Der Status quo ohne Kurden ist passé

haluk gergerWer die Kurden unterdrückt, ist auch selbst nie unabhängig geworden …
Haluk Gerger, Politikwissenschaftler aus Istanbul, im Gespräch

Im Mittleren Osten werden die Karten neu gemischt. Alte Übereinkünfte verlieren ihre Gültigkeit. Das wird auch damit belegt, dass die Kurden in Syrien Westkurdistan aufbauen. Während der Status quo beseitigt wird, geschieht es zum ersten Mal, dass ein Volk aktiv einwirkt. Die internationalen Mächte richten sich politisch neu aus, um die Volksrevolutionen zu manipulieren. Mit dem Autor und Akademiker Dr. Haluk Gerger sprachen die Journalisten Serdar Engin und Zana Kaya über die neuen Entwicklungen im Mittleren Osten und deren Folgen.

Der Mittlere Osten ist ja sehr lebhaft in den letzen Jahren, Stichworte sind der sogenannte arabische Frühling oder der mögliche Sturz von Regimes. Worauf führen Sie die Ereignisse der letzten Jahre zurück? Was sind deren soziopolitische und sozioökonomische Grundlagen?

Für die nahe Vergangenheit können wir feststellen, dass die arabische Welt seit dem Zweiten Weltkrieg im Hinblick auf gesellschaftliche Opposition und Widerstandsdynamik schon immer lebhaft war. Aus den Forderungen nach Unabhängigkeit und Verfügungsgewalt, die sich zuerst als Reaktion auf die osmanische Vorherrschaft gebildet und dann gegen die klassische westliche Kolonialisierung (Großbritannien, Frankreich) gerichtet hatten, entwickelten sich später in der Ära des Kalten Krieges Volksbewegungen gegen US-Hegemonie, zionistische Aggression und arabischen Verrat. Dann begann mit dem Baath- und dem Nasser-Regime [beides dominante Vertreter des arabischen Nationalismus] die Phase, in der die Volkbewegungen in den erstarkenden Staatskapitalismus der Nationalstaaten in der Region integriert und dadurch aber auch geschwächt wurden, weil sie einem Zersetzungsprozess ausgesetzt waren.

Dafür sind nicht die Protagonisten der heutigen arabischen Aufstände verantwortlich, sondern sie repräsentieren als Opfer dieser Begebenheiten die Suche nach Menschlichkeit. Beginnend mit dem Ersten Weltkrieg, im Abenteuer des langen Kampfes und Widerstandes, und besonders in den letzten 20–30 Jahren waren diese Menschen begraben, und nunmehr versuchen sie durch diesen Vorstoß zur Menschlichkeit zu gelangen. Es ist unzweifelhaft, dass die neue Phase unorganisiert, ohne Führung, ohne jede politische und ideologische Selbstsicherheit begann, und genau so wird Geschichte geschrieben; Revolutionen finden eben auf diese Art statt.

Alle – außer den Türken, die in ihrem Dämmerschlaf die Araber unterschätzen und meinen, aus denen werde doch nichts, und die jeglichen Segen vom Imperialismus erwarten – wissen aus den lokalen Quellen Bescheid. Der Funke des Widerstands entzündet sich zur Gänze aus der inneren Dynamik, unterstützt durch die Einflüsse der weltweiten Wirtschaftskrise.

Und der Imperialismus intervenierte erst dann, als der Prozess bereits begonnen hatte. Zuerst wurde versucht, Tunesien und Ägypten mit dem Rest der alten Regime eine Restauration aufzuzwingen. Nach der ersten Verwirrung wurde im zweiten Stadium wie in Libyen eine direkte Intervention begonnen und die Revolution sozusagen gestohlen. Jetzt in der dritten Phase, wie in Syrien zu beobachten, wird die demokratische Unzufriedenheit ausgenutzt, um die Bedingungen für einen Bürgerkrieg zu schaffen.

