Der türkische Kurdenkrieg – Eine aktuelle Situationsanalyse (2)

Nilüfer Koc, Kurdistan Nationalkongress (KNK), 12.01.2017

Bei seinem Besuch in Bagdad und Erbil schlug der türkische Ministerpräsident seinen Gastgebern einen Kuhhandel vor: Gebt mir Sinjar (Shengal) und ich ziehe meine Truppen aus Bashiqa zurück. Dass die Türkei nicht einfach so sich aus dem irakischen Territorium zurückziehen würde, war klar. Denn Mosul hat für die Türkei eine strategische und historische Bedeutung. Bis zum Zerfall des Osmanischen Reiches war der Irak in die drei Osmanischen Vilayets Mosul, Basra und Bagdad aufgeteilt. Das Gebiet Mosul befasst damals die gesamten kurdischen Siedlungsgebiete im heutigen Irak. Mosul war sowohl für die Türkei als auch für Großbritannien ein strategisches Gebiet, weshalb seine Aufteilung nicht in den vier Lausanner Konferenzen 1923, sondern erst durch die Sonderdiplomatie zwischen den Türken und Briten beschlossen wurde. Erst 1926 wurde Mosul durch den Vertrag von Ankara an den Irak abgetreten. Die Türkei hat dies bis heute nicht verdaut. Erdogan und die AKP haben es sich daher zu einem strategischen Ziel erklärt, dieses Gebiet bis 2023 zu einem Teil der Türkei zu machen. Expliziert hierfür hat die AKP eine Landkarte für die Türkei von 2023 ausgearbeitet. Auf dieser Karte sind die damaligen osmanischen Provinzen Aleppo (Syrien) und Mosul (Irak) zu sehen. Aleppo bedeutet in diesem Zusammenhang die gesamte Region Nordsyrien/Rojava. Mosul bedeutet heute ganz Irakisch-Kurdistan. In 2023 wird der Lausanner Vertrag 100 Jahre alt und soll laut türkischer Behauptungen seine Wirkung verlieren. Aus diesen Gesichtspunkten heraus betrachtet, entspricht das Versprechen vom türkischen Ministerpräsidenten nicht der Wahrheit. Yildirim erklärte der Weltöffentlichkeit auf seiner Pressekonferenz in Bagdad am 7. Januar, „die Türkei würde es in Erwägung ziehen, ihre Truppen aus Bashiqa zurückzuziehen“. Auch der irakische Ministerpräsident deutete am, dass die Türkei ihm dies zugesichert hätte. Aber nur fünf Tage nach dem Besuch Yildirims erklärte dann der türkische Verteidigungsminister Fikri Isik, die Türkei würde sich erst aus Bashiqa zurückziehen, wenn Mosul befreit ist.

Von Aleppo nach Mosul

Nach ihrer Niederlage in Aleppo im Dezember vergangenen Jahres wird sich die Türkei auf Mosul konzentrieren. Ihre Militärpräsenz im Nordirak kann die Türkei mit der Kampffähigkeit des IS in Mosul begründen. Mit seinem Angebot „Sinjar gegen Bashiqa“ versuchte Binali Yildirim tatsächlich zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Sie will die PKK aus Sinjar vertreiben, um selbst in der Region die Kontrolle zu erlangen und so das Grenzgebiet zu Rojva/Nordsyrien zu kontrollieren. Und selbst wenn der Irak und die KRG auf die Türkei hierbei eingehen würden, ist kaum zu erwarten, dass dann die Türkei ihren Teil des Handels erfüllt und sich aus Bashiqa zurückzieht. Zumindest ist dies nicht mit dieser AKP und ihrer Landkarte für das neue Türkische Reich für das Jahr 2023 zu denken.

Und auch hier liegt ein Grund dafür, weshalb der türkische Staat sich derzeit rasant zu einer Diktatur entwickelt. Ähnlich wie in anderen Diktaturen glaubt Erdogan den türkischen Staat über die Ein-Mann-Diktatur zu einem straffen und besser kontrollierbaren Gebilde umformen zu können, um damit die Expansion bis zum Jahr 2023 zu vollziehen. Der Krieg gegen die Kurden, und vor allem gegen die PKK wird aus den gleichen Motiven heraus geführt. Denn die kurdischen Kräfte stellen das schwierigste Hindernis für die Expansion des erträumten türkischen Reiches dar. Und den härtesten Brocken stellt hierbei sicherlich die PKK dar.

