Der Widerstand von Kobanê – eine Chronologie des Kampfes um die Stadt (3)

Teil 3kobane_grenze des Kobanê-Specials, Sedat Sur (ANF), Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit, 26.10.2016

Als der IS 2013 trotz der Bedenken anderer dschihadistischer Gruppierungen in Syrien sein Aktionsfeld über den Irak auch nach Syrien ausdehnte, konnte die Organisation binnen kürzester Zeit weite Teile Nordsyriens unter seine Kontrolle bringen. Viele Dschihadisten der Al-Nusra Front, dem syrischen Ableger der Al-Kaida, liefen daraufhin zum IS über. Und auch als das beliebteste Ziel internationaler Dschihadisten  galt von nun das Kalifat von Al-Baghdadi, dem selbsternannten Kalifen des „Islamischen Staates“. Diese Entwicklung bewegte auch die Türkei dazu, ihre Bündnispartner im Kampf gegen die Revolution von Rojava neu zu wählen. Agierte die Türkei zunächst vor allem mit der Al-Nusra Front und weiterer Dschihadistengruppen, die sich unter dem Dach der Freien Syrischen Armee organisierten, galt nun der IS als wichtigster Partner der Türkei im Norden Syriens. Und so florierte der Grenzhandel zwischen dem IS und der Regierung in Ankara, die Türkei galt als wichtigstes Transitland europäischer Dschihadisten und von der Türkei aus wurden Operationen des IS organisiert, Nachschübe an Waffen und Logistik bereitgestellt und in türkischen Krankenhäusern verletzte Dschihadisten des IS gesund gepflegt.

Und so wurde auch Kobanê als erstes Angriffsziel des IS  in Rojava gemeinsam mit dem türkischen Staat gefällt. Diese Ansicht vertreten die Mitglieder der Kantonalverwaltung sowie der YPG, mit denen zu der Zeit gesprochen werden konnte. Die anschließenden Ereignisse haben ebenfalls bewiesen, dass der türkische Staat die Aufgabe der Planung und Koordination des Angriffes übernommen hatte. Die Polizeistationen an der Grenze zu Kobanê dienten quasi als Kommandozentralen des IS. Auf dem Höhepunkt des Angriffs auf Kobanê wurde gar vom türkischen Territorium aus eine vierte Front auf die Stadt eröffnet.

Warum Kobane? 

Dem türkischen Staat und den IS vereinen die gemeinsame Absicht, die Rojava-Revolution zu vernichten. Dies ist der Grund, warum in einem ersten Schritt das strategisch liegende Kobanê angegriffen und belagert werden sollte. Dadurch sollte eine Vereinigung der Kantone verhindert und somit die Revolution erstickt werden.

Der „arabische Gürtel”, der seine Wirkung in der Stadt Girê Spî (Tal Abyad) zeigte und die früher von Armeniern bewohnte Stadt Cerablus (Dscharablus) sind seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs in die Hände von islamistischen Banden gefallen. Girê Spî verhinderte die Verbindung zwischen Kobanê und dem Kanton Cizîrê, während Cerablus ein Hindernis in Richtung Afrîn darstellte. Die Einnahme des zentral liegenden Kobanês, das von allen Seiten einem Embargo ausgesetzt war, wurde als Anfang des Niedergangs der Rojava-Revolution betrachtet.

Kobanê ist der kleinste der drei Rojava Kantone und galt deshalb für die Angreifer als vermeintlich einfaches Ziel. Außerdem hätte der IS mit der Einnahme Kobanês einen weiteren Grenzübergang zur Türkei unter seine Kontrolle bringen können, was den wirtschaftlichen Handel zwischen beiden Parteien weiter zum erblühen gebracht hätte. Der Grenzübergang sollte der Türkei gleichzeitig die Kontrolle über Zentralsyrien erleichtern. Zuletzt spielte auch die Symbolik eine Rolle: die Rojava-Revolution sollte an dem Punkt erstickt werden, an dem sie ihren Anfang nahm.

Krieg an drei Fronten

Nach einer Planungsphase mit der Türkei zog der IS seine Bandenmitglieder in Syrien vor Kobanê zusammen. Nachdem die ersten eigenen Belagerungsversuche scheiterten und der IS merkte, dass Kobanê nicht mit einfachen Mitteln einzunehmen ist, trat der Plan mit der Türkei in Kraft. Demnach sollte der IS unterstützt von der Türkei zeitgleich von allen Seiten den Kanton angreifen. Diese Offensive war die bis zu diesem Zeitpunkt umfangreichste und stärkste auf eine Stadt in Rojava.

Widerstand unter ungleichen Verhältnissen

Die große Offensive im Juni 2014 startete im Osten bei Evdiko, im Süden bei Kûnheftarê und im Westen bei Zor Mixarê. Der IS brachte schwere Waffen, Panzer und Fahrzeuge aus Mossul, wo er auf die Bestände der geflüchteten irakischen Armee zurückgreifen konnte. Zahlenmäßig hatte der IS eine größeres Heer auf die Beine gestellt als Verteidigerinnen und Verteidiger in Kobanê gab. Auch den schweren Waffen des IS konnte die YPG keine vergleichbare Ausrüstung entgegenbringen. Hinzu kam, dass die Kampferfahrung bei den Verteidigern der Stadt fehlte. Trotz diesen Umständen dachte die Einheiten der YPG und YPJ nicht darüber nach, die Verteidigung aufzugeben.

