Der freie Gedanke ist immer noch der Repression ausgesetzt

vedat_kursunMit der Forderung nach einer Strafe von 525 Jahre Gefängnis wurde Vedat Kursun freigelassen
Erdogan Altan, Journalist

Seine Verhaftung hat die Bedeutung der kurdischen Sprache für den türkischen Staat offengelegt: Gemeint ist Vedat Kursun1, ehemaliger Chefredakteur der kurdischsprachigen Zeitung Azadiya Welat2. Nach 3 Jahren und 7 Monaten Haft wurde er vergangene Woche entlassen. Kursun sprach über das neuen „Justizpaket“, das verschiedene „Reformen“ beinhaltete und vor kurzer Zeit vom türkischen Parlament verabschiedet wurde, über freie Meinungsäußerung und die Repression gegen die Medien. Kursun erwähnte, dass sich dieses Problem nicht lösen wird, wenn „nur ein paar“ JournalistInnen aus der Haft entlassen werden, sich aber die Mentalität nicht ändert. 

„Der Generalstabchef machte uns zur Zielscheibe“
Die heute als Tageszeitung erscheinende Azadiya Welat begann in der jetzigen Form am 15. August 2006. „Damals setzte die Azadiya Welat die Kurdinnen und Kurden in eine große Erwartung“, so Kursun und fügte hinzu, dass viele der Meinung waren, dass die Zeitung nicht überlebensfähig wäre. Dies stellte sich jedoch als Irrtum heraus: „Unsere MitarbeiterInnen haben einen enorm großen Fleiß aufgebracht. Dank ihnen, können wir seit 6 Jahren ununterbrochen arbeiten. Dies zeigt, wie sehr sich geirrt wurde.
Der damalige türkische Generalstabschef Yasar Büyükanit sagte, dass in Amed (Diyarbakir) eine kurdischsprachige Zeitung von ‚der Terrororganisation‘ publiziert wird. Von dem Zeitpunkt an waren wir einer starken Repression ausgesetzt. Weiterhin waren da noch die Gesetze der AKP, die unser Publizieren erschwerten. Der damalige Justizminister Cemil Çiçek erklärte zu jeder Frage die diese Gesetze betrafen, dass man sich die Ergebnisse anschauen werde, wenn sie verabschiedet worden sind. Die JournalistInnen und PolitikerInnen in den türkischen Gefängnissen sind ein Produkt dieser Gesetze.“

„Eine Hinhaltetaktik“
Kursun erklärte, dass Staatspräsident und Außenminister bei Auslandsreisen ein Exemplar der Azadiya Welat „zum Vorzeigen“ mitnehmen würden, um der Kritik auszuweichen und der internationalen Gemeinschaft erklären zu können, „dass die Kurden auf Kurdisch eine Zeitung publizieren“. Man sei bestrebt zu beweisen, dass es keine Repression gibt. „Doch zusammen mit der Herausgabe der kurdischen Zeitung stiegen auch die Repressalien“, erklärte Kursun, „und jetzt wollen sie erklären, dass es keinerlei Hindernisse für die kurdische Sprache mehr gebe. Aber auf der anderen Seite werden Parknamen wie ‚Cegerxwîn‘ und ‚Merwanî‘ verboten, weil sie Buchstaben aus dem kurdischen Alphabet (gemeint sind die Buchstaben X, W, Q) enthalten. Hinhaltetaktik nennt man das was sie machen.“

„Mit der Haftentlassung will man uns zum Schweigen bringen“
Das türkische Parlament verabschiedete das „3. Justizpaket“ Anfang Juli 2012. Kursun sprach auch über die neuen Gesetze im Land: „Diese neuen Gesetze sind ebenfalls Strategien der Hinhaltetaktik, ähnlich der ‚Kindergesetze‘, mit denen man ein paar Kinder von mehreren Hundert aus der Haft entlassen hat. Es ist bekannt, dass die gleiche Regierung, die diese Kinder entlassen hat, diese auch verhaftete! Ein sehr großer Teil von ihnen ist immer noch in Haft. Das neue Justizpaket trägt die gleichen Züge wie diese Gesetze. Es ist ganz offen, dass dies nicht zu einer Lösung führen wird. Die Entlassung von ‚ein paar‘ JournalistInnen wird nicht zur freien Meinungsäußerung oder dergleichen führen. Das ist eine Frage der Mentalität. Und die hat sich nicht geändert! Solange die Mentalität sich nicht ändert, kann weder von Meinungsäußerung noch von Humanität gesprochen werden.“

Quelle: DIHA, 02.08.2012, ISKU

Fußnoten:
1 Vedat Kursun, der zwischen Februar 2007 und Juni 2008 Chefredakteur der Zeitung Azadiya Welat (kurdisch: Freie Heimat) gewesen war, wurde im Jahr 2009 verhaftet. Ihm wurden 2010 von dem 5. Strafgericht in Amed (Diyarbakir) wegen der Vorwürfe „Propaganda für eine Organisation“ in 103 Fällen und „Organisationsmitgliedschaft“ insgesamt 525 Jahre Gefängnis gefordert. Danach wurde er zu 166 Jahren und 6 Monaten Gefängnis verurteilt. Der Oberste Gerichtshof legte Einspruch ein, wodurch dann die Strafe auf 10 Jahre und 5 Monate reduziert wurde. Nach 3 Jahren und 7 Monaten Haft wurde er am 25. Juli 2012 entlassen.

2 Azadiya Welat (kurdisch: Freie Heimat) steht in der Tradition der einmal in der Woche erschienenen Zeitung Welat, die am 22. Februar 1992 ihre Arbeit aufnahm. Danach erschien sie als Wochenzeitung unter wechselnden Namen, weil sie mehrfach mit Publikationsverboten belegt worden war. Die Redaktion befand sich bis 2003 in Istanbul, bevor sie nach Amed (Diyarbakir) wechselte und ab dann, seit dem 15. August 2006, täglich erscheint. Bis heute wurde sie schon mehrmals für bis zu einen Monat geschlossen. Der Vorwurf war stets der gleiche: „Werbung für eine verbotene Organisation“. Mehr als acht verantwortliche Chefredakteure wurden aus gleichen Gründen mit Gefängnis bestraft und mussten ersetzt werden. Einer der Chefredakteure, Ozan Kilic, wurde von einem Gericht in Amed (Diyarbakir) im Februar 2010 zu 21 Jahren Gefängnis verurteilt.
Zurzeit sind 13 von den ca. 100 JournalistInnen der Azadiya Welat in türkischen Gefängnissen. Von diesen 13 wurden neun JournalistInnen bereits verurteilt, bei zwei laufen die Verfahren noch und zwei weitere warten noch auf die Anklageschriften.

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