Der Menschenrechtsdiskurs und Kurdistan

Meral Çiçek, 10.12.2016

Heute ist der Tag der Menschenrechte. Seit der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte am 10. Dezember 1948 durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen wird an diesem Tag mit verschiedenen Aktionen und Veranstaltungen auf die Lage der Menschenrechte aufmerksam gemacht.

Der Tag der Menschenrechte wird zum Anlass von Aktionen genommen und nicht etwa gefeiert, weil trotz der fast 70 Jahre seit der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte an den meisten Orten der Welt die Menschenrechte immer noch nur theoretisch existieren. So wie alle anderen Rechte und Freiheiten sind auch Menschenrechte von Staaten nicht “gegeben”, sondern von Gesellschaften durch Kampf gewonnen worden. Aus diesem Grund gehören sie zugleich zu den gemeinsamen Werten der Menschheit. Und deshalb müssen die Menschenrechte stets gemeinsam gegen Angriffe durch Staaten oder andere Kräfte verteidigt und bewahrt werden.

Während dem Verfassen dieser Kolumne habe ich im Internet mal “Türkei Menschenrechte” eingegeben und mir die Ergebnisse angeschaut. Zum größten Teil sind Ergebnisse erschienen, die nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 erstellt worden sind: “Türkei will Europäische Menschenrechtskonvention aussetzen”, “Türkei nach dem Putschversuch: Menschenrechte ernsthaft in Gefahr”, “Türkei verletzt Menschenrechte”, “Ausnahmezustand in der Türkei: Abschied von den Menschenrechten”… Des Weiteren treffe ich auf den kürzlich veröffentlichen Bericht von amnesty international mit dem Titel “Displaced and dispossessed: Sur residents’ right to return home”.

Ich bleibe beim letzten Satz der Zusammenfassung hängen: “Turkey is a party to a number of international and regional human rights treaties which requires it to respect people’s rights to freedom of movement, adequate housing and other economic and social rights, as well as provide effective remedies for victims of human rights violations.”

Internationale und regionale Menschenrechtsabkommen… Reisefreiheit, Wohnrechte, ökonomische und soziale Rechte… Ich denke an den vor einigen Tagen erneut festgenommenen Vater der zehnjährigen Cemile Çağırga, deren Leichnam während der Ausgangssperre in Cizre nach der Ermordung durch türkische Soldaten von ihren Eltern in die Kühltruhe gelegt worden war. Was mögen diese Begriffe wohl für ihn heißen? Welche Bedeutung hat das Wohnrecht für die Menschen, die in ihren Kellern in Cizre bei lebendigem Leib vom türkischen Militär angezündet worden sind? Was ist mit den Menschen aus Şırnak, deren Häuser und hiermit ihre gesamte Vergangenheit zerstört worden ist? Nachdem sie sich geweigert hatten, ihre Heimat zu verlassen, wurden auch ihre Zelte zerstört. Was für eine Bedeutung haben ökonomische und soziale Rechte für diese Menschen?

Was bedeuten diese Abkommen, diese Rechte für ein Volk, das sich in der Beißzange des Genozids befindet? Ist der Menschenrechtsdiskurs für ein Volk, dessen Existenz geleugnet wird, das massakriert wird und nicht einmal das Recht auf Leben besitzt, nicht zu “light”, zu liberal, zu surreal?

Denn aus Sicht des Kolonialisten sind sie noch nicht einmal Menschen. Nur weil sie Kurden sind, ist ihre Tötung legitim, ist es “zulässig”, sie vor Kameras zu foltern, sie mit Dutzenden Kugeln zu exekutieren, sie mit einem Seil an einen Panzer gebunden durch die Straßen zu zerren, sie in Kellern bei lebendigem Leib anzuzünden. Denn es sind Kurden und sie fordern ein würdevolles und freies Leben. Dieses Volk, das sich  ausgehend von einem völkermordenden Staat unter großer Gefahr befindet, leistet Widerstand, um seine Existenz zu schützen und seine Freiheit zu gewinnen. Es kämpft ums Überleben. Darum ging es im Widerstand für Selbstverwaltung.

Ist es vor diesem Hintergrund möglich, den genozidalen Krieg eines faschistischen Staates, der ein Volk eliminieren will, im Rahmen des Menschenrechtsdiskurses zu erläutern und zu verstehen? Ist es möglich, die Forderungen eines Volks, das ums Überleben kämpft, im Rahmen von Menschenrechten zu Ausdruck zu bringen? Natürlich sind die individuellen und kollektiven Menschenrechte des kurdischen Volks zu bewahren und zu verteidigen. Aber davor muss die Existenz, das Leben, die Freiheit, der Status des kurdischen Volks verteidigt werden. Die Menschenrechte sind daran gebunden. Ohne die Sicherstellung der Existenz, des Willens, der Freiheit und des Status des kurdischen Volks ist es nicht möglich, die Menschenrechte für die Kurden zu erfüllen. So, wie individuelle Rechte ohne kollektive Rechte keine Bedeutung haben, so können Grundrechte und Freiheiten eines Volks, dessen Existenz und Leben nicht sichergestellt worden sind, nicht garantiert werden.

Aus diesem Grund ist es nicht möglich, den Kampf und Widerstand des kurdischen Volks gegen den genozidalen Krieg von Faschismus im Rahmen des Menschenrechtsdiskurses zu fassen. In diesem Zusammenhang müssen wir uns fragen, welche Rolle dieser Diskurs bei der Liberalisierung von radikalem Kampf spielt. Der Bericht von amnesty international ist natürlich von Bedeutung, aber gegen die Massaker, Zerstörung und Vertreibung, über die jetzt ein Jahr später berichtet wird, wurde von Menschenrechtsorganisationen wie amnesty international oder Human Rights Watch nicht in dem Maße mobilisiert, wie es hätte möglich sein können. Sie haben nicht geschwiegen, aber auch nicht alle Kräfte mobilisiert, um die Massaker zu stoppen. Dies wiederum hat viel zu tun mit der liberalen Ideologie, unter deren Einfluss sich der Bereich des Kampfs für Menschenrechte momentan befindet.