Die AKP wurde zum Staat, der Staat zum Polizeistaat

ihd_logoIHD-Bericht 2011: 12685 Personen festgenommen, 3252 Personen gefoltert und misshandelt

Die Türkei hat sich zunehmend in einen autoritären Polizeistaat verwandelt, sagt IHD-Vorsitzender Türkdogan: „Wie lange wird die Gesellschaft noch mit diesen Rechtsverstößen leben können? Der 12.-September-Putsch wird verurteilt, aber in der Praxis gibt es keine Veränderung.“ Türkdoðan stellt einen signifikanten Anstieg der Menschenrechtsverletzungen gegenüber den Vorjahren fest: „Das ist sehr bedenklich. Diese beunruhigende politische Macht schafft einen Polizeistaat. Es gibt eine klare und offensichtliche Verschlechterung.“

Der Menschenrechtsverein IHD hat einen Bericht veröffentlicht unter dem Titel „Der institutionalisierte Polizeistaat: eine Bewertung der Menschenrechtsverletzungen im Jahr 2011“. Am 11. März 2012 erklärte IHD-Vorsitzender Öztürk Türkdogan auf einer Pressekonferenz bei der Mülkiyeliler-Vereinigung in Ankara: „Die Reihe der Todesfälle bei den schwerkranken Häftlingen in den Gefängnissen hält an und stößt auf Gleichgültigkeit bei der Regierung.“

Die Maßnahmen der Regierung bezeichnete Türkdogan als „Zerstörungspolitik“ und wies auf die anhaltenden und auch 2011 zunehmenden Probleme in den F-Typ-Gefängnissen hin. Er erinnerte an die fünf in Untersuchungshaft unter fragwürdigen Umständen zu Tode Gekommenen und forderte: „Sofortige Überwachungsgesetze für Sicherheitskräfte und die dringende Umsetzung dieser Mechanismen. Außerdem müssen die Dorfschützer abgeschafft werden. Im Hinblick auf Minen und Sprengkörper gilt nur die syrische Grenze als problematisch. Es gibt aber verminte Gebiete in neun Orten. Das verstößt gegen das Lebensrecht der Menschen. Die Verpflichtungen gemäß den Ottawa-Abkommen müssen umgesetzt werden.“

Abbruch der Verhandlungen führte zu mehr Todesfällen
In der kurdischen Frage hätten die Auseinandersetzungen eine äußerst kritische Dimension erreicht: „Während der Verhandlungen im vergangenen Jahr nahm die Zahl der Todesfälle ab, doch nach ihrem Abbruch stieg sie wieder. Für die Lösung des Konflikts muss eine gewaltfreie Lage hergestellt werden und die Verhandlungen müssen von beiden Seiten aufgenommen werden.“
Bei den ungeklärten Todesfällen von Soldaten und Polizisten seien ebenfalls keinerlei Vorkehrungen getroffen worden; die Gewalt und der in der kurdischen Frage praktizierte Chauvinismus seien auch mögliche Ursachen für diese Todesfälle, bemerkte Türkdogan.
Vorkehrungen müssten auch im Falle der Lynchangriffe getroffen werden, und er fügte hinzu: „Die Gewalt wächst auch gegenüber Frauen und Kindern. Die Gewalt kann nicht einseitig bekämpft werden. Das ist nicht ausreichend. Während es im Osten des Landes zu Gewalt und Zusammenstößen kommt, kann auch die Gewalt gegen Frauen und Kinder nicht verhindert werden.“
Türkdogan machte auf das Thema der Massengräber aufmerksam: „Derzeit sind 253 Anzeigen zu Massengräbern eingegangen und die Zahl der Betroffenen liegt bei 3248. Dieses Problem muss notwendigerweise geklärt werden. Da es aber hier an politischem Willen fehlt, gibt es Schwierigkeiten. Die Aktionen der Angehörigen von Vermissten werden fortgeführt. Auch in diesem Bereich fehlt es an ernsthaften Untersuchungen. Das Schicksal der gewaltsam Entführten ist immer noch unklar.“

Folter wird toleriert
Türkdogan betonte, dass Folter und Misshandlungen 2011 zugenommen hätten: „Dieser Punkt ist wichtig. Ausgehend von dieser Situation kann nicht von Demokratisierung gesprochen werden. Es ist die Rede von null Toleranz gegen Folter. Die Begriffe Folter und Toleranz widersprechen sich und lassen sich nicht zusammenbringen. Folter muss absolut verboten werden.“

Ministerpräsident Sahin sollte Gas schmecken
Türkdogan stellte die Äußerung Innenminister Sahins, Pfefferspray sei harmlos, der gegensätzlichen Entscheidung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs gegenüber: „Aber der verehrte Herr Innenminister sagt, dass Pfeffergas nicht schädlich sei. Wenn es nicht schädlich ist, soll er das Gas selbst einmal schmecken und sich anschließend äußern. Er sollte sich schnellstens bei der türkischen Öffentlichkeit entschuldigen.“

Situation verschlechtert sich
„Das Bild zeigt, dass die Situation sich verschlechtert“, sagte Türkdogan, bei dieser Zahl von Menschenrechtsverstößen könne nicht von Demokratie gesprochen werden. Die Regierung müsse dringend zusammen mit den Nichtregierungsorganisationen ein Reformpaket in das Parlament bringen, forderte Türkdogan und merkte an: „Bei der Meinungsfreiheit ist die Situation dieselbe. Die Zahl der Verstöße steigt im Vergleich zu den Vorjahren. Innerhalb eines Jahres ist der Zugang zu 6504 Internetseiten verwehrt worden. Das ist ein großes Problem im Hinblick auf die Meinungsfreiheit.“

Türkdogan beschrieb die Probleme im Justizbereich und kritisierte, dass die Berufungen in den Verfahren wegen Verstoßes gegen den Artikel 2911 von der 8. Kammer des Obersten Gerichtshofs an die 9. Kammer verlegt wurden.

