Den Fortschritt vorleben …

PYD-Asya AbdullahInterview mit Asya Abdullah, der Kovorsitzenden der Partei der Demokratischen Einheit (PYD) über die Frauen und den Aufbau der Demokratischen Autonomie in Westkurdistan

(…) Wir betrachten die Gewalt nicht als Mittel zur Lösung unserer politischen Fragen. Allerdings sind auch wir in diesem Krieg ständigen Angriffen von allen Seiten ausgesetzt. Die Bevölkerung will die Demokratische Autonomie aufbauen und ist auch bereit, sie zu verteidigen. Das ist legitim. In diesem Sinne verfügen wir mit den Volksverteidigungseinheiten (YPG) auch über bewaffnete Kräfte. Ihre Aufgabe ist es allerdings nicht, irgendwelche Angriffe auf andere Gruppen durchzuführen oder Gebiete außerhalb Westkurdistans gewaltsam einzunehmen, sondern die Errungenschaften der Revolution vor möglichen Angriffen zu schützen. Ich denke, dass dies einen bedeutenden Unterschied zu den meisten anderen bewaffneten Gruppen im Land darstellt. Die nachhaltige Überwindung dieser Probleme sehen wir allerdings in der Realisierung unseres Systems. (…)

Wie reagiert die Bevölkerung auf Euer Konzept der Frauenselbstorganisierung in Rojava?

Während wir gegenwärtig unser System in Rojava [kurd.: Westen = Westkurdistan] aufbauen, stellen wir die Frau ins Zentrum. Auf allen Ebenen spielt sie deshalb eine Vorreiterrolle. Das ist für uns sowohl ethisch als auch politisch von großer Bedeutung. Natürlich ist die Bevölkerung insgesamt mit vielen Schwierigkeiten konfrontiert. Das bringt der Bürgerkrieg nun mal mit sich. Aber uns geht es darum, dass wir uns mit der Umsetzung unseres Systems auch sofort an Ort und Stelle diesen Schwierigkeiten stellen und Lösungen erarbeiten können. Mit dem Aufbau unserer Gesellschaftsordnung geht ein tiefgreifender Mentalitätswandel in der Gesellschaft einher. Wir arbeiten an einem System, das keine Unterschiede zwischen den gesellschaftlichen Gruppen macht. Deshalb soll es bei uns auch keine hierarchische Arbeitsteilung geben. Dieses Prinzip ist auch am ehesten mit unserer Vorstellung von Geschlechtergerechtigkeit kompatibel.

Es ist natürlich nicht möglich, ein solches System von heute auf morgen umzusetzen. Aber wir sehen, dass die Bevölkerung sich damit auseinandersetzt und beginnt, sich damit zu identifizieren.

Du hast erklärt, dass die Selbstverwaltungsstrukturen im Sinne der Geschlechtergerechtigkeit errichtet werden. Was hat das den Frauen in Rojava bisher gebracht?

Die Frauen haben mit diesem System ihre autonomen Strukturen aufgebaut und fällen ihre Entscheidungen selbst. So gut wie in ganz Westkurdistan gibt es Frauenräte. Es gibt rund fünfzehn autonome Frauenzentren. In den drei größten Städten Westkurdistans wurden Frauenakademien gegründet. Was die Selbstorganisierung wie auch die Selbstbildung angeht, geben die Frauen in der Gesellschaft die Richtung vor. Die gegenwärtig in Rojava stattfindende gesellschaftliche Aufklärung wird maßgeblich von der Frau mit ihren eigenen Farbtönen beeinflusst. Die Frauen führen einen Kampf gegen die häusliche Gewalt, einen Kampf, damit ihr Wille zur Geltung kommt, und einen Kampf, damit sie auf allen gesellschaftlichen Ebenen partizipieren können. Als erste Früchte dieser Kämpfe haben wir eine Geschlechterquote von 40 % [jeweils mindestens 40 % Frauen und Männer in möglichst allen Bereichen und Gremien] in Rojava durchgesetzt.

Welche Perspektive seht Ihr als Frauen für das kriegsgeschüttelte Syrien?

Mit dem Ausbruch der Revolution konnte die Bevölkerung große Errungenschaften verzeichnen. Zugleich haben wir mit der Revolution vor Augen geführt bekommen, dass unsere Vielfalt unseren Reichtum darstellt. Ausgehend von dieser Erkenntnis mussten wir uns alle die Frage stellen, was für ein System diesen Reichtum sowohl schützen als auch zur Geltung bringen kann. Für uns steht fest, dass dies nur in einem demokratischen Syrien möglich ist, in dem alle Völker und Gruppen sich selbst artikulieren und entfalten können. Wir beschränken unsere Perspektive also nicht allein auf die KurdInnen in Syrien, sondern sagen, dass der gesamte Reichtum der Region zur Geltung kommen muss. Denn in dieser revolutionären Phase wurden und werden von allen Seiten große Opfer gebracht. Deswegen müssen wir die Errungenschaften aus diesem Prozess auch gemeinsam erleben und umsetzen können.

Welche Bedeutung kann Euer System der kommunalen Selbstverwaltung für die übrigen Volksgruppen Syriens haben? Gibt es beispielsweise schon AktivistInnen oder SprecherInnen in den nicht allein kurdischen Strukturen?

