Die Bedeutung hinter den Angriffen auf Shengal und Rojava

Fehim Taştekin für Gazete Duvar, 27.04.2017

Die Türkei hat nach einer langen Episode von Drohungen nun zum Schlag gegen die „feindlichen Elemente“ in Şengal und Rojava ausgeholt. Die Ziele wurden zunächst durch unbemannte Drohnen ausfindig gemacht, bevor die Angriffe durch die F-16 Kampflieger geflogen wurden. „Ziel erfassen – angreifen – vernichten“, das ist es, was den Soldaten interessiert. Über welche sozialen, politischen, historischen oder geographischen Bezüge das Zielobjekt verfügt, das interessiert den Soldaten in dem Moment nicht. Doch wenn sich die Politik allein auf die Logik des Soldaten verlässt, dann bedeutet das wenig Gutes.

Egal welcher Ideologie wir nachhängen, wir müssen uns zunächst mit den Realitäten am Boden auseinandersetzen. Anschließend kann jeder aus seiner Perspektive die eine oder andere Schlussfolgerung ziehen.

Und die Realität sieht wie folgt aus: Die kurdische Bewegung, die der Linie der PKK folgt und von der die AKP tagtäglich behauptet, dass ihr Ende nah sei, hat in einem breiten geographischen Raum Wurzeln geschlagen. Wir hingegen sind in den letzten Jahren bei militärischen Operationen auf die PKK-Zentren in den Kandilbergen morgendlich mit Nachrichten aufgewacht, die davon sprachen, dass man „die Wurzeln der Terrororganisation“ ausgetrocknet habe. Als es am 25. April zum türkischen Angriff auf die Şengalberge im Nordirak kam, durften wir erneut solche Schlagzeilen lesen.

Doch die Wahrheit sieht auch hier anders aus, als wie es uns die Zeitungen mitteilten. Die kurdische Bewegung, die mit den Ideen Öcalans sympathisiert, kontrolliert heute rund 1/3 des syrischen Staatsterritoriums. Im Norden des Iraks ist es wieder diese kurdische Bewegung, die über ein Gebiet Einfluss ausübt, das von Şengal bis nach Kirkuk reicht. Kurzgefasst, je weiter wir die friedliche Lösung der kurdischen Frage in der Türkei auf die lange Bank geschoben haben, desto stärker ist der Einfluss von kurdischen Organisationen auf PKK-Linie in der Region und auf internationaler Ebene geworden. Zu guter Letzt sind die Kurden in Syrien sogar zu einem wichtigen Partner der USA geworden. Dass es soweit kommen konnte, das liegt zum großen Teil an der Fehlpolitik der AKP im Inland und in der Region.

Eine syrische Organisation nach der anderen, die eigentlich mit der Zielsetzung des Sturzes von Assad gegründet wurden, ist von der Türkei dazu angetrieben worden, Rojava anzugreifen. Die YPG hat als Antwort darauf eine starke Verteidigungslinie entwickelt und die Region Nordsyriens gegen Gruppen wie den IS, die Nusra-Front oder Ahrar al-Sham geschützt. So haben sie nicht nur die Sympathien der Kurden, sondern aller dort lebenden Volksgruppen sammeln können. Vor allem der Kampf gegen den IS hat den Akteuren aus Rojava ein neues Niveau an Legitimität verschafft. Işo Gweriye, der Vorsitzende der Suryoye Einheitspartei, erklärt das Ganze auf einfache Weise wie folgt: „Während der Rest von Syrien zur Hölle verwandelt worden ist, haben die YPG und die Asayish-Kräfte hier für Sicherheit und Stabilität gesorgt. Es steht außer Frage, dass dies hier von allen Völkern geschätzt wird…“

