Der Arabische Frühling von Tunesien bis Syrien und die Situation der Kurden

Baki GülUnd deshalb verteidigt sie nicht allein die Selbstorganisierung des kurdischen Volkes …
Baki Gül, Journalist

Es begann damit, dass sich ein Jugendlicher aus Perspektivlosigkeit und Armut in Brand setzte. Danach nahmen die sich radikalisierenden Volksaufstände vom Nordwesten Afrikas bis in den Osten des Kontinents ihren Lauf. Im gesamten Jahr 2011 sorgten sie für große Aufregung und verfehlten auch nicht ihre Wirkung in den USA und Europa. Inspiriert von den symbolträchtigen Zeltaktionen auf dem Tahrir-Platz in Kairo begannen auch die Occupy-Aktivitäten in den Finanzmetropolen. Allerdings haben sie nicht zu denselben Ergebnissen geführt wie die Volksaufstände in der arabischen Welt. Die Occupy-Aktionen waren eher flüchtigen Charakters und bewahrten ihren Einfluss nur für kurze Zeit.

In Tunesien sorgten die Volksaufstände für das Ende der Herrschaft Zeynel Abidins. Zwar kam es dadurch zu einem teilweise demokratischeren System, doch die global herrschende Politik hat verhindert, dass der Regimesturz zu einer Volksrevolution führte. Anschließend wurde in Ägypten die Herrschaft Husni Mubaraks gestürzt. Spätestens mit dessen Ende war der Arabische Frühling nun in aller Munde. Und spätes­tens von nun an waren sowohl die anderen arabischen Staaten als auch die Vertreter des globalen Herrschaftssystems wie die USA und die EU gezwungen, vorsichtiger mit der neuen Situation umzugehen. Ägypten sollte noch weniger als Tunesien seinem Schicksal überlassen werden. So wurden die Bemühungen verstärkt, den Herrschaftswechsel im Land ohne Umwege in die globale Herrschaftspolitik zu integrieren. Der Volksaufstand von Ägypten stieß somit auf die geopolitischen Konstruktionen der globalen Politik. Aber das Symbol des Tahrir-Platzes war noch frisch im Gedächtnis der Menschen. Und so zeigten die Volksaufstände, die in Tunesien und Ägypten ihren Anfang genommen hatten, auch ihre Auswirkungen in Ländern wie Sudan, Jemen, Algerien und Bahrain sowie auf der gesamten arabischen Halbinsel. Doch in Saudi-Arabien und in den Golfstaaten trat noch eine weitere Dynamik hinzu: Iran. Damit die Unruhen in der Region nicht bis in den Iran hineinwirken, begann Teheran die schiitische Karte auszuspielen. Dies trug dazu bei, dass die Revolten zunehmend an Wirkung verloren. Die Situation in zwei Staaten sollte dennoch hervorstechen: in Libyen und Syrien.

In Libyen war die Situation eine andere als in den übrigen Ländern. Es gab keinen Volksaufstand. Allerdings drängten einige Staaten der EU, insbesondere Frankreich, auf eine Intervention und als sich dann die USA und die übrigen NATO-Staaten dem anschlossen, wurde das Gaddafi-Regime mit einem heftigen Schlag gestürzt. Auch die Tatsache, dass das Regime über Sympathien in der Bevölkerung verfügte und seine Anhänger sich lange wehrten, konnte diesen Sturz nicht verhindern. Das neue Libyen wurde nach den Wunschvorstellungen derjenigen Mächte gestaltet, die das Erdöl und die anderen Schätze des Landes brav unter sich aufteilten. Nach Libyen waren Syrien und der letzte Vertreter des Baath-Regimes Bashar al-Assad an der Reihe. Syrien sollte über die bestehenden Widersprüche im eigenen Land geschwächt werden. Vor dem Hintergrund des sunnitisch-schiitischen Gegensatzes wurden die traditionell im Konflikt mit dem Baath-Regime stehenden Moslembrüder ins Spiel gebracht. Und auch über den arabisch-kurdischen Widerspruch im Land versuchte man Assad in die Enge zu treiben. Allerdings stellte sich im Falle Syriens die Dreierkombination Iran-Russland-China quer und so hat sich diese Phase in die Länge gezogen. Demgegenüber agiert die Combo aus Türkei und Saudi-Arabien auf der Seite der global herrschenden Kräfte, wodurch die Fronten komplementiert werden.

Die Kurden hingegen beharren auf ihrer Position, die einen demokratischen Wandel in Syrien einfordert. Sie haben ihre Organisierung in der Bevölkerung vorangetrieben und ihre Forderung nach einem politischen Status für sich durch Massenproteste unterstrichen. Insgesamt wird die Situation allerdings immer komplizierter. Die Türkei stellt sich, gepaart mit ihrer antikurdischen Politik, gegen das syrische Regime, Saudi-Arabien und Katar versuchen die sunnitischen Araber gegen Damaskus aufzuwiegeln, wohingegen der Iran sich mit seinem Einfluss auf die schiitische Bevölkerung im Land auf die Seite des Regimes stellt. Die Gewaltsituation in Syrien wird durch die geschilderte Lage immer komplexer.