Solidarität in Nordkurdistan reißt die Grenzen nieder

Die Türkei stärkte dem IS den Rücken, indem sie den Grenzübergang als “vierte Angriffsfront” auf Kobanê eröffnete. Hiergegen wuchs die Solidarität des nordkurdischen Volkes mit den Verteidigungseinheiten immer weiter. Das Volk reagierte auf den Solidaritäts-Aufruf Öcalans und machte das grenznahe Dorf Ziyaret zu einer Zentrale des Widerstandes. Dieser Widerstand schaffte es zum größten Teil die IS-Unterstützung der Türkei zu stoppen.

Das Volk aus Nordkurdistan ignorierte die zwischen den Kurden aufgezogenen Grenzen und zeigte eine starke Solidarität mit Rojava. Zum ersten Mal in der Geschichte sollten die im Vertrag von Lausanne beschlossenen Grenzen ihre Bedeutung verlieren. Kurdische Jugendliche überquerten die Grenze und schlossen sich der YPG und YPJ an. Dies wurde zu einer Quelle der Kraft für Kobanê.

Der IS reagiert mit noch schwereren Angriffen

Die Terroristen des IS reagierten auf die starke Solidarität aus Nordkurdistan mit noch intensiveren Angriffen. Alle drei Fronten wurden massiven Angriffen ausgesetzt. Die Ostfront litt darunter am meisten, da die geografische und territoriale Lage für die Verteidiger ungünstig war. Die YPG und YPJ setzten allerdings ihren Widerstand fort. An der Ostfront leitete der YPG-Kommandant Botanê Reş den Widerstand gegen den IS. Von Anfang führte die YPG einen riskanten, aber effektiven Widerstand an dieser Front. Kämpfer der YPG drangen immer wieder bis in die Reihen des IS vor, um die gegnerischen Reihen mit Handgranaten anzugreifen. Dieser Widerstand und der Wille der YPG überraschten den IS stark. Kommandant Reş kam in einem dieser Angriffe ums Leben und wurde zum Symbol des Widerstands an der Ostfront von Kobanê.

Der Widerstand an der Südfront

Gegen Ende Juni trat dann der Widerstand der YPJ in den Vordergrund. Im Dorf Kûnheftarê leisteten sieben YPJ’lerinnen einen große Widerstand, geraten aber in einen Hinterhalt auf einem naheliegenden Hügel.  Dennoch riss der Widerstand der YPJ unter der Kommandantin Medya nicht ab. Weitere YPJ Kämpferinnen versuchten den belagerten Hügel zu erreichen, um ihren Mitstreiterinnen zur Hilfe zu gelangen.

Der IS belagerte den Hügel von allen Seiten, was die YPJ Kämpferinnen dazu zwang, Stellungen unter der Erde auszuheben. Trotz allen Versuchen schafften es die IS-Banden nicht in die Stellungen der YPJ vorzudringen. Daraufhin setzte der IS die Umgebung des Hügels in Brand und versuchte die Kämpferinnen im Rauch zu ersticken. Nun begann ein Kampf gegen die Zeit: die Einheiten, die zur Verstärkung heranrückten, durften keine Sekunde verlieren, da ansonsten der IS die eingekesselten Kämpferinnen lebendig zu verbrennen drohte.

Die YPJ leistete an diesem Tag starken Widerstand gegen die Terroristen. Der IS musste die Belagerung aufgeben und sich in den Morgenstunden des nächsten Tages zurückziehen. Der Gruppe von Kommandantin Meryem, die den Unterstützertrupp für die Gruppe von Kommandantin Medya leitete, gelang es, die eingekesselten Kämpferinnen befreien. Nach diesem Widerstand wurde die Südfront Dorf für Dorf befreit und der Vormarsch des IS gestoppt.

Westfront: Die Aktion, die den Willen des IS brach

Die Westfront bestand mehr aus kleineren Hügeln, wodurch die YPG ihre Stellungen leichter halten konnte und dem IS großen Schaden zufügte. Dem IS eilte die türkische Armee an der Westfront zur Hilfe. Die Türkei übermittelte den Terroristen die Geo-Koordinaten der YPG Kämpfer, sodass der IS mehrere Positionen der YPG mit Panzern beschoss.

Der Rückzug aus Kobanê

Der IS erlitt seine erste große Niederlage in Kobanê. An der Ost- und Südfront wurde er nach schweren Verlusten auf die Höhe seiner Stellungen zurückgedrängt, die er vor der Offensive einnahm. Im Westen hatte er zwar größere Territorien unter seine Kontrolle gebracht, konnte aber einige Stellen ebenfalls nicht halten und musste sich zurückziehen. Nach dem Rückzug startete die YPG einen Gegenfeldzug zum Gedenken an die gefallenen Verteidiger der Stadt. Im Rahmen der Aktion wurden dutzende Dörfer befreit und der IS musste weitere Niederlagen einstecken. Gegen Ende Juni musste der IS sich in Richtung Deyr-e Zor und Tabqa zurückziehen.

Die Originalfassung erschien in türkischer Sprache unter dem Titel “YPG/YPJ’liler fedaice savaştı” am 16. September 2016.

Weiterlesen:

Zum Teil 1 des Kobanê-Specials

Zum Teil 2 des Kobanê-Specials