Der Dreißigjährige Krieg des Mittleren Ostens

Der Journalist Rauf Karakocan vergleicht die gegenwärtige Konfliktsituation im Mittleren Osten mit dem Dreißigjährigen Krieg in Europa und erklärt, weshalb gerade im Falle von Katar der Konflikt eine neue Ebene erreicht. Zum Schluss weist er am Beispiel des kurdischen dritten Weges Perspektiven für die Überwindung des “Dreißigjährigen Krieges des Mittleren Ostens” auf, 10.07.2017

Der Dreißigjährige Krieg begann als Religionskrieg und entwickelte sich zu einem Hegemonialkrieg um die Vorherrschaft im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation und anderen Teilen Europas. Er fand schließlich sein Ende in der Gründung des europäischen Staatensystems. Es ist die Rede vom Dreißigjährigen Krieg, der zwischen 1618 und 1648 den europäischen Kontinent in Angst und Schrecken versetzte. Mit dem Westfälischen Frieden, der den Endpunkt dieses Krieges markierte, hatte Europa eine neue politische Ordnung. Dessen Grundlage sollte der Nationalstaat in seiner Reinform sein. Ludwig XIV. brachte als einer der Sieger des Dreißigjährigen Krieges das Wesen dieses neuen Gesellschaftsmodells mit folgenden Worten auf den Punkt: „L´État, cèst moi“ (Der Staat, das bin ich!). Der absolutistische Staat beherrschte fortan Europa.

Im Mittleren Osten breitet sich derzeit auch ein Konflikt aus, der in seinem Wesen sehr an den Dreißigjährigen Krieg Europas erinnert. Über lange Jahre hielt ein Konflikt die Region in Atem, der sich entlang der schiitisch-sunnitischen Trennungslinie entwickelte. Doch mittlerweile, und das zeigt die Krise um Katar, hat dieser ehemals religiöse Konflikt seinen Charakter verändert. Wir haben es mittlerweile mit einen Hegemonialkrieg im Mittleren Osten zu tun, der sich nicht mehr bloß als Machtkampf zwischen einer schiitischen und einer sunnitischen Achse erklären lässt.

Warum Katar? Und warum gerade jetzt?

Der Islamische Staat (IS) ist in großen Teilen geschlagen und stellt keine ernstzunehmende Gefahr mehr in der Region dar. Es wundert daher nicht, dass die Machtzentren sich längst in einen Konflikt um die persönliche Vormachtstellung begeben haben. Die USA, Europa, Russland, der Iran und andere Akteure versuchen derzeit ihren Einflussbereich im Mittleren Osten auszuweiten. So treffen die wichtigen Machtzentren kurz vor Ende der IS-Operationen in Mossul und Rakka nun urplötzlich in Katar aufeinander.

Katar wurde hierbei nicht rein zufällig ausgewählt. Es handelt sich immerhin um eines der reichsten Länder dieser Welt. Wegen seines Gas- und Erdölvorkommens hat Katar zudem sich selbst zu einem wichtigen Machtzentrum entwickelt. Zwar verfügt der Wüstenstaat kaum selbst über militärische Schlagkraft und der allergrößte Teil der Bewohner des Landes verfügt über eine ausländische Herkunft, doch das hält die Führung des Landes nicht davon ab, sich auf der Bühne der internationalen Politik selbstbewusst zu zeigen. Denn das Land entwickelt durch seine Auslandsinvestitionen und sein Bankwesen ebenso große Wirkungskraft nach außen, wie durch seine Mediendomäne in Form von Al-Jazeera, die in der ganzen arabischen Welt und darüber hinaus Menschen erreicht. Die Präsenz von US-amerikanischen Soldaten in Katar wird ebenso als Selbstschutzfaktor betrachtet, wie die Eröffnung einer türkischen Militärbasis innerhalb der Staatsgrenzen. Mit diesen Sicherheiten im Rücken hat Katar in den letzten Jahren verstärkt durch die Unterstützung verschiedener islamistischer Kräfte in der Region versucht, seinen eigenen Einfluss zu stärken.