Die USA und die EU haben zunächst im Falle Syriens nicht auf eine militärische Intervention wie in Libyen gesetzt, sondern es von innen zu spalten und dadurch Assad zu schwächen versucht. Die anschließenden diplomatischen Debatten, die über die Vereinten Nationen liefen, haben Syriens Regierung zu einem Waffenstillstand mit der Opposition gezwungen. Doch die Situation im Land wird aufgrund der folgenden Besonderheiten weiterhin akut bleiben:
Zunächst einmal ist die Bevölkerung Syriens nicht weitgehend homogen wie in anderen arabischen Staaten. In Syrien leben verschiedenste Nationalitäten wie die Araber, Kurden, Armenier, Suryoye, Drusen, Turkmenen und Tscherkessen, und neben den islamischen Religionsgemeinschaften der Schiiten und Sunniten sind auch weitere Religionsgruppen wie die christliche und die yezidische Minderheit vertreten. Als zweite Besonderheit bilden die Kurden in Syrien nun wie in den anderen Teilen Kurdistans hinsichtlich ihrer politischen Stärke eine Einheit. Vor allem die politische Linie der PKK hat großen Einfluss auf sie. Das beeinflusst wiederum die Syrienpolitik der Türkei und Irans. Drittens verfügt Syrien nicht über einen natürlichen Reichtum an Erdöl- und Erdgasvorkommen wie der Irak oder Libyen. Ergo gibt es keine Reichtümer, mit denen Interventionisten die Kosten für ihren Eingriff materiell kompensieren könnten! Viertens ist Syrien im Nahen und Mittleren Osten ein Zentrum politischer Widersprüche. Dort kreuzt sich der arabisch-israelische mit dem sunnitisch-schiitischen und dem kurdisch-arabischen Widerspruch.

Die kurdische Dynamik wird, im PKK-Sinne organisiert, sowohl im Falle der Fortexistenz dieses Regimes als auch im Falle einer Intervention, zu einem Status führen. Das birgt auch das Potential in sich, im Nahen und Mittleren Osten zu einer bedeutenden politischen Kraft zu werden. Dadurch, dass die Kurden weder auf Interventionsseite noch auf Regimeseite stehen, scheinen sie gegen jegliche Eventualität besser gewappnet. Die Politik der Türkei und des Iran hingegen, einzelne Gruppen innerhalb Syriens zu unterstützen, steigert die Gefahr, den Bürgerkrieg im Land zu eskalieren.

Mit kurdischer Perspektive zur Problemlösung in Syrien und Nah-/Mittelost
Die kurdische politische Bewegung in Syrien sieht und bewertet die Entwicklungen in Syrien auf die oben beschriebene Weise. Adil Bayram von der Özgür Gündem macht in seinem Artikel „Regionalkrieg“ auch auf diese Situation aufmerksam: „Wir haben stets darauf hingewiesen, dass ein Krieg in Syrien für die gesamte Region weitaus größere Folgen hätte als die Kriege und Aufstände in Tunesien, Ägypten und Libyen. Dass jetzt auch ein möglicher Krieg gegen Iran auf die Tagesordnung kommt, bestätigt unsere These. Die Gefechte in Syrien nehmen immer mehr die Form eines regionalen Krieges an, der vom Mittelmeer bis nach Afghanistan reicht. Folglich handelt es sich um einen regionalen Krieg mit globalen Dimensionen.“ Diese Beobachtung bringt eine ernst zu nehmende Situation zum Ausdruck. Wenn man nun die anstehende US-Präsidenten-Wahl und die Verhandlungen über das iranische Atomprogramm hinzunimmt, wird die Instabilität der Region unübersehbar. Bayram, der auch auf den Beitrag der AKP-Politik zu dieser Instabilität hinweist, setzt seine Analyse fort: „Der über Syrien geführte Regionalkrieg stellt für alle Akteure eine ernsthafte Situation dar. Die Lage ähnelt in vielerlei Hinsicht der Zeit während des Ersten Weltkriegs und danach. Deshalb ist kluges und vorsichtiges Handeln in einer solchen Situation von großer Wichtigkeit. Auch die Türkei benötigt für die gegebenen Umstände eine neue Politik. Zunächst einmal muss sie sich demokratisieren. Dann muss die kurdische Frage auf demokratische Weise gelöst und die türkisch-kurdische Geschwisterlichkeit wiederhergestellt werden. Allein dadurch kann im gesamten Land ein freier und gemeinsamer Wille geschaffen werden.“