Außerdem ist es den Eziden in Sinjar mit Hilfe der PKK gelungen, ihre eigenen Streitkräfte aufzubauen. Ferner haben sie nach dem IS Angriff im August 2014 auch eigene autonome Verwaltungsstrukturen aufgebaut. Sinjar ist der Lebensraum der Eziden. Und auch sie werden sich nicht der Türkei ergeben. Außerdem haben sie von der PKK die Garantie, dass diese im Notfall an ihrer Seite steht. Die Eziden aller politischen Couleur glauben an die PKK, da sie von ihr gerettet worden sind. Außerdem finden sie Gefallen an der „Hilfe-zur-Selbsthilfe“-Politik der PKK. Das bedeutet, dass der Wunsch der Türkei die Region Sinjar vor der PKK zu bereinigen, um sich selbst dort einzunisten, selbst mit der Hilfe Bagdads und Erbils nicht so einfach zu verwirklichen ist.

Kampf der Herrscher gegen den Zeitgeist

Und dann kommt noch die Frage von Mosul dazu. Die Türkei ist nur eine von mehreren Akteuren, die ihre Fühler auf die Stadt ausstrecken. Und selbst wenn unterschiedliche Akteure in der Mission, den IS aus Mosul zu vertreiben, zusammengekommen sind, so gibt es doch keine Einigkeit unter ihnen, wie es in der Stadt nach dem IS weitergehen soll.

Mosul ist mit seinen vielen Volks- und Glaubensgemeinschaften wie eine kleine Version des Iraks. Deswegen bringt die Suche nach einer Lösung für die Zukunft dieser Stadt zugleich auch eine Infragestellung der bisherigen Staatsverwaltung des Iraks mit sich. Bislang ist der Irak in 19 Gouvernements unterteilt. Die Autonome Region Kurdistans beherbergt davon vier. Obwohl in der irakischen Verfassung Demokratie und Pluralismus groß geschrieben sind, galt dies zunächst nur für die drei großen gesellschaftlichen Gruppen des Landes: Die Kurden, die Sunniten und die Schiiten. Nachdem der IS am 9. Juni 2014 die Region Mosul angriff, wurden vor allem die turkmenischen Schiiten, die Christen und die ezidischen und Shabak-Kurden ihre ersten Opfer. Das Trauma dieser Erfahrung hat diese Gruppen dazu gezwungen, ihr Existenzrecht selbst in die Hand zu nehmen. Heute plädieren sie für eine Lösung jenseits der Regelung von Gouvernements. So fordern zum Beispiel die Christen für die Region Ninova eine christliche Autonomie mit eigener Verteidigung, Bildung etc. Die Eziden, die nördlich von Mosul in der Sinjar Region leben, wollen hier ihre eigene Armee, Verwaltung, Bildung etc. Die schiitischen Turkmenen im Gebiet Tel-Afar fordern dasselbe. Niemand kann diesen Völkern und Glaubensgemeinschaften das Recht auf Selbstbestimmung nehmen, da diese im gegenwärtigen Irak besonders stark gefährdet sind.

Auch wenn die Eziden, Kakai, Yaresan, Faili, Shabak ethnisch gesehen zu den Kurden zählen, so haben sie im Gegensatz zu den mehrheitlich muslimisch geprägten Kurden eine vollkommen andere Lebensphilosophie und einen eigenen Glauben. Jene, die in den Grenzen des KRG leben, wollen mehr autonome Rechte. Dazu kommt auch, dass die Hawraman-Kurden in der kurdischen Autonomieregion das Recht auf Bildung in ihrem eigenen Dialekt, also Hawrami anstatt Sorani, fordern. Ähnliche Forderungen stellen auch die Christen gegenüber der KRG. Die Liste der Glaubens- und Volksgruppen, die ähnliche Forderungen stellen, könnte an dieser Stelle noch verlängert werden.

Noch wiedersetzen sich die Vertreter der drei dominanten Gruppen im Irak diesen Forderungen.  Grund hierfür sind ihre eigenen Machtinteressen, weswegen sie auf eine stärkere Zentralisierung und Kontrolle der Gesellschaft setzen. Doch die Forderungen von „unten“ nach mehr Sicherheit, Frieden, Demokratie und Wohlfahrt gehen einher mit den Forderungen nach Dezentralisierung, Autonomie und Selbstverwaltung. Der Zentralismus hat deshalb perspektivisch in dieser Gegend keine Chance mehr.

Der Weg zur totalen Diktatur gestaltet sich schwierig

Neben den wirtschaftlichen Problemen, haben Ankara, Erbil und Bagdad auch mit militärischen Schwierigkeiten zu kämpfen. Wenn man dann noch den schwachen Rückhalt aus der eigenen Bevölkerung hinzunimmt, lässt sich kaum vorstellen, dass den Drohungen der jüngsten Tage gegen die PKK auch Taten folgen werden.

