„Demokratisches Kurdistan, Demokratische Mittelostföderation, Globaler Demokratiekongress“

Abdullah Öcalan über die Formel „Staat plus Demokratie in Kurdistan“ und die Zukunft in der Region, 04.08.2017

Konkret ist Kurdistan mit der Geschichte, Geographie und den Völkern des Mittleren Ostens so untrennbar verwoben. Diese Tatsache wird durch den Ausschluss des Nationalismus noch bedeutsamer. Der Nationalismus ist der tiefere Grund für die Sackgasse, in der die Beziehungen zwischen Palästina und Israel stecken. Dass dem Nationalismus einer Nation noch religiöser Nationalismus hinzugefügt wurde, hat die Katastrophe vervielfacht. Wenn man stattdessen demokratische Lösungsmöglichkeiten genutzt hätte, hätte es wahrscheinlich weniger Leid gegeben und eine Ordnung errichtet werden können, die günstiger ist als die heutige. Ultranationalistischer Etatismus hat noch kein Problem gelöst, sondern immer nur zu einer Politik der Grausamkeiten geführt. Wenn in Kurdistan ebenso die nationalistisch-etatistische Strömung die Oberhand gewinnt, entsteht nicht nur ein neuer Israel-Palästina-Konflikt, sondern gleich vier davon. Daraus müssen wir eine Reihe von Schlüssen ziehen. Auch die vielfältigen negativen Auswirkungen der Konflikte um Tschetschenien, Berg-Karabach, den Kosovo und Zypern und derjenigen zwischen dem Osmanischen Reich und den Armenier oder auch den Osmanen und den Arabern sind genauso bekannt wie die der Kurden mit der Türkei und dem Irak.

Der geeignetste Weg zur Verhinderung einer Wiederholung derartiger Katastrophen ist, den Mut aufzubringen, die kurdische Frage konsequent durch eine ernsthafte, friedliche und demokratische Reform zu lösen, ohne dabei auf Verleugnung und Vernichtung zurückzugreifen und die Kurden zu spalten oder zu Bittstellern zu machen. Die Formel dafür haben wir anhand der Türkei konkret dargestellt. Verallgemeinert auf den Mittleren Osten lautet sie, dass der jeweilige Staat demokratisiert wird und gleichzeitig in Kurdistan eine demokratische Entwicklung zulässt. Dann kann ein partnerschaftlicher Kompromiss zum Zwecke der allgemeinen Sicherheit und der öffentlichen sozialen Aufgaben eingegangen werden, gemäß der erwähnten Formel „Staat plus Demokratie in Kurdistan“. Die oft verwandte Parole „Freiheit für Kurdistan“ interpretieren wir also konkret als Demokratisierung des Mittleren Ostens und Off der jeweiligen Staaten für eine demokratische Entwicklung in Kurdistan. Ein freies Kurdistan ist vor allem ein demokratisches Kurdistan. Im Allgemeinen globalen Zusammenhang geht es darum, die Weltsozialforen zu einer supranationalen Plattform der lokalen Demokratien, in einen globalen Demokratiekongress der Völker zu verwandeln, der nicht auf Staaten fixiert ist. Die Parole der Zukunft lautet dann vielleicht „Demokratisches Kurdistan, Demokratische Mittelostföderation, Globaler Demokratiekongress“. (…)

Die Zukunft der Region des Mittleren Ostens

Wir können die Optionen der Völker des Mittleren Ostens in der Zeit des Übergangs zur demokratischen Zivilisation in drei Punkten zusam­menfassen. Die erste Möglichkeit ist die Fortsetzung des Status quo ohne Veränderung. Das System, welches von den Kräfteverhältnissen des 20. Jahrhunderts profierte, ist jedoch am Ende. Mit dem Zerfall des Realsozialismus verschärfte sich zum einen die Krise, zum anderen entstand die heutige, überwiegend unipolare Situation. Oben wurde beschrieben, wie das Imperium des Chaos unter US-Hegemonie versucht, die Krise zu meistern. Gleichzeitig findet die dritte große Offensive der kapitalistischen Globalisierung statt. Dem gigantischen Überangebot an Waren, der durch die revolutionären Entwicklungen in Wissenschaft und Technik zustande kommt, stehen die besitzlosen Massen gegenüber. Die Globalisierung kann nicht ans Ziel kommen, ohne diesen Widerspruch zu lösen. Die konservati­ven Strukturen der Nationalstaaten gelten dabei als Haupthindernis und sollen zunehmend zugunsten von Individualisierung, Liberalisierung und Demokratisierung überwunden werden.