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Die Politik der Türkei in den letzten fünf Jahren war weder darin erfolgreich, die Errungenschaften der YPG zunichte zu machen, noch das Erstarken der Beziehungen zwischen den Kurden, den Arabern und sogar den Turkmenen zu unterbinden. Das einzige Ergebnis, zu dem die türkische Politik in dieser Zeit geführt hat, war, dass Organisationen wie der IS erstarken konnten. Sie werden nun fragen, ob denn die Operation Euphrat-Shield nicht zur Verhinderung des kurdischen Korridors geführt hat? Ob das denn nicht als Erfolg aus türkischer Sicht zu werten ist? Das ist wahr, mit dem Rückzug des IS ist es den Gruppen, die vom türkischen Militär unterstützt werden, gelungen, die Linie al-Bab – Dscharablus unter ihre Kontrolle zu bringen und so den „kurdischen Korridor“ zu unterbinden. Doch dieser begrenzte Erfolg hatte keinen Einfluss auf Gebiete wie Minbic (Manbidsch) oder Til Rifat, die von den pro-türkischen Gruppen zu den nächsten Zielen der Operation erkoren worden sind. Am Ende musste die Türkei gar das Ende der Operation „Euphrat Shield“ verkünden. Gleichzeitig ist aber auch klar, dass damit die türkischen Spielchen noch nicht am Ende sind. Der Druck auf den Kanton Afrin wächst weiterhin. Zugleich stellt die Türkei Überlegungen an, wie sie die Verbindungslinie zwischen den Kantonen Kobanê und Cizîrê kappen kann.

Noch vor den Luftangriffen der Türkei auf Şengal und Qaraçok (Rojava) tauchte in den türkischen Medien folgendes Szenario auf: Die türkische Armee wird in Tal Abyad (Girê Spî) einmarschieren und somit eine weitere Verbindungslinie zwischen den Kantonen abkappen. Nachdem die YPG aus der Stadt vertrieben wird, sollen die Reste der Freien Syrischen Armee die Stadt kontrollieren. Die Bevölkerung, die angeblich durch die YPG aus der Stadt vertrieben wurde, soll dann die Möglichkeit erhalten, zurückzukehren. Ich weiß zwar nicht, wer Szenarien dieser Art entwirft. Aber sie sind höchstgradig manipulativ und verbreiten fehlerhafte Informationen. Denn in Tal Abyad wurde nach der Befreiung vom IS eine gemeinsame Verwaltung von Arabern, Kurden und Turkmenen errichtet. Der größte Teil der Bevölkerung ist mit dem Ende der Kämpfe wieder zurückgekehrt. Und bei denjenigen, die das nicht getan haben, sollte man tatsächlich genauer hinschauen…denn vielleicht liegt das an ihren Beziehungen zum IS!

Zudem wirkt die arabische Bevölkerung von Tal Abyad nicht gerade so, als ob sie eine türkische Intervention begrüßen würde. Die dort lebenden Araber haben traditionell gute politische Beziehungen zum syrischen Staat. Weswegen sie dennoch mit den Kurden in ein Bündnis getreten sind, liegt daran, dass in Rojava eine Praxis des kollektiven Lebens und der gemeinsamen Verteidigung umgesetzt wird. Solange es von dieser Praxis keine Abkehr gibt, wird auch die Zusammenarbeit der Völker fortgesetzt werden.

Die Türkei präsentierte demgegenüber als Alternative die Gründung der „Euphrat-Cezire Befreiungsarmee“, nachdem sie in Urfa Vertreter dutzender arabischer Stämme zusammengetrommelt hatte. Ob es sich dabei tatsächlich um eine Alternative handelt, ist mehr als fraglich. Die Türkei hat vielfach ähnliche Versuche gestartet, doch bislang hat niemand diese vermeintlich tausende Soldaten umfassenden Heere in Richtung Euphrat marschieren sehen. Viele der einflussreichen syrisch-arabischen Stämme, die zu Anfang für den Sturz des Assad-Regimes mit den Golfstaaten und der Türkei kooperierten, kämpfen heute gemeinsam mit den Demokratischen Kräften Syriens. Dass sich das auf die Schnelle in sein Gegenteil verkehrt, ist unter den gegebenen Bedingungen äußerst unwahrscheinlich.

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Eigentlich müsste das den Machthabern in Ankara auch klar sein. Doch weshalb beharren sie dann so sehr auf ihrer Linie? Was erhoffen sie sich durch die Operationen?