Nun mögen die angekündigten Sanktionen von Saudi-Arabien, Bahrain, den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) und Ägypten gegen Katar wie eine überraschende Entwicklung wirken. Doch stecken hinter diesem Schritt schon seit langem schwelende Konflikte. Diese Konflikte gehen einerseits auf die Beziehungen zwischen Katar und dem Iran zurück. Andererseits störten sich Saudi-Arabien und auch Israel an der Unterstützung der Hamas. Auch der ägyptische Präsident al-Sisi stört sich an dem Rückhalt für die Muslimbrüder durch das katarische Herrscherhaus. Die finanziellen Hilfen für dschihadistische Gruppierungen in Syrien durch den Wüstenstaat brachten dann gewissermaßen das Fass zum Überlaufen.

Die zwei Kriegsbarone Türkei & Katar

Der Hauptgrund für die Sanktionen gegen Katar liegt darin begründet, dass das Land diplomatische Beziehungen und einen außenpolitischen Kurs verfolgte, der den Gepflogenheiten des westlichen Lagers zuwider lief. So versuchte man beispielsweise gemeinsam mit der Türkei in Syrien durch die Unterstützung bewaffneter Gruppierungen eine eigene regionale Politik zu entwickeln. Das Zusammenbringen der Freien Syrischen Armee (FSA) oder die Bildung der sog. Roj Peshmerga, die sich aus Geflüchteten aus Rojava zusammensetzt und als vermeintliche Alternative zur YPG gegründet wurde, sind Beispiele für die paramilitärische Einheiten, die stark unter der Kontrolle von Katar und der Türkei standen.

Der Charakter des syrischen Bürgerkriegs entwickelte sich allerdings derart, dass die Widersprüche und die Auseinandersetzungen sich gemeinsam Hand in Hand entwickelten. Die Kräfteverhältnisse änderten sich fast täglich, wodurch der Freund von gestern schnell zum Feind von morgen werden konnte. Die stetig wachsende Gewaltspirale in Syrien hat viel mit diesem Charakter des Krieges zu tun.

Wenn wir an dieser Stelle nochmal zu unserem anfänglichen Vergleich mit dem Dreißigjährigen Krieg zurückkommen wollen: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation des Mittleren Ostens stellte das Osmanische Reich dar. Die katholischen und protestantischen Fürstentümer aus jener Zeit sind die Nationalstaaten, die sich aus dem Niedergang des Osmanischen Reiches heraus gründeten. Der katholisch-protestantische Krieg hingegen wird in unserem Vergleich durch den sunnitisch-schiitischen Konflikt dargestellt. Durch diese Parallelen wirkt die aktuelle Lage im Mittleren Osten wie eine aktuelle Fassung eines 400 Jahre alten Konflikts in Westeuropa.

Durch die inneren Dynamiken und die äußeren Interventionen hat sich der Mittlere Osten in eine Phase der Auflösung bestehender nationalstaatlicher Strukturen begeben. Mit dieser Auflösungserscheinung einher kam es zum offenen Konflikt der religiösen Gruppen, die zuvor mit Zwang unter einem staatlichen Dach gehalten wurden. Die Katarkrise stellt nun eine neue Etappe dieses tiefgreifenden Konflikts dar. Selbst wenn in Katar – noch –  kein offener Krieg geführt wird, so greifen die Auswirkungen des Konflikts bereits auf die Türkei und den Iran über. Wir haben also eine Situation, in welcher die ethnischen und vor allem religiösen Konflikte im Mittleren Osten nur die öffentlich sichtbare Seite der Medaille darstellen. Die andere, nicht auf den ersten Blick erkennbare Seite der Medaille stellt der Krieg um die hegemoniale Vormachtstellung der Machtzentren dar. Katar ist hierfür der offenkundige Beweis.

