Ein Interview von Civaka Azad mit einer Mitarbeiterin des „Information Center of Afrin Resistance“ in Şehba , 07.07.2018
Die Selbstverwaltung des Kantons Afrin und das Außenbeziehungskomitee von Şehba haben einen Bericht über die Probleme verfasst, mit denen die aus Afrin nach Şêrawa und Şehba geflohene Bevölkerung konfrontiert ist. In dem Bericht werden insbesondere die Probleme in den Dörfern von Şêrawa und Şehba, wie auch in den Camps thematisiert. Kannst du uns die momentane Lage kurz schildern? Wie viele Flüchtlingslager gibt es für die Menschen aus Afrin?
Nachdem die Menschen aus Afrin nach strapaziöser Flucht in Şehba angekommen sind, fanden sie sich mit einer Situation des Nichts konfrontiert: Es gab weder Lebensmittel, noch Wasser, Strom oder Decken. Sie suchten Schutz in Schulen und Moscheen. Andere zogen in verlassene Häuser, allzu oft in der Gefahr, dass eine der tausend vom Islamischen Staat (IS) zuvor in den Häusern installierten Minen unter ihren Füssen oder in den Händen ihrer spielenden Kinder explodiert. Da diese Zustände untragbar und die zur Verfügung stehenden sicheren Unterkünfte keineswegs ausreichend waren, wurden in Şehba eilig Flüchtlingscamps aufgebaut. Das erste war das „Berxwedan“(kurd: „Widerstand”)-Camp in Fafine, ca. 15 km nördlich von Aleppo. Die Arbeiten dazu begannen nur wenige Tage nach der Vertreibung aus Afrin. Zwei weitere Camps, „Serdem“ („Zeitalter”) und „Efrin“ folgten ca. einen Monat später.
Wie viele Menschen leben in den Camps? Wie ist die humanitäre Situation und die Sicherheitslage in den Camps?
Insgesamt leben heute ca. 5000 Menschen in den Camps, ein verhältnismäßig kleiner Anteil gemessen daran, dass sich insgesamt noch ca. 130.000 Geflüchtete aus Afrin in Şehba aufhalten. Die Menschen in den Camps leben unter schwierigsten Lebensbedingungen: Obwohl die Selbstverwaltung sehr große Fortschritte in der gesundheitlichen und der Lebensmittelversorgung gemacht hat, ist vieles knapp. Krankheiten breiten sich aus. Besonders jetzt im Sommer ist es unerträglich heiß in den Zelten und der Großteil der Menschen leidet unter Hitzeerkrankungen. Doch viele der Menschen verlassen die Camps aus folgender Haltung heraus nicht: Sie sind politisch hoch gebildet und wissen, dass sie mit ihren leidvollen Lebensbedingungen den Widerstand fortsetzen und international ein wichtiges politisches Symbol setzen. Die Namen der Camps sind nicht umsonst gewählt. Das System der demokratischen Autonomie, das in Afrin mit Geduld und Hingabe aufgebaut und entwickelt wurde, lebt in den Kommunen und Räten, den Frauenorganisationen und Kulturvereinen in den Camps weiter.
Die Sicherheitslage ist insgesamt weiterhin angespannt. Die lokalen Kräfteverhältnisse sind alles andere als endgültig entschieden. Dies stellt eine wichtige psychische Belastung für die Menschen dar, die sich nach dem Krieg weiterhin im Schock befinden und besonders der feindlichen Kriegstechnik ausgeliefert fühlen. Seit der Ankunft der Menschen in Şehba gibt es immer wieder Geräusche von Drohnen, Kampfflugzeugen und Artillerie zu hören – einige davon kommen von andauernden Kämpfen des syrischen Regimes gegen die Gebiete der „Freien Syrische Armee”, bei anderen ist eine genaue Lokalisierung unmöglich. Eine weitere Sorge der Menschen ist die Lage ihrer Angehörigen und Freundinnen in Afrin selbst. Die Besetzer hatten frühzeitig damit geworben, dass alle Geflüchteten problemlos in ihre Dörfer und nach Afrin-Stadt zurückkehren können und ihnen nichts passieren würde. Eine nicht geringe Anzahl von Menschen ist diesem Ruf gefolgt. Nun, nach drei Monaten der Besatzung, häufen sich die schlechten Nachrichten aus Afrin für diese Rückkehrerinnen. Sie werden immer wieder bestohlen und nicht in ihre eigenen Häuser zurückgelassen. Da nun jedoch schon ein Großteil des Privateigentums von den Besatzern „konfisziert“ wurde, wird es nun immer üblicher, Menschen zu entführen und hohe Summen für ihre Freilassung zu verlangen. Wenn die Familie nicht bezahlen kann, wird der/die Entführte umgebracht. Damit entsteht ein immenser Zahlungszwang. Das ist eine wichtige Einnahmequelle der Besatzer. Viele Menschen würden sich nun gerne wieder nach Şehba in Sicherheit bringen, doch es ist schier unmöglich, aus dem von den Besatzern kontrollierten Gebiet herauszukommen.
Um die aktuelle Situation zu beschreiben, sollte noch erwähnt werden, dass die YPG/YPJ momentan ihre Aktivitäten in Afrin wieder verstärkt haben und die Verteidigung mit anderen Methoden fortsetzen. Dies gibt den Menschen Hoffnung, dass sie in Zukunft in Freiheit nach Afrin zurückkehren können. Gleichermaßen ist dies auch die einzige Forderung der Menschen: Dass sich jeder in der Welt fragt, wie diese Ungerechtigkeit, dieser aggressive imperiale Krieg und die brutale Vertreibung der Menschen wiedergutzumachen ist. Es müssen die Anstrengungen verstärkt werden, politischen Druck aufzubauen, um den türkischen Staat zur Beendigung der Besetzung zu zwingen und den Menschen die Rückkehr auf ihre Erde zu ermöglichen.
Hast du zuletzt einen Aufruf an die Öffentlichkeit in Deutschland?
Um die aktuelle Lage der Menschen, besonders in den Flüchtlingslagern zu lindern, ist es wichtig zu bedenken, dass der Weg nach Şehba vom syrischen Regime kontrolliert wird. Dies führt häufig dazu, dass lebenswichtige Güter wie Lebensmittel, Medikamente oder Diesel verspätet ankommen oder nur zu hohen Preisen erhältlich sind. Auch hierfür ist es wichtig, eine internationale Aufmerksamkeit, insbesondere unter NGO’s, herzustellen und den Weg nach Şehba ständig gut zu beobachten. Vor allem befreundete Individuen und Gruppen in Deutschland sollten zudem verstärkt Geld sammeln und am besten an den „Kurdischen Roten Halbmond“ (Heyva Sor a Kurd) spenden, damit die (bisher nicht sehr gute) Gesundheitsversorgung in Şehba unterstützt werden kann.