Das Wirtschaftsmodell in Rojava

remziye_muhammed
Ein Gespräch mit Remziye Mihemed, Finanzministerin des Kantons Cizîre in Rojava (Nordsyrien), 16.02.2014

Remziye Mihemed, Finanzministerin des Kantons Cizîre, sprach mit der Nachrichtenagentur ANF über die Arbeiten ihres Ministeriums und das Wirtschaftsmodell in Rojava (Westkurdistan). „Alle in Syrien, ausgenommen die Kurden, hatten das Recht auf Nutzung und Verwaltung unserer natürlichen Ressourcen. Kurden waren zur Armut verdammt, obwohl sie von Reichtum jeder Art umgeben sind“, so Mihemmed. „Mit dem System der Demokratischen Autonomie baut die Gesellschaft ihre eigene und freie Wirtschaft auf.“

Der Kanton Cizîre erklärte seine Autonomie am 21. Januar diesen Jahres und begann seitdem unverzüglich mit den Arbeiten zur Bildung der lokalen Verwaltungsstrukturen. Die Regierung besteht aus 22 Personen, von denen die Ministerien für Finanzen, Wirtschaft und Handel von Frauen geführt werden. Im folgenden Interview spricht Mihemed über die Rolle der Frau in der neuen Regierung, über die Bestrebungen, die Ressourcen in den Dienst der Gesellschaft zu stellen und über die Wichtigkeit von ökologischer Entwicklung und Umweltschutz.

Mit der Ausrufung der Autonomie haben Sie eine leitende Funktion in der Regierung eines Kantons übernommen. Folglich symbolisieren Sie die Gewinne der Frauen in Rojava auf lokaler Regierungsebene. Können Sie ihre Emotionen beschreiben?

Vielleicht ist diese Situation für mich speziell nicht sehr ungewohnt, weil ich zuvor die Vorsitzende des Volksrats von Qamislo gewesen bin. Die Zeit dort war sehr lehrreich und aufregend. Jedoch ist die Wahrnehmung einer Funktion im Rahmen einer Regierungsstruktur auf der Basis des neuen Systems der Demokratischen Autonomie etwas Besonderes, zumal es eine Premiere ist. Ich wurde zur Finanzministerin ernannt. Niemals zuvor hat eine Frau im mittleren Osten die Position als Finanzministerin innegehabt. Frau hat diese erstmalige Gelegenheit aufgrund des neuen Systems der Demokratischen Autonomie. Dies ist gleichzeitig auch ein sehr gutes Beispiel für den Fortschritt, den die kurdische Frau im Besonderen gemacht hat.

Wie war die Finanzpolitik in Rojava bisher? Wie werden Sie die Finanzpolitik gestalten?

Bislang hat das Assad-Regime in keinster Weise die finanziellen Ressourcen in den Dienst der Bevölkerung in Kurdistan [Nordsyrien] gestellt. Unsere Bevölkerung war gezwungen nach Allepo oder Damaskus auszuwandern, um über die Runden zu kommen. Es wurde im Norden eine spezielle Staatspolitik mit Korruption angewandt. Hier waren die Möglichkeiten zu arbeiten ohnehin sehr beschränkt. Beispielsweise gibt es im Norden noch nicht einmal eine Fabrik oder Textilwerkstatt, die wenigstens eine kleine Anzahl von Menschen beschäftigen könnte. Es wäre unmöglich gewesen, drei Nähmaschinen für eine Textilwerkstatt zu besorgen. Weil im nächsten Moment, ein oder zwei Tage später, Regimefunktionäre ins Geschäft gekommen und den Laden geschlossen hätten. Das Regime hat alles dafür getan, dass die Bevölkerung von kommunaler Arbeit fern bleibt und unter keinen Umständen zusammen kommt und gemeinsam arbeitet. Es wurde immer eine Politik betrieben, die die örtliche Bevölkerung abhängig vom Regime sein lassen sollte. Das war eine der Methoden, um die Kurden dazu zu bringen ins Ausland oder in andere Städte Syriens auszuwandern.

