Der Widerstand von Kobanê – eine Chronologie des Kampfes um die Stadt (2)

Kobane1Teil 2 des Kobanê-Specials, Sedat Sur (ANF), Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit, 25.10.2016

Die Revolution von Rojava nahm ihren Beginn in Kobanê. In der Nacht vom 18. auf den 19. Juli 2012 übernahm die organisierte Gesellschaft des Ortes die Kontrolle über ihren Heimatort und vertrieb die letzten Vertreter des Baath-Regimes aus der Stadt. Von Kobanê aus weitete sich die Revolution auch die Kantone Afrin und Cizîre aus. Doch Kobanê ist nicht nur aus diesem Grund Symbolfigur der Revolution von Rojava. Die Stadt ist immer wieder auch zum Angriffsziel dschihadistischer Gruppierungen geworden und deshalb zum Widerstandssymbol für eine freie, selbstverwaltete und demokratische Gesellschaft in der Region geworden.

Die erste größere Angriffswelle auf den Kanton Kobanê erfolgt im Juli 2013. Neben vielen weiteren Orten Rojavas wird auch Kobanê zum Angriffsziel verschiedener dschihadistischer Gruppen aus der Türkei.  Während die Angriffe von 2013 vergleichsweise noch eher klein waren, startet der sog. Islamische Staat (IS) die ersten großangelegten Belagerungsversuche auf Kobanê dann im Juni 2014. Im September 2014 begann dann der historische Widerstand von Kobanê, bei dem der IS, die zuvor aus Mossul erbeuteten schweren Waffen einsetzten wird. Der Widerstand dauerte insgesamt viereinhalb Monate an. Der IS erlitt schlussendlich eine bedeutende Niederlage und musste sich geschlagen zurückziehen. Kobanê wurde Schauplatz eines ungleichen Kampfes, welcher in der Menschheitsgeschichte sehr selten vorkommt.

Die ersten Angriffe unter dem Namen “Freie Syrische Armee”

Der erste Angriff auf den Süden Kobanês ereignete sich kurz nach dem Jahrestag der Rojava-Revolution am 20. Juli 2013. Die angreifenden Dschihadisten waren damals noch unter dem Dach der “Freien Syrische Armee” (FSA) organisiert. Doch bereits damals beteiligten sich viele Islamisten am Angriff, die später zum IS überlaufen sollten. Ausgangspunkt der Angriffe war die Stadt Gîrê Spî (Tall Abyad).  Zwei Tage später, am 22. Juli 2013, starteten weitere Gruppen der FSA eine zweite Angriffswelle auf den Westen von Kobanê. Diese Angriffswelle dauerte ca. eine Woche und endete mit einem von der YPG initiierten und von der FSA akzeptierten Waffenstillstand. Die Angriffe auf der Südseite wurden hingegen erfolgreich abgewehrt und fanden so ein Ende.

Der IS begann ab September 2013 dann eigenständig zu agieren und etablierte sein eigenes Hoheitsgebiet, indem er die FSA-und Al-Nusra-Gruppen, mit denen er bis dahin noch zusammen arbeitete, verdrängte und große Teile ihrer Gebiete unter eigene Kontrolle brachte. Der „Islamische Staat“ gewann schnell Einfluss in Syrien und nahm in kürzester Zeit Städte wie Ar-Raqqa, Gîre Spî, Jarablus, Manbidsch und Sirîn ein. Als nächsten Schritt versuchen die IS-Banden, unterstützt von der Türkei, Kobanê einzunehmen, indem sie die Stadt von drei Seiten aus belagerten und weiter Richtung Stadtmitte vordrangen.

Die ersten Angriffe wurden von der Westseite Kobanês aus organisiert. Gleich hinter dem Euphrat aus Dscharablus aus wurden diese Angriffe geplant und umgesetzt. Darauf folgten auch Angriffe von der Ostflanke Kobanês, die von Girê Spî aus organisiert wurden.

Der Widerstand der YPG und YPJ

Als die IS-Banden ihre Offensive gegen Kobanê starteten, befanden sich in der militärischen Struktur der YPG lediglich 40 professionelle Kämpferinnen und Kämpfern. Die restlichen Mitglieder der YPG und YPJ waren Jugendliche und Dorfbewohner aus der Region, die für die Verteidigung ihres Heimatsortes zu den Waffen griffen. Obwohl das Interesse der lokalen Bevölkerung gegenüber der YPG groß war, waren die Möglichkeiten militärischer Ausbildung, sowie die Ausstattung mit schweren Waffen äußerst schwach gestaltet. Das erschwerte die Verteidigung der Stadt massiv. Trotz dieser Umstände verteidigte die YPG die Stadt mit allen ihnen verfügbaren Mitteln. Der IS merkte deshalb früh, dass der Kampf um Kobanê anders verlaufen würde als in anderen Orten, wo sie oftmals ihre Gegner problemlos überrannten. Und so intensivierten die Islamisten ihre Angriffe ab dem Frühjahr 2014 abermals und eröffneten eine neue Front im Süden Kobanês. Am 22. März, also einen Tag nachdem die Bevölkerung von Kobanê noch das Newrozfest feierte, kam es zu schweren Auseinandersetzungen in der Stadt Sirîn im Süden Kobanês.

Die erste IS-Niederlage: Das Dorf Kendalê

Eines der ersten Ziele der IS-Banden war das Dorf Kendalê, östlich von Kobanê. Eine lokale YPG-Einheit verteidigte das Dorf gegen die übermächtig erscheinenden Angreifer und hatte keine einzige Stellung verloren. Die IS-Banden trafen auf starken Widerstand und mussten schwere Verluste hinnehmen. Die YPG-Einheit lockte die IS-Bandenmitglieder mit einem taktischen Rückzug in die Mitte des Dorfes und konnte dort rund 40 IS-Mitglieder töten. Daraufhin floh der IS zunächst aus dem Dorf, musste aber seine erste Niederlage auf syrischem Boden einstecken.

