Die arabische Frage im Mittleren Osten

Eine Bewertung von Abdullah Öcalan zur historischen Ursache der heutigen arabischen Probleme und möglichen Lösungsperspektiven, Civaka Azad, 09.06.2017

Um zu begreifen warum zweiundzwanzig arabische Nationalstaaten gegründet wurden, muss zunächst die hegemoniale Konstruktion der kapitalistischen Moderne im Mittleren Osten richtig verstanden werden. Mit historischen Auffassungen, die durch geschichtliche Darstellungen wie der „glorreichen Gründung des Nationalstaates” der Realität spotten, ist eine fundierte Analyse von Staats- und Gesellschaftsfragen nicht möglich. Die sogenannte arabische Frage ist somit nicht mit gängigen links- oder rechtsorientierten, religiös-konfessionellen, ethnischen und stammesartigen Geschichtsinterpretationen des etatistisch-kleinbürgerlichen Nationalismus erklärbar. Die  „arabische Frage“ ist auch nicht reduzierbar auf die Situation von Israel und Palästina, wie es gerne suggeriert wird. Die prekäre Situation der arabischen Gesellschaften rührt zuallererst aus der Teilung der Araber auf zweiundzwanzig Nationalstaaten her, die dadurch jene Staaten in die Rolle drängen als kollektive Agentenorganisationen der kapitalistischen Moderne zu agieren/handeln. Die Existenz von Nationalstaaten im Mittleren Osten ist im Hinblick auf die arabischen Völker das grundlegendste Problem. In diesem Kontext ist die „arabische Frage“ auf eine Problematik zurückzuführen, die mit der Konstruktion und Konstituierung der kapitalistischen Moderne in der Region zusammenhängt.

Ob radikaler, gemäßigter oder schiitischer Islam; alle islamisch-nationalistischen Ansätze mit denen versucht wird die kapitalistische Moderne zu ersetzen, stellen einen riesigen Betrug dar. Dieser Islamismus ist eine Art des Nationalismus, welcher sich seit Anfang des 19. Jahrhunderts unter der Hegemonie der kapitalistischen Moderne entwickelt hat. Zudem dient er als spezifisch-ideologisches Mittel des Kapitalismus im Mittleren Osten für die islamischen Staaten, welcher jedoch nicht mit der islamischen Zivilisation in Beziehung steht. Die verschiedenen Variationen des politischen Islam der letzten 200 Jahre gleichen, aufgrund der zuvor genannten Erläuterungen, dem maskierter Agenten der kapitalistischen Hegemonie. Sie wurden im Rahmen der kapitalistischen Moderne auf diese Art und Weise konstruiert und in Bewegung gesetzt. Ohnehin bestätigt sich diese Realität in den nationalen und gesellschaftlichen Problemen der arabischen Staaten, die sich in den letzten zweihundert Jahren vertieft haben. Sie stellen die entscheidenden ideologischen und politischen Hindernisse für den Kommunalismus und die demokratische Nation dar. Der kulturelle Islam ist jedoch anderes zu verstehen. Den kulturellen Islam im Rahmen der Traditionen zu verteidigen und dafür einzustehen hat eine bedeutende und positive Seite.

Wenn der Rahmen der kapitalistischen Moderne nicht transzendiert wird, werden sich die arabisch-israelischen und palästinensisch-israelischen Konflikte nicht davon befreien können, einem Katz und Maus-Spiel zu ähneln. Das Resultat ist am Ende, dass die Lebensenergie aller arabischen Völker nahezu seit 100 Jahren in Konflikten, deren Ende schon in vornherein klar ist, vergeudet wird. Wenn diese Konflikte nicht erfunden worden wären, wäre von einem Arabien die Rede, dass alleine schon über die Öleinnahmen in seiner Wirtschaftsleistung beispielsweise Japan um ein Zehnfaches übersteigen würde. Die wichtigste Folge dieser Feststellung ist, dass die Systematik der Nationalstaaten im Mittleren Osten entgegen aller Behauptungen nicht die Lösungsquelle von grundlegenden nationalen und gesellschaftlichen Problemen sind, sondern im Gegenteil die Quelle der Fortentwicklung, Verschlimmerung, Vertiefung und Unentwirrbarkeit der Probleme bilden.

