnviertel mit Panzern und Haubitzen beschießen würde, hatte keiner gerechnet. Gegen einen solchen wochenlang anhaltenden Beschuss aus der Distanz durch schweres Kriegsgeschütz konnten die leichtbewaffneten Anwohnermilizen nichts ausrichten. Die Masse der Einwohner floh. Die Menschen kamen bei Verwandten unter oder harrten in Zeltlagern nahe der Stadt aus. Doch nach den Panzern rückten die Bagger an, um die in Ruinen verwandelten Häuser einzuebnen.

Sechs Stadtteile sind laut der in Deutschland erscheinenden kurdischen Tageszeitung Yeni Özgür Politikavollständig ausgelöscht worden. Aktuelle Bilder zeigen im einstmals eng bebauten Stadtviertel Cumhuriyet eine nun einsam in der Trümmerlandschaft stehende Moschee. Das siebenstöckige Gebäude, in dem die HDP und ihre kommunalpolitisch aktive Schwesterpartei DBP ihre Zentralen hatten, wurde komplett eingerissen. An den Wänden der noch stehenden Häuser haben die Sonderkommandos der Armee und Militärpolizei, die aus den Reihen der faschistischen Grauen Wölfe und Dschihadisten rekrutiert wurden, rassistische Parolen hinterlassen. Nach wie vor patrouillieren Panzerwagen dieser Spezialeinheiten im Stadtgebiet, und über den Schuttbergen haben die Militärs im Stile von Kolonialherren eine große türkische Fahne aufgezogen. Die abgesetze DBP-Bürgermeisterin Eylem Özlem Onuk wird per Haftbefehl gesucht, die Stadt steht unter der Zwangsverwaltung des Vizeprovinzgouverneurs.

Ein Reporter der kurdische Nachrichtenagentur Firatnannte Sirnak das »kurdische Guernica«. Die 1937 durch die Naziluftwaffe zerstörte baskische Stadt wurde durch das gleichnamige Gemälde von Pablo Picasso zu einem Symbol für die Schrecken des Krieges. Und den Krieg kennen viele Bewohner von Sirnak nicht erst seit diesem Jahr. Denn ein Großteil von ihnen stammt aus Dörfern, die während der 1990er Jahre von der Armee geräumt wurden. 1992 rückte Sirnak in das Blickfeld der internationalen Medien, als türkische Militärs mit Schützenpanzern aus deutscher Lieferung während des kurdischen Newrozfestes Dutzende Feiernde massakrierten. Hunderte Zivilisten wurden in den folgenden Jahren von Todesschwadronen des berüchtigten Gendarmeriegeheimdienstes Jitem ermordet und in Brunnenschächte geworfen.

Noch vor zehn Jahren war Sirnak – obwohl Provinzhauptstadt – nur ein unansehnliches Nest, wo dürre Kühe in Müllhaufen wühlten. Doch in den zurückliegenden Jahren wuchs die Stadt auf über 65.000 Einwohner an. Ein Fünfsternehotel und ein Flughafen wurden eröffnet, in der Hoffnung, vom Handel mit dem nahen Irak zu profitieren. Zugleich ist Sirnak eine der am meisten militarisierten Regionen des Landes. Auf nahezu jeder Hügelkuppe befinden sich Militärstützpunkte. Denn die Provinz im Dreiländereck Türkei-Irak-Syrien hat als Tor zur Türkei strategische Bedeutung für Guerillakämpfer, die aus PKK-Camps im Nordirak kommen oder sich den Volksverteidigungseinheiten YPG im nordsyrischen Selbstverwaltungsgebiet Rojava anschließen wollen. Erst vergangene Woche wurden bei Sirnak zwei junge Tschechen, die nach Angaben der regierungsnahen Tageszeitung Sabah in den Reihen der YPG gekämpft hatten, beim illegalen Grenzübertritt verhaftet.

 

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