Nach dieser ersten Niederlage intensivierte der IS seine Angriffe systematisch. Die Auseinandersetzungen hielten über den April und den Mai an allen drei Fronten weiterhin an. Die Niederlage von Kendalê und die Verluste, die der IS später in Sirîn erleiden musste, machten den Islamisten zu schaffen.

Neben der Belagerung musste Kobanê auch mit den Versorgungsproblemen der letzten Stadtbewohner kämpfen. Der einzige Zugang zu dem Gebiet war die an die Türkei grenzende Nordseite, an dem die Türkei die Grenze dicht machte und somit die vierte Front des IS “erfolgreich” verteidigte. Kobanê war zu diesen Tagen faktisch von allen vier Seiten aus belagert.

Der Bevölkerung fehlt es an Strom, Wasser und Nahrung

Die Strom- und Wasserversorgung Kobanês wurde durch den Staudamm in Tishrîn gedeckt. Doch der IS hatte im Zuge ihrer Offensive diesen Staudamm unter ihre Kontrolle gebracht und anschließend den Wasserzugang und den Strom für die Stadt gekappt. Die zweite Versorgungsroute über Şexler (dem Osten der Stadt) war ebenfalls vom IS gekappt worden. Somit fehlte es der Bevölkerung von Kobanê an Strom und Wasser. Durch die Belagerung von drei Seiten war auch kein Handel von und zu Kobanê möglich, wodurch langsam aber sicher eine Lebensmittelknappheit die Stadt bedrohte.

Nordkurdistan solidarisiert sich mit Kobanê

Der einzige Ausweg aus Kobanê war die nördlich liegende Grenze zur Türkei bzw. Nordkurdistan. Uns so startete die Bevölkerung von Nordkurdistan eine aufopferungsvolle Solidaritätskampagne mit dem Widerstand von Kobanê. Der türkische Staat versuchte im Gegenzug jede Unterstützung für Kobanê zu unterbinden und machte die Grenze zu Kobanê dicht. Das brachte die Solidarität Nordkurdistans mit Kobanê allerdings nicht zum Stoppen. Im Gegenteil, der Widerstand von Kobanê stand von nun umso mehr im Mittelpunkt des Lebens der Bevölkerung in Nordkurdistan.

Ein Widerstand auf Grundlage von kommunaler Produktion

Trotz der Solidarität der Bevölkerung aus Nordkurdistan konnte der Bedarf Kobanês an Nahrung, Wasser und Kleidung nicht gedeckt werden. Die Kantonsverwaltung und die Bevölkerung versuchten auf Grundlage kommunaler Produktion und gerechter Verteilung die Folgen der Belagerung zu mildern. Dieselgeneratoren, die zentral in der Stadt aufgestellt wurden, lieferten mithilfe des Treibstoffvorrats der Bevölkerung zu bestimmten Tageszeiten Elektrizität für die Menschen in Kobanê. Nach demselben solidarischen Prinzip wurden auch die Nahrungsvorräte der Stadt verteilt.

All diese Bemühungen reichten aber noch immer nicht aus, um den täglichen Bedarf der Stadt zu decken. Da insbesondere die sich zu Ende neigenden Wasservorräte zu einem Problem wurden, entschloss sich die Kantonalverwaltung dazu, Wassergräben in und um die Stadt auszuheben. So wurden im Dorf Qeynter Oxan im Westen Kobanês 18 Wassergräben ausgehoben und mit Rohren in einer Gesamtlänge von 3200 Metern Wasser in die Stadt transportiert.

Kobanê im Widerstand 

Die gesamte Bevölkerung Kobanês befand sich zu diesem Zeitpunkt im Widerstand. Jedes Viertel und jede Straße Kobanês wurden Zeuge des Widerstandes und des ungleichen Krieges. Während die YPG an den Fronten gegen den IS kämpfte, zeigte die Bevölkerung Kobanês eine außerordentliche Solidarisierung und den Willen, die eigene Heimat nicht zu verlassen bzw. für sie zu kämpfen.

Unterdessen unterhielt die Türkei offene Handels- und logistische Beziehungen zum IS. Während die Hilfe der nordkurdischen Bevölkerung an der Grenze blockiert wurde, konnte der IS die Grenze weniger Kilometer westlich oder östlich von Kobanê ungestört passieren. Über diese Grenzen gelangte die aus Europa kommenden IS-Rekruten nach Syrien und schlossen sich dem „Dschihad“ an.

Am 06. Juni 2014 hatte der IS die irakische Stadt Mossul belagert und konnte sie in weniger als fünf Tagen einnehmen. Nachdem der IS Mossul vollständig eingenommen und das Waffenarsenal der irakischen Armee geplündert hatte, wandte er sich systematischer gegen Kobanê. Die Angriffe wurden jetzt noch viel intensiver und Kobanê geriet immer stärker unter Druck. Die Tage, an denen der IS nun mit den erbeuteten schweren Waffen eine neue Angriffswelle auf Kobanê starten sollte, rückten immer näher….

 

Die Originalfassung erschien in türkischer Sprache unter dem Titel “DAİŞ’e ilk darbe Kürt mavzerinden: Kobanê Direnişi 2. yılını dolduruyor” am 15. September 2016.

Teil 1 des Kobanê-Specials: Der Widerstand von Kobanê – eine Chronologie des Kampfes um die Stadt