Unser System ist nicht allein auf die KurdInnen zugeschnitten. Wir schlagen vor, dass alle Gruppen in Syrien und über Syrien hinaus sich im Sinne der Demokratischen Autonomie organisieren. Das ist allerdings eine Entscheidung, die sie selbst treffen müssen. Wir können nicht für sie entscheiden. Wir können ihnen lediglich unsere Gesellschaftsordnung vorleben und ihnen so zeigen, wie demokratische kommunale Selbstverwaltungsstrukturen funktionieren. In einigen Orten Westkurdistans sind bereits jetzt nichtkurdische Volksgruppen in unseren Strukturen beteiligt, was wir für sehr wichtig halten. Wenn in einer Stadt die Rätestruktur umgesetzt wird, so ist unser Ziel stets, dass alle Gruppen der Stadt sich daran beteiligen.

Für das Zusammenleben in Syrien ist allerdings auch von Bedeutung, dass die Verleugnungs- und Vernichtungspolitik ein Ende nimmt. Die wurde vom Baath-Regime konsequent praktiziert und die KurdInnen litten am meisten darunter. Gegenwärtig haben wir diese Politik in hohem Maße durchbrochen. Es ist allerdings an der Zeit, dass nicht nur die KurdInnen sich gegen eine solche Praxis stellen, sondern alle Gruppen des Landes.

Wie sieht es mit der Selbstverteidigung aus? Gibt es da Schwierigkeiten?

Wir betrachten die Gewalt nicht als Mittel zur Lösung unserer politischen Fragen. Allerdings sind auch wir in diesem Krieg ständigen Angriffen von allen Seiten ausgesetzt. Die Bevölkerung will die Demokratische Autonomie aufbauen und ist auch bereit, sie zu verteidigen. Das ist legitim. In diesem Sinne verfügen wir mit den Volksverteidigungseinheiten (YPG) auch über bewaffnete Kräfte. Ihre Aufgabe ist es allerdings nicht, irgendwelche Angriffe auf andere Gruppen durchzuführen oder Gebiete außerhalb Westkurdistans gewaltsam einzunehmen, sondern die Errungenschaften der Revolution vor möglichen Angriffen zu schützen. Ich denke, dass dies einen bedeutenden Unterschied zu den meisten anderen bewaffneten Gruppen im Land darstellt. Die nachhaltige Überwindung dieser Probleme sehen wir allerdings in der Realisierung unseres Systems.

Oft werden die YPG, die Du gerade angesprochen hast, als bewaffnete Einheiten der PYD verstanden. Ist das richtig?

Die YPG gehören zu keiner politischen Partei. Sie sind gebunden an den Kurdischen Hohen Rat, dem insgesamt sechzehn Organisationen in Westkurdistan angehören.

Arbeitet die kurdische Frauenbewegung auch mit anderen Frauenorganisationen aus Syrien zusammen?

Wir haben Beziehungen zu einer Vielzahl von Frauenorganisationen im Land aufgebaut, um mit ihnen gemeinsame Arbeiten anzugehen. Ergebnis dessen war die Gründung der Fraueninitiative Syriens. Mit den verschiedenen Organisationen dieser Initiative haben wir eine Konferenz durchgeführt. Das Ziel ist, einen Dachverband der Frauenorganisationen aus ganz Syrien zu bilden, in dem die Frauen aus allen Volksgruppen des Landes vertreten sein sollen.

Und wie steht es um die Zusammenarbeit mit den Frauen aus den anderen Teilen Kurdistans?

Die Kämpfe der Frauen in allen vier Teilen Kurdistans haben mittlerweile einen gewissen Erfahrungsgrad und eine gewisse Reife erreicht. Selbstverständlich haben die Frauenbewegungen in den anderen Teilen Kurdistans auch ihre spezifischen Eigenheiten, weil sie ihre Kämpfe unter zum Teil unterschiedlichen Bedingungen führen müssen. Aber es gibt auch viele Gemeinsamkeiten und die Prinzipien der Frauenbewegungen sind dieselben.

Um die gemeinsame Organisierung der kurdischen Frauen grenzübergreifend zu stärken, haben wir in der jüngeren Vergangenheit zwei nationale Frauenkonferenzen, in Amed (Diyarbakır) und in Hewlêr (Arbil), organisiert und wichtige gemeinsame Beschlüsse gefasst. So bereichern die Frauen aus allen vier Teilen Kurdistans gegenseitig ihre Kämpfe.

Zum Schluss noch eine kurze Frage zu den gegenwärtigen Auseinandersetzungen der YPG mit der Freien Syrischen Armee (FSA) in Afrîn: Warum greift die FSA jetzt an und warum gerade dort?

Die Angriffe sind ganz klar gegen die Errungenschaften in Rojava gerichtet. Dagegen hat sich anscheinend eine Koalition gebildet, welche die autonome Selbstverwaltung der KurdInnen nicht akzeptiert. Angriffe wie diese gibt es immer wieder. Zuvor war es Serê Kaniyê (Ras al-Ayn), nun ist es Afrîn. Neben einigen Gruppen, die zur FSA gehören, greifen gegenwärtig auch die Kräfte des Baath-Regimes stark an. Vor allem die KurdInnen in Heleb (Aleppo) haben das deutlich zu spüren bekommen. Ich denke, dass es sich dabei um eine Fortsetzung der Verleugnungs- und Vernichtungspolitik handelt. Diejenigen, die diese Angriffe durchführen, können nicht ertragen, dass sich die Bevölkerung von Rojava selbst verwalten will und das gegenwärtig auch tut. Es gibt für die Angreifer keine Aussicht auf Erfolg, denn die Bevölkerung hält an ihren Selbstverwaltungsstrukturen fest.

Das Interview führten Hezil Rojda und Usman el Bedewi für ANF

Entnommen aus dem Kurdistan Report Nr.168

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