Wieso ist es so wichtig, ob es in Syrien zu einem Regimewechsel kommt oder auch nicht? Beruht diese Relevanz auf Syriens historischer Position im Mittleren Osten?

Ausgangspunkt einer Analyse über Syrien ist die Feststellung, dass dieses Land gemeinsam mit Ägypten und dem Irak das historische, politische, geistige Hirn des arabischen Mittleren Ostens darstellt. Zu bedenken ist auch, dass die Baath-Ideologie ebenfalls in diesem Land entstand. Das „große Syrien“ ist eine historische, politische und geografische Realität in der arabischen Welt und sein Einfluss ist auch damit zu erklären.

Zweitens befindet es sich in einer Position, in der eine Einigung mit dem zionistischen Staat Israel wegen eines territorialen Problems (Golan-Höhen) nicht möglich ist. Für die USA und den Westen hat eine Versöhnung mit (bzw. Unterwerfung unter) Israel die Bedeutung einer Vorbedingung für die Eingliederung der übrigen arabischen Staaten in die neue Ordnung.

Drittens ist Syrien für den Iran wichtiger Bestandteil eines sicheren Hinterlandes.

Viertens wäre ohne Syrien die Globalisierung der arabischen Welt nicht möglich, dieser Prozess könnte nicht vollendet werden. Obwohl die USA legal nicht befugt sind, einseitig das Regime auszutauschen oder zu intervenieren, muss während der Durchsetzung der eigenen Legitimität der [Transformations-]Prozess in Syrien bewältigt werden. Im Endeffekt ist die Unterstützung Syriens durch Russland und China mit deren Besorgnis darüber zu erklären, wie die rechtliche und strategische Struktur der neuen Weltordnung nach dem Zerfall der Sowjetunion gestaltet wurde. Das heißt, die Relevanz Syriens hat eine globale Dimension.

Was ist mit den syrieninternen Kräften? Welchen Einfluss wird diese Auseinandersetzung auf die Kurden, Araber, Assyrer, Armenier, Aleviten und Christen haben? Was kommt in Zukunft auf diese Volksgruppen zu?

Die von den Kolonialisten begründete Ordnung des Mittleren Ostens weist zwei für unser Thema wichtige Merkmale auf. Erstens die Spaltung der Araber sowie die Fragmentierung Syriens (ein künstliches Gebilde wie Jordanien), als hätte es diesen Staat nie gegeben, und noch dazu die Gründung von Staaten nur aus Arabern, in denen die Regierungen aus verfeindeten Stammes- und Clanmitgliedern gebildet werden und sich Mikronationalismus entwickelt. Zweitens, es wurden innerhalb der mit dem Lineal gezeichneten Grenzen verschiedene religiöse, kulturelle und ethnische Identitäten gedrosselt, damit wurden Widersprüche erzeugt. In einem solchen Zustand provozierter gegenseitiger Feindseligkeiten kann sich die chaotische Situation in zwei Richtungen entwickeln: Entweder werden sich diese Volksgruppen gegenseitig an die Gurgel gehen und die Unterdrücker können ihre Macht festigen, oder sie entwickeln im gemeinsamen Kampf Geschwisterlichkeit und zerbrechen die Fallen und sie können sich dann den Weg der Gleichheit und Freiheit selbst bahnen. Diese zweite Möglichkeit birgt eine tödliche Gefahr für die regionalen und die imperialistischen Mächte und sie werden sie mit allen Mitteln zu verhindern suchen.

Die Kurden in Syrien haben in einer Situation chaotischer Kämpfe in jenen Gebieten, in denen sie leben, auf friedliche Weise die Kontrolle übernommen. Sie haben erklärt, die Demokratische Autonomie etablieren und somit sich selbst regieren zu wollen. Welche Folgen kann dieser Ansatz nach sich ziehen?