Der kurdische Frühling und die internationalen Mächte
Die Volksaufstände von Tunesien bis Syrien haben natürlich auch in Kurdistan ihre Auswirkungen gezeigt. In einer Hinsicht unterscheidet sich dort jedoch die Sachlage. Die kurdische Opposition hat mit dem seit dem 15. August 1984 anhaltenden Guerillakrieg und der Volksbewegung in Nordkurdistan/Türkei andere Wege einzuschlagen versucht. Allerdings beschränkt sich die politische kurdische Bewegung nicht allein auf den Norden. In Südkurdistan/Irak hat der Widerstand die Anerkennung eines kurdischen Status mit sich gebracht. In Ostkurdistan/Iran bauen die Kurden ihre politische Organisierung unter dem Dach der PJAK [Partei für ein freies Leben in Kurdistan] und in Westkurdistan/Syrien unter dem der PYD [Partei der Demokratischen Einheit] erfolgreich weiter aus. Sie sind in der Lage, Millionen Menschen auf die Straße zu mobilisieren, ihnen ist es gelungen, in der legalen politischen Arena eine Repräsentanz zu schaffen, und sie leisten weiterhin bewaffneten Widerstand. Aufgrund dieser Besonderheiten haben sie stets die Fähigkeit bewahrt, sich weder in den Dienst der globalen herrschenden Mächte wie der USA oder der EU noch auf die Seite der reaktionären Vertreter des Status quo wie der Baath-Regime oder der Kemalis­ten stellen zu müssen. Die kurdische Bewegung hat stets die These verteidigt, dass die Völker in der Lage seien, durch ihre eigene Dynamik den demokratischen Wandel herbeizuführen. Und deshalb verteidigt sie nicht allein die Selbstorganisierung des kurdischen Volkes, sondern auch eine gemeinsame konföderale Organisierung mit den arabischen, türkischen und persischen Völkern. Und vermutlich weil die kurdische Bewegung diese politische Linie vertritt, haben die internationalen Medien und die Weltpolitik nicht sehen wollen, dass diese Bewegung in der Woche um Newroz in der Lage war, Millionen Menschen in Bewegung zu setzen. Dennoch setzt das kurdische Volk seinen Widerstand auf jeder Ebene weiter fort.

Die Nah-/Mittelost-Analyse des PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan
Die grundlegenden Perspektiven dieser Politik fasst der Gründer und Vorsitzende der PKK, Abdullah Öcalan, in seiner Verteidigungsschrift „Zivilisationskrise im Mittleren Osten und die Lösung der Demokratischen Zivilisation“ zusammen. Seine Lösungsvorschläge lauten:
Der Dachverband der kulturellen Ganzheit sollte als Konföderation Demokratischer Nationen des Mittleren Ostens errichtet werden.
Die von der Demokratischen Konföderation zur Grundlage genommene Gesellschaft ist die ökonomische und ökologische Gesellschaft.
Die Beziehung zwischen der Demokratischen Konföderation und den Nationalstaaten ist weder durch einen Krieg bis zum bitteren Ende noch durch gegenseitige Assimilierung gekennzeichnet, sondern vielmehr durch die Akzeptanz der gegenseitigen Legitimität und die friedliche Koexistenz.
Der Demokratische Konföderalismus bietet eine Lösungsmöglichkeit, um die immer noch anhaltenden und auf historisch-gesellschaftliche Ungerechtigkeiten zurückzuführenden Kriege, Auseinandersetzungen und Spannungen zu beseitigen. Wenn diese Lösungsmöglichkeit in irgendeinem Konflikt der Region realisiert wird, könnte das einen Dominoeffekt in der gesamten Region in Gang setzen. Deshalb liegt die Zukunft der Region im Demokratischen Konföderalismus.
Die anti-systemischen Bewegungen müssen eine Neubewertung der Lage vornehmen und sich einer Selbstreflexion unterziehen. Wenn irgendwo die gesellschaftlichen Widersprüche ihren Gipfelpunkt erreicht haben und diese Bewegungen dennoch keine Lösungen finden können, dann mag dort zwar das System zusammenbrechen, aber die Probleme bleiben weiterhin ungelöst.
Die antikapitalistischen ideologischen und politischen Bewegungen müssen in ihren soziologischen Analysen über die positivistische Soziologie hinausgehen. Ohne eine tiefgehende Auseinandersetzung mit dem kulturellen Erbe der Region und mit der Loslösung von der hierarchischen, herrschaftsorientieren und staatsfixierten Mentalität, die eng mit eben diesem Erbe verbunden ist, kann es keine Demokratisierung geben.
Wie auch woanders auf der Welt werden ebenfalls im Mittleren Osten kurz-, mittel- und langfristig die alternativen Lebensformen durch ihr Organisations- und Aktionsverständnis (Strategie) und dessen Anwendung (Taktik) die in einer strukturellen Krise befindliche kapitalistische Moderne überwinden. Die Werte der demokratischen Moderne werden in das neue Zeitalter führen und dort an Bedeutung gewinnen.

Kurdistan Report Nr. 161 Mai/Juni 2012

Schreibe einen Kommentar