Der Widerstand von Kobanê – eine Chronologie des Kampfes um die Stadt (7)

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Teil 7 des Kobanê-Specials, Sedat Sur (ANF), Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit, 31.10.2016

Nun begann die Phase der Rückeroberung Kobanês. Nachdem die YPG- und YPJ-Einheiten über zweieinhalb Jahre hinweg die Angriffe gegen ihre Stadt abgewehrt hatten, gingen sie nun von der Verteidigungsposition über zum Angriff. Die Mission, den IS aus Kobanê und dem Umland zu vertreiben, sorgte für eine Aufregung im positiven Sinne bei den Verteidigern der Stadt. Sie alle waren hochmotiviert und schmiedeten die Pläne für den Angriff auf den IS. Und so wurden alle strategischen Punkte Kobanês benannt und mit Anbruch des Dezembers 2014 nach die Mission zur Rückeroberung ihren Lauf.

Die erste Operation gegen den IS ereignete sich am 2. Dezember in den beiden Vierteln Botana Şerki und Botana Xerbi im Süden der Stadt. Nach insgesamt fünf Tage andauernden Auseinandersetzungen wurden beide Viertel vom IS befreit. Die Befreiung beider Viertel war von strategischer Bedeutung und wurde bewusst als erster Ziel der Operation ausgewählt. Denn der IS hatte von diesem Teil Kobanês aus seine Angriffe im Stadtzentrum organisiert und umgesetzt. Der IS konnte außerdem über die Straße von Aleppo seinen Nachschub direkt in diese  beiden Viertel transportieren. Doch mit der Zurückdrängung des IS aus diesem Gebiet waren an der Südfront nun die YPG- und YPJ-Einheiten am Zug.

Noch am 29. November hatte der IS unter den Augen des türkischen Staates am Grenzübergang Mürşitpınar mit Sprengstoff beladene Fahrzeuge in die Luft fliegen lassen und vom Zollhaus aus einen letzten verzweifelten Angriff gewagt. Parallel dazu versuchte der IS von der Südflanke aus den Vormarsch, um vom Süden bis an die Nordgrenze der Stadt eine Schneise zu schlagen und die verbliebenen Verteidiger der Stadt im Westen Kobanês einzukesseln. Doch dieses Vorhaben gehörte mit den ersten Schlägen gegen die IS-Stellungen in Kobanê nun endgültig der Vergangenheit an.

Mission Rückeroberung: Punkt für Punkt, Stellung für Stellung

Der zweite Punkt der Operation richtete sich gegen die Präsenz des IS im Baqi Xido Kulturzentrum. Als der IS dieses Kulturzentrum einnahm, präsentierte sie der Welt Bilder vom Inneren des Zentrums, um deutlich zu machen, dass sie sich nunmehr mitten in der Stadt befinden. Die Rückeroberung des Zentrums hatte deshalb für die Verteidiger nicht nur eine strategische Bedeutung, sondern auch einen symbolischen Stellenwert.  Die praktischen Erfahrungen, die von den YPG- und YPJ-Einheiten bei der Verteidigung der Stadt notwendigerweise erlernt wurden, spiegelten sich nun auch bei der Rückeroberungsoperation wieder. Mit einer durchdachten Operation gelang ihnen nämlich die Vertreibung des IS aus dem Kulturzentrum und dem angrenzenden Gebiet. Mit diesem Erfolg drängten sie nun auch den IS an der Ostflanke zurück.

Die Ostfront war von Anfang an von strategisch herausragender Bedeutung. Sie führt nämlich bis zum Hügel Miştenûr. Hier hatte sich die YPJ-Kommandantin Arîn Mirkan noch vor zwei Monaten in die Luft gejagt, um den IS einen schweren Schlag zu versetzen, auch wenn die Kontrolle über den Hügel verloren war. Und von diesem Hügel aus konnte der IS die gesamte Stadt überblicken und seine Raketen in das Stadtzentrum abfeuern.

Und so schritten die Verteidiger Kobanês beflügelt von den jüngsten Erfolgen Stück für Stück an der Ostfront voran. Das nächste Ziel auf diesem Weg war das Gebiet um Mekteba Reş (die schwarze Schule). Dieses Gebiet gehört zum Stadtteil Kaniya Kurdan, das weiterhin unter der Kontrolle des IS stand. Doch Mekteba Reş ist innerhalb des Stadtteils ein etwas höher gelegener Punkt. Deshalb ist die Befreiung dieser Region zugleich die halbe Miete für die Befreiung des gesamten Stadtteils. Und dies würde wiederum den Weg in Richtung Miştenûr eröffnen.

Die Operation auf Mekteba Reş begann am 30. Dezember. Eigentlich waren mehrere Tage für die Befreiung dieses strategisch wichtigen Punktes eingeplant. Doch die Kämpferinnen und Kämpfer hatten es eilig. Es gelang ihnen pünktlich zum Neujahr den Punkt zu befreien.

Nun ist Miştenûr an der Reihe

Der Vormarsch auf dem Weg zur Befreiung des Ortes war nun im vollen Gang. Bei jeder Auseinandersetzung musste der IS schwere Verluste hinnehmen und seine Punkte dezimiert aufgeben. Natürlich bei diesen Vorstößen auch die regelmäßigen Luftangriffe der Anti-IS-Koalition eine wichtige Rolle.