In der Türkei beispielsweise hat die AKP bereits aufgrund der ungelösten kurdischen Frage massive Probleme, ihr Konzept der totalen Diktatur umzusetzen. Hinzu kommt, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis sich der stille Unmut der türkischen Bevölkerung gegenüber AKP auf den Straßen reflektieren wird. Bereits jetzt schlägt die Unzufriedenheit und Angst der Kemalisten und Sozialdemokraten über das Vorhaben der AKP breite Wellen. Sie stellen sich gegen die neue Verfassung, welches das Präsidialsystem vorsieht. Intern steht die Türkei vor einer strategischen Entscheidung. Wird sie ihr ohnehin schwaches parlamentarisches System beibehalten, oder werden Exekutive, Legislative und Judikative fortan einzig und allein unter die Kontrolle Erdogans stehen, wie es der neue Verfassungsentwurf vorsieht. Das Parlament debattiert seit einigen Tagen über diesen Entwurf.

Mit solchen internen Schwierigkeiten kämpfend, kann keine starke Außenpolitik gemacht werden. Die Eskalation des Krieges mit der PKK dazu beitragen, dass die Bevölkerung über diese Realität hinwegsieht und „unterhalten“ wird. So lässt sich dann auch die neue Verfassung einfacher, an der Aufmerksamkeit der Bevölkerung vorbei, durch das Parlament verabschieden.

Auch der Irak steckt in einer Systemkrise

Interne politische Probleme gibt es auch in Bagdad. Das Regime ist nicht in der Lage, die Sicherheit der eigenen Bevölkerung zu gewährleisten. In der Hauptstadt Bagdad explodieren ständig Bomben an denselben Orten im Bazar. Und selbst das können die Sicherheitskräfte nicht verhindern. Die Fluchtwellen aus den umkämpften Regionen stellen eine weitere Problematik dar, die Bagdad nicht lösen kann.

Zudem stellen die ethnischen und religiösen Gemeinschaften im Irak das derzeitige Staatssystem zunehmend in Frage. Einst war das „föderale“ System gemeinsam mit den USA ausgearbeitet worden. Heute droht es zu scheitern. Denn von verschiedenen Gruppen und Gemeinschaften wird die Forderung nach mehr Autonomierechten laut. Ferner drohen die Kurden im Norden des Landes permanent mit ihrer Trennung und der Gründung eines kurdischen Staates. Auch die schiitischen Araber fordern mehr Rechte, als die jetzigen Gesetze bieten können. Die Angriffe des IS seit 2014 haben allen bedrohten ethnischen und religiösen Gemeinschaften zu denken gegeben, sich fortan selbst schützen zu wollen, da sie weder von Bagdad noch von Erbil aus ihre Sicherheit als gewährleistet sehen.

Dem Autonomiegebiet Kurdistan geht es auch nicht besser. Seit mehr als einem Jahr ist das Parlament de facto außer Kraft gesetzt. Die Regierung hat sich zu einem PUK-KDP Parteien Duett entwickelt. Unter sich wiederrum haben beide Parteien ihre Machtzonen und Grenzen. In fast allen Städten kommt es zu täglichen Protesten gegen die wirtschaftliche Misere. Die Kluft zwischen Reich und Arm geht immer weiter auseinander. Das Bildungssystem ist quasi brachgelegt worden, da die Lehrkräfte sich im ständigen Streit um ihre Löhne befinden. Auch im Gesundheitswesen drückt sich diese Krise aus. Mediziner ziehen es vor, aufgrund von besseren wirtschaftlichen Verhältnissen ins Ausland zu ziehen. Viele Arztpraxen und Krankenhäuser wurden innerhalb eines Jahres geschlossen. Die Kette der Misere kann mit vielmehr Beispielen ausgeweitet werden.

Sieg in Aleppo führt zur verstärkten Offensive des Irans

Das interessante an der Triade Ankara-Erbil-Bagdad ist, dass jeder von der schlechten Lage des anderen Bescheid weiß. Zudem kommt die kontroverse außenpolitische Kombination hinzu. Während Bagdad zwischen Washington und Teheran balanciert und dabei aus konfessionellen Gründen (Bagdad-Iran sind schiitisch) mehr zum Iran neigt; tendiert die KRG zu Washington-Ankara. Sowohl der Iran als auch die USA haben aber gegenwärtig ein Problem mit der Türkei. Nach ihrem Sieg in Aleppo befindet sich der Iran gegenwärtig in der Offensive. Daher wird sie ihren strategischen Partner Irak genauestens beim Deal mit der Türkei beobachten.

