Der Krieg des türkischen Staates gegen die kurdische Zivilbevölkerung: Das neue Angriffsziel ist die Bevölkerung von Lice

Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit, 10.03.2017

Seit dem 5. März wurde über 18 Dörfer der Kreisstadt Lice bei Amed (Diyarbakir) die Ausgangssperre verhängt. Das türkische Militär führt dort eine umfangreiche Operation durch. Nach offiziellen Angaben des Gouverneurs sind 7000 Soldaten, 600 Spezialeinheiten sowie 559 Dorfschützer im Einsatz. Das Operationsgebiet umfasst ca. eine 30 km breite Region, das zwischen den Kreisstädten Lice und Genc liegt. Nach Informationen der Nachrichtenagentur Firatnews wurden gestern 100 gepanzerte Fahrzeuge ins Operationsgebiet transportiert. Die Operation wird auch aus der Luft unterstützt.

Die Zivilbevölkerung in der Region ist äußerst besorgt, weil auch hier mit Ausrufung der Ausgangssperre Telefon- und Internetverbindungen gekappt worden sind. Es dringen deshalb keine Informationen über die Geschehnisse vor Ort nach außen. Staatliche Stellen sprachen gestern von mehreren getöteten PKK-Kämpfern. Diese Angabe ist bislang von unabhängigen Quellen nicht bestätigt, weil eine Kontaktsperre herrscht.

Der türkische Staat setzt seit einiger Zeit auf punktuelle Militäroperationen, anstelle von zeitgleichen Militäroperationen im gesamten kurdischen Gebiet. Es werden bestimmte Dörfer zu militärischen Zonen erklärt, mehrtägige Ausgangssperren verhängt und die Militäraktivitäten dann auf das betroffene Gebiet konzentriert.

Erst vor einigen Wochen geriet der türkische Staat aufgrund seiner Militärangriffe auf das Dorf Xerabê Bava (Kuruköy) bei Nisêbîn/Nusaybin (Provinz Mêrdîn/Mardin) in die Schlagzeilen. Xerabê Bava wurde am 11. Februar 2017 vom Militär und der Gendarmarie umzingelt. Anschließend wurde eine  Ein- und Ausgangssperre über das Dorf verhängt und die Kommunikationsmöglichkeiten der Dorfbewohner unterbunden.  Nationale und internationale Presse berichtete über ernsthafte Menschenrechtsverletzungen. Während der Belagerung, die 17 Tage anhielt, wurden insgesamt 5 Menschen getötet, dutzende Menschen sowohl im Dorf als auch in Polizeigewahrsam gefoltert, viele Häuser wurden gezielt zerstört. Vielfach wurde diese Form der Angriffe des türkischen Staates als „Racheaktionen“ an der kurdischen Bevölkerung gewertet.

Die Bewohner von Xerabê Bava berichten

Letztes Wochenende machte sich eine Delegation bestehend aus HDP, DBP und DTK in das Dorf um über die Dimension der Zerstörung zu recherchieren. Die Journalisten Nurcan Baysal, die ebenfalls mit der Delegation unterwegs war, schrieb zu dieser Reise:

„Wir zunächst in das Dorf Xerabê Bava. Der Haupteinfahrt ist gesperrt, daher fahren wir einen Umweg über andere umliegende Dörfer, um in das Dorf zu gelangen. Von außen betrachtet sieht die Zerstörung gering aus. Es gibt lediglich ein paar niedergebrannte Häuser. Doch als wir die äußerlich intakten Häuser von innen betrachten, wird das Ausmaß der Zerstörung deutlicher.

Wir halten vor dem Haus von Aykut Abdi, dem alten Mann, der nach massiver Foltereinwirkung noch festgenommen wurde. Sein Haus ist komplett verbrannt. Weil es sich um einen Bau aus Stein handelt, macht sich die Verbrennung im Inneren des Hauses bemerkbar. Die Innenausstattung ist komplett zu Asche verbrannt.  Viele Einschusslöcher sind zu sehen. Die Ehefrau von Abdi Aykut begrüßt uns mit Tränen in den Augen. Sie sagt auf Kurdisch ‚Was haben sie mit uns gemacht?‘ Wir durchlaufen die Wohnung, die Räume sind vollständig verbrannt. Kühlschrank, Herd alles niedergebrannt. Die Küche ist voller Einschlaglöcher.

Eine Frau fängt an zu erzählen: ‚Sechs Hubschrauber kamen und bombardierten uns. Die Einheiten haben uns sehr erniedrigend behandelt. Viele von ihnen sprachen kurdisch. Wir haben des Öfteren Soldaten hier bei uns gesehen, aber diese Art von Folterungen haben wir zuvor nicht erlebt. Die haben alle Männer im Dorf auf dem Dorfplatz versammelt und gefoltert. Die töteten all unsere Tiere. Unsere Kühe erstickten an dem Feuer, die sie in unsere Häuser legten. Sie haben uns alle eingesperrt, quasi inhaftiert. Sie aber haben sich frei bewegt, kamen in die Häuser, um uns zu beschimpfen und zu beleidigen. Es war brutal.‘

Der Sohn von Abdi Aykut erzählt uns, dass er noch immer keine Nachricht von seinem Vater hat. Dem Vater wurden die Zähne eingeschlagen, ein Ohr haben sie ihm angerissen. All diese Folter wurde im medizinischen Bericht verheimlicht. Seine Schwester, die all das gesehen hat, würde seitdem nicht mehr sprechen, erzählt er uns.“

Zum Schluss ihres Artikels lässt Baysal eine Dorfbewohnerin berichten, wie die Soldaten mit den Leichnamen der fünf Personen umgingen, die sie zuvor in Xerabê Bava hingerichtet hatten:

„Sie haben die zerstückelten Leichen der fünf Getöteten auf den Dorfplatz gebracht. Diese haben sie mit einer Reinigungsbürste gewaschen. ‚Stellt dir vor‘, so die Dorfbewohnerin, ‚sie haben die Leichen mit einem Besen gewaschen.‘  Ist das nicht grausam, Menschen zu zerstückeln und ihren Leichen das anzutun?“

 

Der zitierte Artikel von Nurcan Baysal ist hier zu lesen (türkisch): http://t24.com.tr/yazarlar/nurcan-baysal/xerabe-bava-ve-talate-yikik-yanik-evler-parcalanmis-cenazeler,16707