Die Einheiten der YPG und YPJ hatten im nächsten Schritt ihre Vorbereitungen für den Miştenûr-Hügel abgeschlossen. Die erfolgreiche Befreiung des Hügels wäre zugleich der Sieg über den IS im Stadtzentrum von Kobanê. Als nächsten stünden dann der Aleppo-Weg im Süden Kobanês und der Weg zum Dorf Helincê und darüber hinaus nach Girê Spî (Tall Abyad) im Osten der Stadt auf der Tagesordnung. Doch zunächst galt die volle Konzentration dem Hügel Miştenûr, der bereits bei Sturm des IS zum Symbol des Widerstandes geworden war.

Gerade aufgrund der Aktion ihrer Kommandantin Arîn Mirkan hatte der Hügel insbesondere für die Frauen der YPJ eine besondere Bedeutung. Für sie galt es als Ehrensache die Vorreiterrolle für die Operation zur Befreiung des Hügels einzunehmen.

Am 18. Januar begann dann endlich die Befreiungsoperation.  Nach einem Tag und einer Nacht schwerer Gefechte gelangt dann tatsächlich die erste Gruppe YPJ-Kämpferinnen auf den Hügel. Nun liefern sie sich in direkter Augenhöhe mit dem Feind Gefechte. Der IS kann sich nicht lange halten und tritt nach herben Verlusten den Rückzug an. Der Hügel und damit das Stadtkern von Kobanê sind somit befreit.

Gegen die letzten Punkte, die vom IS noch gehalten wurden, starteten YPG und YPJ am 23. Januar eine weitere Offensive. Den Islamisten war klar, dass für sie nun nichts mehr zu holen war. Und so begannen sie damit, ihre letzten Stellungen vollständig zu verminen, um auf diesem Wege den Verteidigern noch Verluste zuzufügen.

Doch das schreckt die YPG- und YPJ-Mitglieder nicht mehr ab. Alle wollen an den Operationen teilnehmen, die den IS in Kobanê den endgültigen Schlag versetzen soll. Doch die Kommandanten mahnen ihre Kämpfer zur Ruhe. Es sollen auch keine Journalisten mit an die Front. Die Kommandanten sind darum bemüht sicherzustellen, dass niemand berauscht von den Erfolgen der letzten Wochen leichtsinnig wird.

Der Siegesruf über das Funkgerät

Und so verfolgen wir die letzte Schlacht im Stadtzentrum von Kobanê über die Funkgespräche der Kämpferinnen und Kämpfer. Viele YPG- und YPJ-Mitglieder, die ebenfalls nicht an der Operation teilnehmen konnten oder durften, verfolgen die Funksprüche ebenfalls sehr aufmerksam. Als dann die ersten „Biji berxwedana Kobanê“ („Es lebe der Widerstand von Kobanê“) Rufe über das Funkgerät ertönen, ist niemand mehr zu halten. Der Kampf um Kobanê ist entschieden! Der IS ist geschlagen.

Wir wollen sofort zu den siegreichen Kämpferinnen und Kämpfern aufbrechen. Doch die Kommandantin Avesta, die mit uns geduldig mitgelauscht hatte, hält uns zurück. Sie will ganz sicher gehen, dass auch die letzte Kampfhandlung beendet ist.

Und dann fangen die Kämpferinnen und Kämpfer an, über Funk das „Bijî Rojava“ Lied einzustimmen. Wir hören wie “Keç û Xortên Kûrdistan, Şer Dikin Ji bo Niştiman” gesungen wird. Dieses Lied, das auf Solidaritätskundgebungen und Demos in den vergangenen Monaten überall auf der Welt abgespielt oder gesungen wurde, wird nun von den siegreichen YPJ- und YPG-Kämpfern lauthals gesungen. Und nun hält es niemanden mehr bei uns auf. Die Kommandantin Avesta wird nicht einmal mehr gefragt. Alle brechen zu Kämpferinnen und Kämpfern an der Front auf. Unterwegs singen sie Lieder und rufen Slogans.

Eine tiefe und emotionale Freude macht sich breit

Die erfolgreichen Verteidiger der Stadt umarmen sich gegenseitig. In ihren Gesichtern ist eine unbeschreibliche Freude zu erkennen. Allerdings können viele auch ihre Emotionalität an diesem Punkt nicht mehr unterdrücken. Vielleicht spüren sie nun, im Augenblick des Sieges, den Schmerz über den Verlust ihrer Freundinnen und Freunde, die im Kampf um die Stadt ihr Leben lassen mussten, am tiefsten. Und so ist die Stimmung nach der Befreiung der Stadt nicht nur von einer tiefen Freude geprägt, sondern auch von Emotionalität und Trauer.

ENDE

 

Dieser Teil unseres Kobanê-Specials ist im Original in türkischer Sprache unter dem Titel “Kobanê özgürleşiyor am 24. September 2016 erschienen sind.

Weiterlesen:

Zum Teil 1 des Kobanê-Specials

Zum Teil 2 des Kobanê-Specials

Zum Teil 3 des Kobanê-Specials

Zum Teil 4 des Kobanê-Specials

Zum Teil 5 des Kobanê-Specials

Zum Teil 6 des Kobanê-Specials