Kaum hatte der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim Bagdad verlassen, kündigte sich deshalb auch schon hochrangiger Besuch aus dem Iran an. Bijan Namdar Zanganeh, iranischer Minister für Öl, kommt mit dem Projekt das kurdische Öl aus Kirkuk über den Iran anstelle der Türkei zum Markt zu führen. Mit diesem Projekt will der Iran auf die Wirtschaftspolitik zwischen Erbil-Ankara Einfluss nehmen. Denn den größten Teil des Erdöls aus Kirkuk liefert die KRG zu sehr günstigen Preisen an die Türkei und stärkt damit die schwache türkische Wirtschaft. Nicht die KRG, sondern die Türkei profitiert von diesem Deal. Während der Iran mit der Türkei bezüglich des syrischen Bürgerkriegs in der kasachischen Hauptstadt Astana am Tisch sitzt, versucht Teheran  zugleich mit allen Mitteln die Türkei zu schwächen. Dazu zählt auch der Angriff auf den Ölhandel zwischen Türkei-KRG-Irak. Ferner verfügt der Iran mit der schiitischen Miliz über eine militärische Präsenz im Irak, insbesondere um Mosul herum.

Um Mosul herum sind sowohl die schiitische Miliz, bekannt als Hashd al-Shaab, als auch die sunnitischen Milizen Hashd al-Watani aktiv. Letztere werden vom ehemaligen Gouverneur von Mosul Asil Nuceyfi geführt, der äußerst enge Kontakte zu Ankara pflegt. Und so werden die Hashd al-Watani Milizen großzügig von der Türkei unterstützt. Hinzu kommt noch, dass eine paramilitärische Armee der Türkei mit dem Namen SADAT diese sunnitischen Gruppen militärisch trainiert. Offiziell ist SADAT eine Firma zur Beratung und Unterstützung von militärischen Angelegenheiten. Ihr Chef Adnan Tanriverdi ist ein ehemaliger General der türkischen Armee und seit August 2016 einer der Chefberater Erdogans.

Auch in Sachen Mosul, wird der Iran alles daran setzen, dass der türkische Traum zur Annektierung von Mosul in 2023 nicht zustande kommt. Auch wenn die Türkei nach der Niederlage von Aleppo in Moskau mit dem Iran am selben Tisch saß und dies erneut am 23. Januar in Astana tun wird, so bedeutet dies nicht, dass der türkisch-persische Machtkampf im Nahen Osten beendet ist. Der Iran verfolgt weiterhin die Machtstrategie den schiitischen Halbmond (Iran, Irak, Libanon, Syrien etc.) zu expandieren, und wird alles daran setzen, die Expansion der sunnitische Machtstellung in Form der Türkei zu verhindern. Dies geschah bislang über den Stellvertreterkrieg in Syrien und Irak.

Nach dem Sieg Russlands, des Irans und des Baath Regimes in Aleppo hat die Türkei die Niederlage hinnehmen müssen und eine Trendwendung von der aktiven Konfrontation zur Scheinkooperation vollzogen. Die türkische Niederlage in Syrien und Rojava hat Ankara dazu gezwungen, aus den Feinden Freunde machen zu müssen.  Seit dem Beginn des Syrienkrieges in 2011 war die Türkei durch die Unterstützung von Organisationen wie IS, Al-Nusra usw. federführend für das „sunnitische Lager“. Genauso pflegte sie rege diplomatische, wirtschaftliche und militärische Kontakte mit Saudi Arabien und Katar und bekämpfte mit diesen das schiitische Lager. Dies drückte sich insbesondere in ihren radikalen Anti-Assad Haltung aus. Doch diese Haltung gehört wohl nunmehr der Vergangenheit an.

Die Belastung der USA-Türkei Beziehung

Gegenüber Kritik aus Washington und Brüssel drohte die Türkei sich vom Westen ab- und in Richtung Osten, genauer in Richtung der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) zuzuwenden. Ausgangspunkt für diesen Richtungswechsel ist allen voran die militärische Intervention der Türkei in Syrien. Man hatte der Türkei einen gewissen Freiraum für die Intervention nach Syrien in Form eines Einmarsches nach Dscharablus im späten August letzten Jahres gewährt. Dies tat die USA selbstverständlich auf Kosten der Kurden  Allerdings musste die USA schnell ihre Augen öffnen, da die Türkei sich mit Dscharablus nicht begnügen wollte. Der Drang weiter nach Aleppo zu gelangen, wurde dann vom Regime, Russland und dem Iran beendet. Ihrer Kapitulation nach Aleppo folgend, wandte sich die Türkei dem schiitischen Block zu.  Der Ton aus Washington wurde immer rauer, weshalb es unter anderem zu dem starken Verlust des Lira Kurses kam.

In morgen folgenden dritten und letzten Teil der Analyse geht Nilüfer Koc auf die Provokationen der Türkei ein, einen innerkurdischen Konflikt zu entfachen.  Auch erörtert sie den Wechsel der türkischen Außenpolitik in den schiitischen Machtblock genauer und beschreibt die Gegenstrategie der Kurdischen Freheitsbewegung gegenüber der türkischen Expansionspolitik.