Ist das tatsächliche Ziel der Iran?

Die Konfliktsituation um Katar kann ohne die Rolle des Irans nicht richtig verstanden werden. Denn der iranische Staat steht im Zentrum dieser Entwicklung. Der schiitischen Regionalmacht ist es im Laufe der letzten Jahre äußerst erfolgreich gelungen, ihren Einfluss im Mittleren Osten Schritt für Schritt zu vergrößern. Die arabischen Golfstaaten, allen voran Saudi-Arabien, verfolgen dies mit großem Unbehagen. Doch der Iran ist noch lange nicht an seinem Ziel angelangt. Die Erfolge der schiitischen Hashd al-Shaabi Miliz gegen den IS im Irak sollen beispielsweise mit einem geplanten Vorrücken des syrischen Heers derart zusammengeführt werden, dass sich dem Iran über diese beiden Gruppen einen Korridor bis ins Mittelmeer eröffnet. Aufgrund der zusätzlichen guten Beziehungen, die Teheran zu Katar pflegt, und aufgrund des Aufwiegelns der schiitischen Bevölkerungsmehrheit in Bahrain gegen das sunnitische Herrscherhaus fühlte sich Saudi-Arabien durch seinen traditionellen Erzfeind so sehr in die Ecke gedrängt, dass es handeln musste. Der Iran ist seinerseits auf den Konflikt mit Saudi-Arabien gut vorbereitet und hat in der Region über seine Grenzen hinaus paramilitärische Einheiten geschaffen, die unter seiner Kontrolle stehen. Dieser Konflikt spiegelt sowohl den Religions- als auch den Hegemonialkrieg im Mittleren Osten wieder.

Gegen das Anwachsen des iranischen Einflusses sind nun die USA, Israel und Saudi-Arabien zusammengerückt und stellen die übrigen Staaten der Region vor die Entscheidung, ihre Position klar zu machen. Katar ist hierbei das erste Opfer. Die Wahl, vor welcher der Wüstenstaat steht, lautet wie folgt: Entweder aufgeben und von der bisherigen Außenpolitik abkehren oder sich noch weiter in die Arme des Irans und der Türkei begeben, in der Hoffnung so genug Luft zum Atmen zu bekommen. Wenn auf dem Weg der Isolation des Irans die Türkei in naher Zukunft auch vor eine ähnliche Wahl gestellt wird, dürfen wir uns nicht wundern.

Ein Korridor für das katarische Gas

Denn die Türkei war der erste Staat, der sich nach Auftreten der Katarkrise mit einer Stellungnahme auf die Seite des kleinen Wüstenstaates gestellt hat. Wir müssen uns vielleicht noch einmal anschauen, was die Türkei zu einer solchen Positionierung bewegt hat: Zunächst einmal hatte die Intervention der Türkei in Syrien wohl nicht alleine den Zweck, die kurdischen Kantone voneinander zu trennen. Auch die Möglichkeit der Errichtung eines Korridors für katarisches Gas spielte in diese Entscheidung mit hinein.

Die Beziehungen zwischen der Türkei und Katar müssen in diesem Rahmen behandelt und bewertet werden. Die Gemeinsamkeit zwischen diesen beiden Staaten rührt nicht nur aus der wirtschaftlichen Zusammenarbeit her. Die beiden Länder bilden eine Einheit, die Terrororganisationen wie den IS, die Al-Nusra Front, die Hamas und die Muslimbrüder finanziert und logistisch unterstützt. Während die Türkei gestützt auf dem Geld von Katar ihre Potentiale ausschöpft, versucht Katar gestützt auf die Türkei seine Sicherheit zu gewährleisten. Die Worte Ludwig XIV. haben sich in die Worte „Der türkische Staat, das ist Erdoğan“ verwandelt. Der Diskurs „Eine Religion, ein König, eine Justiz“ ist als Hauptgrund für den Dreißigjährigen Krieg bekannt. Die R4bia (Emblem mit einer schwarzen Hand mit vier ausgestreckten Fingern) des Diktators ist Erdoğan bzw. er ähnelt dem sehr. Die Formel nach einem Staat, einer Nation, einer Flagge und einem Vaterland wurde an sich zum Slogan gemacht. Mit dem Monismus wird versucht, alle Unterschiede zu vernichten. Ethnische und religiöse Minderheiten, vor allem die Kurden und Aleviten, werden verleugnet. Mit der schrittweisen Ausschaltung der gesamten Opposition wird versucht eine „absolute Herrschaft“ zu errichten.