Justiz in der Hand der Polizei
Nach Angaben des Justizministers seien 2007 10279 Verfahren wegen „Widerstandes gegen die Polizei“ eröffnet worden und diese Zahl sei 2010 auf 25497 angestiegen, führte Türkdogan aus und sagte, die Justiz arbeite nicht für die BürgerInnen, sondern für die Sicherheitskräfte: „Das Ministerium veröffentlicht diese Statistiken erst nach zwei Jahren, daher wird es die Angaben für 2011 erst Anfang 2013 geben.“ Er betonte, das sei eine unhaltbare Situation, die Regierung müsse das thematisieren und auswerten. Die für die Vorbeugung gegen Folter notwendige Prüfung müsse von unabhängiger Seite vorgenommen werden, sagte er und forderte die Regierung auf, die rechtlichen Bestimmungen in Koordination mit den Nichtregierungsorganisationen schnellstens in Angriff zu nehmen.

Situation der inhaftierten Kinder und Jugendlichen ist verheerend
Über die Lage der inhaftierten Minderjährigen [Kinder im türkischen Strafrecht sind alle unter 18-Jährigen] führte Türkdogan aus: „In den Gefängnissen sitzen 2309 Kinder ein. 2100 von ihnen sind verurteilte Häftlinge, also eine Rate von 90 % der Verhafteten. Sobald Kinder eine Straftat begangen haben, werden sie von den Gerichten sofort inhaftiert, obwohl in der Kinderrechtskonvention die Inhaftierung als letzte Maßnahme gilt. In diesem Zusammenhang ist der Fall von Pozanti beispielhaft. Im Umgang mit inhaftierten Kindern gibt es gravierende Probleme. Bei diesem Thema müssen die Richter ermahnt werden. Selbst bei den Erwachsenen liegt die Rate der Strafgefangenen bei 42 % der Einsitzenden. Auch diese Rate ist viel zu hoch, sie muss auf ein viel niedrigeres Niveau gesenkt werden. Die Überfüllungsquoten in den Gefängnissen sind ein weiteres Problem. In einem Bett schlafen drei Personen zu unterschiedlichen Tageszeiten.“

Sondergerichte und Antiterrorgesetze müssen aufgehoben werden
Türkdogan forderte die sofortige Aufhebung der mit Sonderbefugnissen ausgestatteten Sondergerichte und bemerkte: „Die Praxis der Regierung und die Praxis der Justiz gleichen sich immer stärker an.“

Polizeistaat hat sich institutionalisiert
Türkdogan verwies darauf, dass in der Türkei der Staat zunehmend autoritär werde und sich zu einem Polizeistaat gewandelt habe: „In einem demokratischen Land darf das alles nicht sein. Die meisten Rechtsverstöße unter der AKP-Regierung finden derzeit statt. Es muss sofort Abstand davon genommen werden. Wie lange kann dieses Volk noch mit diesen Verstößen leben? Während einerseits der Militärputsch vom 12. September 1980 verurteilt wird, gibt es andererseits keine Veränderungen in der Praxis. Der 12. September wird mit Verhaftungen, Untersuchungshaft, Folter und Rechtsverstößen fortgesetzt. Er muss als Ganzes aus unserem Leben verschwinden und demokratische Schritte müssen eingeleitet werden.“

34 Menschen aus Roboskî wurden hingerichtet
Die Bombardierung während der Luftangriffe bei Roboskî an der Grenze zum Irak am 28. Dezember 2011, bei der 34 Zivilisten getötet wurden, bezeichnete Türkdogan als Lynchjustiz und forderte von der AKP-Regierung konkrete Angaben zu den Befehlshabern.

Angriffe auf DemonstrantInnen besorgniserregend
Nach Angaben des Justizministeriums betrug 2007 die Zahl der Verfahren wegen Folter und Misshandlung nach den Artikeln 94, 95 und 96 des Türkischen Strafgesetzbuchs 350 Fälle, 2010 habe sie sich auf 755 Fälle erhöht, erklärte Türkdogan: „Bei so vielen eingeleiteten Folter-Verfahren muss sich die Regierung besinnen und die Sache überdenken.“ Nach den Daten des IHD von 2007 seien bei gesellschaftlichen Aktivitäten 34 Angriffe und 687 Folter- und Misshandlungsfälle registriert worden, führte Türkdogan aus: „Diese Zahl stieg 2011 auf 312 Angriffe und bei Folter und Misshandlung auf 3252. Das ist ein sehr kritischer Anstieg. Es ist überaus bedenklich.“

Unsere FreundInnen sollen freigelassen werden
Türkdogan ging auf die Repression, die Verhaftungen und die Untersuchungshaft gegen MenschenrechtsaktivistInnen ein und sagte: „Die Entlassung unseres Ehrenmitglieds Ragip Zarakolu hat uns sehr gefreut. Aber leider ist immer noch eine Vielzahl von MenschenrechtsvertreterInnen verhaftet und wir verlangen die sofortige Freilassung unserer FreundInnen.“ Er konstatierte ein insgesamt und offensichtlich sehr negatives Jahr und sagte, die politische Macht identifiziere sich mit dem „Polizeistaat“.

DIHA

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