Der Nationalstaat löst keine Probleme, er erschafft Probleme. Man kann das noch weiter ausführen, denn dasselbe System sorgt nicht nur für permanente Konflikte zwischen den mittelöstlichen Staaten, sondern stellt auch ein Mittel dar, um die Gesellschaften solange gegeneinander aufzuhetzen, bis sie sich letztlich gegenseitig verschlingen. Die Realität im Irak bestätigt diese Feststellung sehr gut. Wir können hierbei nicht die ganze Verantwortung auf die kapitalistische Moderne abwälzen. Islamische und linke realsozialistische Ideologien, die für sich den Anspruch erhoben, für die Lösung der Probleme und die Befreiung einzutreten, sind mindestens genauso verantwortlich für die jetzige Situation wie die Trägerelemente der kapitalistischen Moderne. So wie keinerlei Methode oder Programm, welche sie seit fast 100 Jahren den Völkern vorschlagen, von Erfolg gekrönt wurde, konnten sie letztlich auch keine andere Rolle spielen, als dem regionalen Aufbau der kapitalistischen Moderne zu dienen und dafür instrumentalisiert zu werden. Im Zusammenhang arabisch-etatistischer Ideologien und politischer Organisierungen können wir die Rolle dieser Tatsachen nicht verleugnen.

Die Alternative der demokratischen Moderne

Die arabischen Probleme sind wie die Probleme in der Türkei nicht unlösbar. Es wird versucht die Probleme über zwei Zugänge zu analysieren und zu lösen: Der erste Zugang stützt sich darauf, dass die jeweilige Seite innerhalb desselben Systems seinen Anteil über die Staats- und Gesellschaftskontrolle zu vergrößern versucht und dafür mit der Schaffung von gelenkten Konflikten Ergebnisse erzielen möchte. Das ist der Zugang, welchen die arabischen Nationalstaaten, die palästinische Befreiungsorganisation mit eingeschlossen, einschlagen, um auf diese Weise ihre Ziele zu erreichen. Mit Vereinbarungen wie dem Camp-David-Abkommen will man über diese Achse über kurz oder lang ans Ziel gelangen. Doch dieser Weg bedeutet nicht mehr als eine noch weitere Vertiefung der arabischen Gesellschaftsprobleme, was letztlich den radikalen Lösungsansätzen Auftrieb geben wird. Dieser Weg kann zwar die sich auf Öl stützenden arabisch- oligarchischen Nationalstaaten befriedigen, aber die tiefgreifenden wirtschaftlichen und demokratischen Forderungen der Völker können damit niemals zufriedengestellt werden. Die arabischen Völker haben einen Berg von wirtschaftlichen und demokratischen Problemen, der sich über die Geschichte angehäuft hat. Die arabischen Nationalstaaten, als Satellitenorganisationen der kapitalistischen Moderne, wollen von der praktischen Lösung dieser Probleme noch nicht einmal was hören. Die Probleme, die sich zunehmend verschlimmern und in Form von künstlichen religiösen und sektiererischen Konflikten verschleiert werden, entwickeln sich in solch eine Richtung, dass sie wie am Beispiel des Iraks entweder Auflösung, Zerfall und Konflikte bis zum bitteren Ende bedeuten oder tiefgreifende wirtschaftliche, soziale, kulturelle und demokratisch nationale Lösungen erfordern.

Der zweite Zugang bei der Lösung der arabischen Probleme kann nur auf Basis der Überwindung der kapitalistischen Moderne angegangen werden. Hier kommt die Loslösung vom System auf die Tagesordnung. Es muss richtig verstanden werden, dass der islamische Radikalismus oder der politische Islam keine alternative Moderne darstellt. Der Islam kann als Kultur nur im Leben einer alternativen Moderne zur kapitalistischen Moderne eine Rolle spielen. Die demokratische Moderne, als Paradigma, welches den historischen und gesellschaftlichen Realitäten der mittelöstlichen Völker am nächsten kommt, ist auch für die arabischen Völker die stärkste und angemessenste Option. Die alternative Moderne der Völker ist die demokratische Moderne, die immer im Kampf mit der kapitalistischen Moderne stand und aus der Einheit der demokratisch-nationalen, sozialistischen, ökologischen, feministischen und kulturellen Bewegungen besteht.


* Der Text ist eine Übersetzung aus der Verteidigungsschrift von Abdullah Öcalan „Kürt Sorunu ve Demokratik Ulus Çözümü – Kültürel Soykirim Kiskacinda Kürtleri Savunmak“ (Die kurdische Frage und die Lösung der Demokratischen Nation – Unter der Bedrohung durch den Genozid die Kurden verteidigen), welches in türkischer Sprache im März 2012 im Mezopotamya Verlag erschien.

Weitere Bücher von Abdullah Öcalan, in 11 Sprachen, werden vorgestellt bei: http://www.ocalan-books.com/