Während versucht wird, im Mittleren Osten ein neues Gleichgewicht und eine neue Aufteilung zu etablieren, werden die Entwicklungen in Erdoğans Türkei anders interpretiert. Es gibt einen Rückfall dahingehend, die neo-osmanischen Träume wiederzubeleben. Die unmoralische Politik, alle möglichen Kreise für das eigene Interesse auszunutzen, wird als Kunstfertigkeit betrachtet. Es wird gemäß dem Verständnis „Für die Macht ist alles erlaubt“ gehandelt. Um zu einem regionalen Akteur zu werden, hat die Türkei sich in einen Terrorstaat verwandelt. Mit dieser Mentalität unterstützt sie den IS, handelt auf Kosten Katars und trägt mit der Nutzung des R4bia-Zeichens die Mentalität der Muslimbrüder auf die Regierungsebene der Türkei. Die Kurden werden angefeindet und Rojava wird angegriffen.

Die Türkei hat im sogenannten Dritten Weltkrieg ihren eigenen Kurs eingeschlagen. Es ist nicht möglich, dass sie sich in der Region einen Weg bahnen wird, da sie in vielen Punkten gegen Europa und Amerika steht. Sie hat jedes Verbrechen zu verantworten. Zudem hat sie eine fundamentalistische und nationalistische Mentalität. Die Wahrscheinlichkeit für die Türkei in diesem Krieg auf der Verliererseite zu stehen, ist sehr hoch. Wenn Voltaire am Ende dieses Kriegs gelebt hätte, würde er wohl die Aussage treffen: „es ist weder das Neo-Osmanentum, die Erdoğan-Diktatur, noch die Rabia geblieben“.

Der dritte Weg der Kurden

Die Kurden hingegen ist es gelungen, in dieser Gemengelage die Rolle des entscheidenden Akteurs einzunehmen.  Denn anstatt sich für eine Seite zu entscheiden, haben sie einen eigenen Weg, nämlich den dritten Weg gewählt und verinnerlicht. Sie setzen auf ihre eigene Ideen für eine Lösung des kriegerischen Konfliktes sowie den Ansatz der Selbstverteidigung, und bleiben zugleich fern von religiösen und ethnischen Auseinandersetzungen. Sie wenden ein Verwaltungsmodell an, in dem sich alle Gesellschaftskreise selbst ausdrücken können und ein Mitspracherecht an allen Entscheidungen haben. Die USA und Russland sind sich der Rolle der Kurden bewusst, und treten auf dieser Grundlage mit ihnen in Beziehung. Die Kurden sind gegenwärtig aktive Kraft in der Region und werden den Ausgang des Krieges maßgeblich mitbestimmen. Und je bestimmender die Rolle der Kurden sein wird, desto größer wird die Chance sein, dass aus dem sog. 3. Weltkrieg der freie Wille der Völker und die demokratische Gesellschaft hervortreten werden. Denn das ist das Lösungsprojekt der Kurden, das den Westfälischen Frieden des Mittleren Ostens markieren wird. Andere blutige und komplizierte Lösungspräferenzen würden für die Gesellschaften der Region nur eine weitere Niederlage bedeuten.

Im Original ist die Kolumne am 08.07.2017 unter dem Titel “Otuz yıl savaşlarının Ortadoğu versiyonu” in der Tageszeitung Yeni Özgür Politika erschienen.