Diese Entwicklung birgt für die breite Bevölkerung sowohl positive als auch negative Aspekte. Demokratische Aufbrüche und Bewegungen wer­den dadurch beschleunigt werden. Die Bewahrung des Status quo wird zunehmend unmöglich, da einerseits die Hegemonialmacht, andererseits Volksbewegungen von unten seine Abschaffung fordern. Die konservativen Kräfte werden sich immer weiter isolieren, wenn sie jegliche Problemlösung behindern und ansonsten versuchen, kleine Retuschen vorzunehmen, so­bald sie in Bedrängnis geraten, und sich durch gelegentliche Provokationen auf den Beinen zu halten. Hinter ihnen stehen nicht mehr wie einst die USA oder die Sowjetunion, und so versuchen sie Zeit zu gewinnen, indem sie auf der Stelle treten. Gleichzeitig werden sie dabei immer aggressiver.

Es scheint auch, dass sie nicht mehr wie früher mit pseudolinker oder -rechter Demagogie zum Erfolg kommen können. Die Kontrolle von Staat und Gesellschaft durch Faschismus oder Totalitarismus erfreut sich nicht mehr der gleichen Unterstützung wie ehedem. Da also der nationalstaatliche Status quo immer mehr die Unterstützung des Volkes verliert und sich auflöst, die Oberschicht sich in die neuen Hegemonialstrukturen integriert und die Volksmassen an der Basis nach einem demokratischen System streben, scheidet diese erste Option aus.

Selbst wenn dieser Prozess, den wir im Mittleren Osten tagtäglich erle­ben, nicht völlig zu einer Lösung führt, kann er dazu beitragen, dass die besagten Kräfte aufhören, Hindernisse darzustellen. Insbesondere die ara­bischen Staaten, allen voran Ägypten, sowie Pakistan, die Türkei und der Iran schwanken zwischen dem Status quo und der Veränderung. Sie sehen sich nicht in der Lage, klare Entscheidungen für die vor uns liegende Zeit zu treffen. Jedoch spricht einiges dafür, dass sie unter dem Einfluss des Greater Middle East Project von oben und des Projekts einer demokratischen, geschlechterbefreiten und ökologischen Gesellschaft des Volkes von unten in einen Prozess der Veränderung eintreten werden.

Die zweite Option ist die eher pragmatische einer begrenzten Demokratie. Die Zeiten, in denen der Imperialismus einseitig eine Ordnung nach seinem Willen errichtete, sind vorbei. Es ist unwahrscheinlich, dass die USA als neue Hegemonialmacht in ähnlicher Weise einseitig ein System errichten und aufrechterhalten werden. Auf der anderen Seite haben die Nationalstaaten, die verschiedene nationale Gemeinschaften in der jüngeren Vergangenheit errichtet haben, ihre Fähigkeit zur Problemlösung eingebüßt und sind selbst für In-und Ausland zum Problem geworden. Es fällt ihnen zunehmend schwerer, ihre Unabhängigkeit wie in den Zeiten der Kräftegleichgewichte aufrecht zu erhalten.

In der heutigen Zeit stehen gegenseitige Abhängigkeiten im Vordergrund. Die dritte große Offensive der Globalisierung beschleunigt diesen Prozessweiter. Die Ära der internationalen Beziehungen weicht einer Ära der Bezie­hungen zwischen Konzernen. Der Nationalstaat verwandelt sich in einen Konzernstaat. Das nationale Kapital weicht dem Kapital der internationalen Konzerne. Auf der anderen Seite erwachen lokale Kulturen zu neuer Blüte. Das Lokale ist ein Wert, der zunehmend an Bedeutung gewinnt. Im Lichte dieser Faktoren können wir unsere Zeit als eine Zeit definieren, in der das Globale und das Lokale in den Vordergrund treten.

Dem entsprechen auf der politischen Ebene weder die entwickelten national-bürgerlichen Demokratien und der Faschismus, noch der Realsozialismus unterentwickelter Nationen und der Totalitarismus nationaler Befreiung. Möglicherweise werden Demokratien mit Mischcharakter entste­hen, in denen zwei Systeme koexistieren. Demokratische Allianzen von ge­sellschaftlichen Gruppen lokalen und nationalen Zuschnitts könnten dafür die praktikabelste Methode darstellen. Die Einparteienmodelle der Linken und der Rechten, die weder eine innerparteiliche noch eine parlamentari­sche Opposition zuließen, weichen effektiveren Mehrparteiendemokratien. So kann jede Gruppe, die in der Lage ist, sich repräsentieren zu lassen, in direkteren, flexiblen Kontakt mit dem globalen System treten und den Angebotsüberschuss reduzieren. Dieser Prozess, der auf der ganzen Welt abläuft, wird auch für den Mittleren Osten immer wahrscheinlicher. Diese Option wird aktuell, weil die alten Strukturen des Status quo überwunden werden müssen. Das Greater Middle East Project der USA entstammt dieser Notwendigkeit. Den Völkern des Mittleren Ostens hingegen fehlt das Be­wusstsein und der Organisationsgrad für den Aufbau einer authentischen Demokratie auf eigene Faust. Ihr Wille ist uneinheitlich, sie erwachen gerade erst und beginnen zu handeln. Das erschwert ihnen den einseitigen Aufbau einer wahrhaft demokratischen Option. Trotzdem bleibt der Aufbau einer eigenen, inneren Demokratie eine dringende und unverzichtbare Voraus­setzung für prinzipientreue Kompromisse. Das Chaosintervall mit seinen Möglichkeiten für Freiheit und Kreativität macht diese Übergangszeit so wichtig und bietet die Möglichkeit, dass in gemischten Demokratien die Völker zu den wichtigsten Akteuren werden.