Auf der anderen Seite wurden landwirtschaftliche Erträge, die in der (nördlichen/kurdischen) Region produziert wurden, in andere Städte wie Allepo oder Damaskus gebracht, dort verarbeitet, um wieder zurück an die Ursprungsregion verkauft zu werden. Ein Beispiel sind Baumwollerträge die in Aleppo verarbeitet werden. Auf die gleiche Weise wurde unser Weizen nach Damaskus, Homs und Hama gebracht und dort verwendet. Ebenso das Öl, welches das wichtigste Erzeugnis und Einnahmequelle in unserem Gebiet ist, wurde bisher stets von außerhalb verwaltet. Kurz gesagt, alle in Syrien, ausgenommen die Kurden, hatten das Recht auf Nutzung und Verwaltung unserer vielen natürlichen Ressourcen. Kurden waren zur Armut verdammt, obwohl sie von Reichtum jeder Art umgeben sind. Aufgrund der Rojava-Revolution und des Systems der Demokratischen Autonomie sind wir nun in der Lage mit der Gesellschaft eine unabhängige gesellschaftsbezogene Wirtschaft aufzubauen. Als Finanzministerium werden wir unsere Arbeit darauf richten, dass die vielen irdischen und unterirdischen Ressourcen Rojavas in Rojava verwaltet werden und die Einkünfte der örtlichen Gesellschaft zu Gute kommen.

Im Moment befinden wir uns im Kriegszustand. Aufgrund von Embargos für manche Regionen sind wir darauf angewiesen, viele Werkzeuge, die wir für Produktion brauchen, von außerhalb zu beschaffen. Dies beeinflusst unsere Arbeiten natürlich.

Dazu kommt, dass wir aus den selben Gründen Schwierigkeiten haben langfristige Projekte zu entwickeln. Daher ist es momentan für unsere Bevölkerung angemessen kurzfristige Projekte zu realisieren, um langfristigen Projekten den Weg zu ebnen. Zum Beispiel werden Schneidereien und Bäckereien eröffnet. Derartige kleine Schritte wurden in der Kriegssituation umgesetzt und dürfen nicht unterschätzt werden. Abgesehen vom Ministerium für Finanzen arbeitet das Ministerium für Wirtschaft und Handel an vielen Projekten. Selbstverständlich haben wir enge Beziehungen und viele gemeinsame Projekte, weil es in der Ordnung der Demokratischen Autonomie viel Raum und Bedarf an gemeinsamer Arbeit gibt.

Werden Sie eine unabhängige Wirtschaft der Frauen entwickeln?

Während der Zeit, als das Regime an der Macht war, ist es für Frauen ein riesen Problem gewesen gar das Haus zu verlassen. Deswegen ist die Revolution Rojavas gleichzeitig als eine Frauenrrevolution zu verstehen. Um das Verständnis der Frauen für Finanzen zu fördern, werden wir Frauenorganisation unterstützen. Wir sind bereit aktuelle sowie zukunftsorientierte Projekte zu unterstützen. Die jüngsten Frauenprojekte, die wir unterstützt haben, sind Bäckereien, Bekleidungseinzelhandel und Schneidereien. Wir geben unsere volle Unterstützung für derartige Projekte.

Obwohl es eine ganz frische und kurze Amtszeit für ihr Ministerium ist, gibt es Projekte, die für Sie höhere Priorität haben?

Wie Sie bereits erwähnt haben ist unser Kanton und das Verwaltungssystem in der Aufbauphase. Wir sind dabei, das Verfahren für unser Finanzministerium zu bestimmnen. Zunächst werden wir unsere Projekte vorbereiten und der Kantonsregierung vorlegen. Erst nach der Prüfung und Genehmigung können wir Projekte umsetzen. Weil dies eine bestimmte Zeit in Anspruch nimmt, haben wir derzeit vorwiegend Verwaltungsarbeit.

Der Hauptsitz des Ministeriums für Finanzen wird genauso wie die der Regierung in Qamislo sein. Wir, als Finanzministerium, werden Beziehungen zu den anderen 21 Ministerien des Kantons Cizîre haben. Wir werden gemeinsame Projekte erarbeiten, die darauf abzielen, der Bevölkerung eine unabhängige Finanzierung zu ermöglichen. Im Rahmen der Regierung der Demokratischen Autonomie arbeiten wir an einem Steuergesetz, das mit der Realität der Gesellschaft im Einklang steht.

Wer ist Remziye Mihemed?

Remziye Mihemed ist seit dem Jahr 2000 involviert in Frauenarbeit und wurde in 2005 zum Koordinationskomiteemitglied der Yekitiya Star gewählt. Bis 2011 hat sie in der Region Cizîre weiter in Frauenfragen gearbeitet. Im selben Jahr wurde sie zur Kovorsitzenden des Volksrats von Qamislo gewählt. Am 21. Januar 2014 ist sie zur ersten Finanzministerin des Kantons Cizîre ernannt worden.

ANF, 16.02.2014, ISKU

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