Für eine umfassende Befreiung von Volksgruppen in der ganzen Region und dafür, dass auf dieser Grundlage ein neuer Mittlerer Osten etabliert wird, können Palästinenser und Kurden eine wichtige Rolle spielen. Diese beiden Völker wurden von den grausamen Regionalmächten mithilfe von deren Verbündeten versklavt. In Wirklichkeit wurden sie von den anderen Völkern der Region in ihren Freiheitsbestrebungen alleingelassen. Die Palästinenser wurden als Spielball der zerstörerischen Regime behandelt, und sie wurden in ein Mittel der Manipulation und der Legitimität von Gewalt verwandelt. Die Kurden waren ein offenes Ziel der Verfolgung für die Regime, die herrschenden Völker, vor allem für Türken, Araber, Iraner und Imperialisten. Der Beginn des Widerstands dieser beiden Völker liegt eigentlich lange zurück, länger als der heutige arabische Frühling.

Wer die Kurden unterdrückt, ist auch selbst nie unabhängig geworden, weil in Chauvinismus und Militarismus gefangen. Diese Realität wird vielfach gar nicht wahrgenommen. Der Zusammenhang zwischen der Freiheit der Kurden und der Befreiung anderer Völker wird nicht richtig analysiert. Aus dieser Perspektive heraus lässt sich feststellen, dass die Widerstandsbewegung der Kurden die wichtigste demokratische Dynamik der Region darstellt. Wenn heute Kurden zu ihrem Recht kommen, dann bedeutet das für die anderen Völker mehr Demokratie und Freiheitsrechte.

Objektiv gesehen gewinnt jede Volksgruppe, jede ethnische Minderheit oder kulturelle Identität mehr Freiheit, wenn die Kurden in ihren Freiheitsbestrebungen ein Stück Weges zurücklegen. Der Freiheitskampf der Kurden hat nicht nur im rechtlichen Sinne eine Bedeutung, sondern in jedem Lebensbereich, insbesondere in Bezug auf die soziale Entwicklung, die geistige Konzeption, den politischen und wirtschaftlichen Fortschritt; und dieser Kampf, dessen Einfluss nicht so leicht auszumachen ist, spielt seine Rolle im gesellschaftlichen Leben. Den hegemonialen Volksgruppen kommt dieser Freiheitskampf auch dann zugute, wenn sie keine aktive Hilfe leis­ten und ganz im Gegenteil die Abwehr der Freiheitsbestrebungen der Kurden aktiv unterstützen. Diese Dimension der kurdischen Freiheitsbewegung hat eine unermessliche Bedeutung. Jede grausame Waffe, die sich gegen Kurden richtet, richtet sich auch gegen die hegemonialen Volksgruppen, und umgekehrt kommt diesen auch jeder Vorteil für die Kurden in rechtlicher und demokratischer Hinsicht zugute.

Nun stecken die Kurden in Syrien in einem Übergangsstadium von den individuellen Rechten hin zum gesellschaftlichen Status. Das bedeutet gleichzeitig einen wichtigen Schritt für das organische Zusammenfinden des geteilten Kurdistan. Auf dieser Grundlage muss die nationale Gleichheit definiert werden, und damit wird ein großer Schritt für die Geschwisterlichkeit von Völkern und für den neuen Mittleren Osten gemacht. Das Ende der grausamen Regime ist der Beginn dieser Ära. Endlich wird die kurdische Befreiung wahr als Schritt der Freiheit und Gleichheit für die ethnische, religiöse, konfessionelle Vielfalt, und vor allem wird dadurch den imperialistischen Interventionen der Boden entzogen und die Region wird auch so befreit. Wenn die Grundlagen für die militaristischen und chauvinistischen Manipulationen entfallen, gibt es keinen Spielraum für die regionale Herrschaft. Diese strategische Bedeutung kommt dem neuen kurdischen Ansatz zu, den Sie angesprochen haben.