Die dritte Option ist weitestgehend eine Utopie, die auf die Zukunft verweist: Eine demokratisch-ökologische Gesellschaft, mit Befreiung der Geschlechter – und einer Moral, die nicht einen Staat in den Mittelpunkt stellt. Dass es sich dabei eher um eine Utopie handelt, bedeutet nicht, dass man nichts davon heute leben könnte.

Im Gegenteil stehen wir jederzeit und überall vor der Aufgabe, diese große Sache mit bescheidenen Schritten zu verwirklichen. Manchmal wird wenig, manchmal und an manchen Orten wird viel davon lebendig werden. Wir werden dieser Gesellschaft und dieser Demokratie jeden Tag ein Stück weit näher kommen. Dies kann gelingen, wenn wir lernen, mit Respekt für die Rechte und die innere Demokratie verschiedener freier Gemeinschaften zu leben, wenn wir die Befreiung der Geschlechter und eine ökologische Gesellschaft verwirklichen. Völker und Gemeinschaften, die sich nicht ohne Staat verwalten, können niemals die ersehnte Freiheit und Gleichheit erlan­gen. Vom Staat Demokratie und Sozialismus zu erwarten, ist tatsächlich die Negierung von Demokratie und Sozialismus. Diese Methode wurde in der Geschichte hunderte Male versucht und führte jedes Mal dazu, dass die herrschenden und ausbeutenden Mächte noch weiter gestärkt wurden. In nicht-etatistischen Demokratien müssen die Völker und Gemeinschaften auch ihre eigene Verteidigung selbst organisieren. Milizen zur Volksverteidigung müssen in der Lage sein, überall – im Dorf, in der Stadt, in den Bergen, in der Wüste – die Demokratie des Volkes und alle Werte, die geschützt werden müssen, gegen Räuber, Unterdrücker und Diebe zu schützen.

Im ökonomischen Bereich ist es möglich, durch Kommunen, Koopera­tiven und verschiedene Assoziationen eine Wirtschaft zu entwickeln, die nicht auf Warenproduktion und Verdinglichung beruht und die nicht schäd­lich für Gesundheit und Umwelt ist. Die Arbeitslosigkeit, ein strukturelles Problem der Ausbeutungssysteme, kann in der demokratischen und ökolo­gischen Gesellschaft kein Problem sein. Der Aufbau dieser Gesellschaft, in der es kreative Bildung und Leidenschaft für das Leben gibt, ist der beste Weg für den Übergang zum Sozialismus. Eine Gesellschaft, die keinen Krieg untereinander kennt und in der Gleichheit, geschwisterliche und freund­schaftliche Beziehungen herrschen. Eine Gesellschaft, die sich eher an der Moral orientiert als an der Justiz. Die Synthese der kommunalen Gesell­schaft und der Gleichheit zwischen den Ethnien, die historisch unter den Völkern des Mittleren Ostens lange existiert haben, mit den Möglichkeiten der heutigen Wissenschaft und Technologie wird das Leben in einer demokratischen Gesellschaft mit Ökologie und die Freiheit der Geschlechter als höchsten Werten Wirklichkeit werden lassen.

Bei dem Text handelt es sich um einen Auszug aus “Jenseits von Staat, Macht und Gewalt” von Abdullah Öcalan.


Seit vielen Jahren versucht Abdullah Öcalan, günstigere Bedingungen für eine friedliche, politische Lösung des Konflikts in der Türkei herbeizuführen. Jahrelang führte er mit der türkischen Regierung Gespräche über eine Lösung. 2009 legte er seine »Roadmap für den Frieden« vor. 2013 stoppte sein Aufruf zum Rückzug der Guerilla effektiv den bewaffneten Konflikt in der Türkei. Öcalan ist seit seiner Entführung 1999 auf der türkischen Insel Imrali völlig von der Außenwelt abgeschnitten. 11 Jahre lang war er der einzige Häftling auf der Insel – bewacht von mehr als 1000 Soldaten. Seit Ende Juli 2011 hat Öcalan mit keinem Anwalt sprechen können. Öcalan hält so den »Europa-Rekord« für Haft ohne Zugang zu Anwälten. Seit April 2015 befindet er sich faktisch in Totalisolation. Diese Zustände machen Imrali zum schlimmsten der ohnehin berüchtigten türkischen Gefängnisse. Die weltweite Kampagne für Öcalans Freiheit hat 10,3 Millionen Unterschriften gesammelt. Das Time-Magazine kürte ihn 2013 zu einer der 100 weltweit einflussreichsten Persönlichkeiten. Er ist Autor zahlreicher Bücher.