Der türkische Kolonialismus greift aus einer Position der Schwäche an

Murat KarayilanFiratnews, 27.09.2016

Im Folgenden veröffentlichen wir in mehreren Teilen Ausschnitte aus einem Interview des PKK-Exekutivratsmitglieds Murat Karayılan mit dem Radiosender Dengê Kürdistan. Im ersten Teil geht Karayılan auf die Frage ein, weshalb die AKP nach dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli mit aller Härte gegen die Kurdische Freiheitsbewegung vorzugehen versucht.

Der Putschversuch vom 15. Juli hat sich nun in einen tatsächlichen Putsch des Erdoğan-Regimes verwandelt. Und mithilfe dieses Putsches und des ausgerufenen Ausnahmezustands führt das Regime Erdoğan derzeit einen verbitterten Krieg gegen die Kurdische Freiheitsbewegung. Was bedeutet das für euch?

Das stimmt, der Kolonialismus der Türkei hat unter der Vorhut Erdoğans gegen die Kurdische Freiheitsbewegung und das kurdische Volk einen offenen Krieg ausgerufen. Tatsächlich ist aber die Schlagkraft des türkischen Kolonialismus derzeit geschwächt. Dennoch setzen sie ihre Angriffe fort. Hierfür gibt es zwei ausschlaggebende Gründe. Der erste Grund ist, dass derzeit im Mittleren Osten ein allgemeiner Krieg vorherrscht, bei dem die Kurdinnen und Kurden eine wichtige Bedeutung erlangt haben. Im Krieg in Nordkurdistan (Osttürkei) hat die Kurdische Freiheitsbewegung Stärke bewiesen. Und der Revolution in Rojava ist es gelungen über Rojava hinaus der Perspektive für ein demokratisches Syrien Bedeutung  zu verleihen. Natürlich haben diese Erfolge die kolonialen Kräfte in Kurdistan, allen voran die Türkei, in Angst und Schrecken versetzt. Sie haben davor Angst, dass Kurdistan einen Status erlangt. Das ist der wichtigste Grund für den derzeitigen Angriffskrieg des türkischen Staates.

Der zweite Grund ist, dass derzeit innerhalb der Türkei  ein offener Konflikt ausgetragen wird. Bei diesem Konflikt handelt es sich eigentlich eher um einen Krieg innerhalb des türkischen Systems. Erdoğan und Fethullah (Gülen) hatten zunächst ein Bündnis geschlossen, um den Staat unter ihre Kontrolle zu bringen. Aber in der Folge konnten sie sich untereinander nicht um eine Aufteilung der Macht und der Mittel des Staates einigen und sind aneinander geraten. Fethullah beschuldigte die AKP immer wieder des Diebstahls und der Veruntreuung. Sie haben zahlreiche Dokumente, die das belegen, in die Öffentlichkeit getragen. Und aus diesen Dokumenten ging tatsächlich hervor, dass Erdoğan und sein Sohn Gelder veruntreut und sich der Korruption schuldig gemacht hatten. Nun hat diese Auseinandersetzung um Gelder zu einem Bruch im Bündnis zwischen Erdoğan und Fethullah geführt. Zuletzt hat die Seite von Fethullah und einigen anderen Kreisen am 15. Juli versucht mit einem Putsch die andere Seite vom Thron zu schubsen. Aber das ist ihnen nicht gelungen.

Nun erklärt Erdoğan, dass er gegen den Putsch und im Namen der Demokratie agiert. Doch das entspricht selbstverständlich nicht der Wahrheit. Es handelt sich in der ganzen Sache um keinen Kampf um Demokratie oder Freiheiten. Die Auseinandersetzungen sind ausschließlich Ausdruck eines Machtkampfs unter ehemaligen Bündnispartnern.

Erdoğan ist darum bemüht, sein autoritäres Regime auf die Beine zu stellen. Beide Konfliktparteien hatten ihre Organisierung innerhalb des Staates vorangetrieben. Als nun beide organisierte Strukturen in den offenen Kampf getreten sind, hat das in erster Linie zu einer Schwächung des türkischen Staatssystems geführt. Denn zum ersten Mal hat das türkische Militär innerhalb ihrer eigenen Reihen einen offenen Kampf ausgetragen. Gleichzeitig kam es auch zu einem offenen Kampf zwischen Teilen des Militärs und der türkischen Polizei. Natürlich hat dieser Kampf seine Spuren hinterlassen.

Nun versuchen Erdoğan und AKP aus dem gescheiterten Putsch Profit zu schlagen und ihr eigenes System vollends zu etablieren. Hierfür gehen sie gegen alle Kräfte vor, die sie als Opposition oder potentielle Opposition für ihr Vorhaben betrachten. Es verwundert also nicht, dass sie mit ganzer Kraft auch gegen die Kurdische Freiheitsbewegung vorzugehen versuchen. Dieser Angriff rührt also aus einem Gefühl der Schwäche her. Denn um ihre eigene Position zu stärken und innerhalb des Staates die vollständige Kontrolle zu erlangen, versuchen sie den Krieg zu intensivieren und nationalistische und chauvinistische Gefühle in der Gesellschaft weiter zu entfachen. Sie geben zwar an, die Türkei und die Demokratie verteidigen zu wollen. Doch es steht außer Frage, dass sie mit der Demokratie absolut nichts am Hut haben.

Tatsache ist, dass Erdoğan dies alles zum Zwecke der eigenen Macht tut. Er verteidigt weder die Demokratie noch sonst etwas anderes. Das einzige, was er verteidigt, ist seine eigene Macht. Wieso macht er das? Er ist sich den Gefahren bewusst, die auf ihn zukommen würden, wenn er die Macht wieder aus der Hand gibt. Es ist in Korruptionsaffären verwickelt, er hat sich strafbar gemacht. Hierfür könnte er im Falle des Machtverlustes belangt werden. Um das zu verhindern, setzt er auf den Krieg. Er propagiert ununterbrochen, dass er die Türkei verteidigen würde, dass die Türkei sich in einem Krieg befindet. So will er möglichst viele Menschen um sich scharen und seine Gegner vernichten. Und er geht fest davon aus, dass er für seinen Machterhalt auch die Kurdische Freiheitsbewegung niederringen muss. Denn dass Fethullah und seine Strukturen nicht lange gegen die Angriffe standhalten können, ist offensichtlich. Sie waren in der Bürokratie des Staates organisiert, haben aber nun einen vernichtenden Schlag erlitten. Deswegen stellen sie für das Erdoğan-Regime keine große Gefahr mehr dar. Aber die Kurdische Freiheitsbewegung, die demokratischen und sozialistischen Kräfte in der Türkei, stellen weiterhin für die Macht der AKP eine große Gefahr dar. Aus diesem Grund geht er derzeit mit aller Härte und mit allen Mitteln gegen die Revolution in Kurdistan vor.