Die Region Westkurdistan hat mit ihrem nunmehr erreichten Status sowohl in der Türkei als auch in manchen arabischen Ländern Verwirrung und Panik ausgelöst. Wie kann sich dieser neue Zustand auf die Machthaber in der Region auswirken?

Syrien kann entweder mit oder ohne Assad bestehen, aber ein Syrien ohne Kurden oder ein unterdrücktes Westkurdistan wird nicht mehr möglich sein. Zugleich kann der Westen [Kurdistans] nicht ohne den Osten und der Norden nicht ohne den Süden existieren, jeder Staat, in dem ein Teil Kurdistans liegt, wird davon beeinflusst. Den Status quo im Mittleren Osten ohne den Status der Kurden gibt es nun nicht mehr. Der neue Status quo wird sicher nur dann begründet, wenn er auch den nationalen Status für Kurden vorsieht. Dies war im Irak geschehen, es entwickelt sich und reift. Syrien überwindet diese Schwelle. Das iranische Volk, das die kurdische Region anerkannt hat, wird sich mit dieser Realität leichter zurechtfinden. Das eigentliche Problem liegt darin, dass die Türkei und die türkische Gesellschaft der Realität trotzend den mittelalterlichen Konservatismus, das Gefangensein im Militarismus und Chauvinismus in eine Lebenseinstellung verwandelt haben.

Die AKP-Regierung bezog nach den jüngsten Entwick­lungen in Westkurdistan offen Stellung gegen alle Kurden, und Ministerpräsident Erdoğan drohte mit Nichtanerkennung. Kann der Staat oder die Regierung eine neue Kurdenpolitik entwickeln?

Die politische Haltung des Staates, die Kurden aller vier Landesteile als Gefahr zu sehen, haben bisher alle Regierungen geteilt. Sie ist dennoch das Eingeständnis der historischen Gesamtheit Kurdistans. Die Realität in Südkurdistan wurde gezwungenermaßen akzeptiert, und es war auch der Zwang der realen Verhältnisse oder der USA. Die jetzige Regierungsposition bestätigt diese Tatsache: „Wir konnten im Irak militärisch nicht Fuß fassen und deshalb nicht in die Entwicklungen vor Ort eingreifen, somit entstand dort die kurdische Realität. Damit in Syrien nicht dasselbe passiert, wollen wir nun entweder mit einer Pufferzone oder mit direkter Intervention Teil der Entwicklung sein.“ Dieses Prinzip bestimmte von Anfang an die Syrienpolitik der Türkei. Nach den Entwick­lungen in Westkurdistan wurde seine Umsetzung für die Türkei notwendig, der Begriff der Pufferzone erfuhr konkrete Bedeutung. Mit Pufferzone ist das Blockieren der kurdischen Errungenschaften dort gemeint und die türkische Kontrolle darüber. Diese Maßnahme wird sich nicht nur auf Westkurdistan beschränken. Sie wird als Druckmittel gegen Südkurdistan fungieren und dadurch im Falle einer [Eskalation der] Irankrise als strategischer Militärposten. Das heißt, es werden militärische, politische, psychologische Auswirkungen der Pufferzone einkalkuliert, darüber hinaus sollen den USA die im Irak eingeräumten Freiheiten beschnitten werden und die strategischen Grundlagen für eine türkische Intervention werden vorbereitet. Daraus sollte jetzt aber kein Pessimismus erwachsen, denn im realen Leben wird nichts allein durch Wunschdenken und Absichten bestimmt. Ganz im Gegenteil bin ich davon überzeugt, dass die Türkei in einer verzweifelten Lage ist. Wenn wir nun aber die oppositionellen Kräfte bedenken, werden wir feststellen, dass sich auch eine plausible Lösung aufdrängt und eine Ausweitung der organisatorischen, militärischen, politischen, psychologischen Dimensionen dieser Kräfte abzeichnet.

 Aus dem Kurdistan Report Nr. 163 entnommen

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