Zunächst einmal müssen wir festhalten: Wenn es darum geht, dass die Kurden einen Status erlangen könnten, dann erliegen in der Türkei der Staat, die Regierung und im großen Maße auch die Opposition der Furcht des „Separatismus“. Diese Furcht ermöglicht, dass die Unterdrückung der Kurden unhinterfragt fortgeführt werden kann. So gesehen, müssen die Angriffe auf Rojava als eine Fortsetzung der allgemeinen Kurdenpolitik der Türkei gewertet werden.

Wenn wir nun zu den tagespolitischen Überlegungen übergehen, so bewertet die Türkei die Kooperation der USA mit den Kurden als ihr größtes Problem. Die türkische Regierung hatte gehofft, dass die USA infolge der „Euphrat-Shieldes“ Operation die Kurden fallen lässt und anstelle dessen mit der Türkei in Richtung Rakka marschiert. Vermutlich war das auch die Hauptabsicht hinter den türkischen Angriffen auf Rojava. Doch das Erhoffte ist nicht eingetreten. Denn während Ankara versuchte, die USA mit der Wahl zwischen „der PKK oder der Türkei“ unter Druck zu setzen, begegnete die Washington, dass man weiter auf die Demokratischen Kräfte Syriens setzen werde und die YPG und die PKK nicht als das Gleiche betrachte.

Und auch wenn die USA mit dieser Taktik versucht, dem „Entweder-Oder“-Spiel der Türkei auszuweichen, könnten doch die anhaltenden Angriffe der Türkei auf Rojava Probleme für die Rakka-Operation mit sich bringen. Denn im äußersten Fall würde sich die YPG gezwungen sehen, ihre Kräfte aus der Rakka-Front in Richtung Norden zu verlegen, um dort gegen die türkischen Angriffe Widerstand zu leisten. Und das wäre letztlich genau das, was die Türkei möchte. Aus diesem Grund erklären die YPG-Quellen, mit denen ich in Kontakt stehe, dass sie, solange wie nur möglich, keinen Abbruch der Rakka-Operation riskieren möchten.

Die Kalkulation der Türkei ist nämlich, dass wenn die Rakka-Operation geschwächt wird, die USA vielleicht die ganze Zusammenarbeit mit den Kurden in Syrien infrage stellen  würde und dann sich doch für die türkische Alternative entscheiden könnte. Es verwundert daher auch nicht, dass sich die türkischen Angriffe pünktlich vor dem Staatsbesuch des türkischen Präsidenten Erdoğan beim US-Präsident Trump ereignen. Allerdings ist auch Washington sich bewusst, dass man nicht allzu viele Alternativen in Syrien hat. Und so versucht sie mit allen Mitteln irgendwie, sowohl die Türkei als auch die Kräfte Rojavas in einem Boot zu halten.

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Neben dem USA-Faktor gibt es noch innersyrische Gründe, welche eine weitere Intervention der Türkei in  Nordsyrien erschweren. Denn ist das Angriffsziel Rojava, so hat die Türkei nicht nur eine militärische Organisierung ihr gegenüber, sondern auch eine autonome Selbstverwaltung mit sozialen, politischen, kulturellen und ökonomischen Elementen. Es steht außer Frage, dass der Widerstand einer solchen Selbstorganisierung bei einem äußeren Angriff über eine ganz andere Intensität verfügen wird. Und die Türkei wird nicht nur mit dem Widerstand der Kurden konfrontiert sein. Ihr gegenüber werden alle Volksgruppen stehen, die Teil dieser Autonomie sind. Und zu guter Letzt wird die YPG vom Syrischen Staat nicht als Terrororganisation betrachtet. Damaskus wird seine Priorität auf Verhandlungen mit den Kurden, nicht auf Krieg setzen. Demgegenüber sind viele Kreise im Irak und in Syrien davon überzeugt, dass durch die Angriffe der Türkei vor allem der IS profitiert. Die gegenteiligen Behauptungen der Türkei wiegen nicht viel, denn die Regierung in Ankara hat über sechs Jahre hinweg aktive Unterstützung für den IS  geleistet. Dass dieselbe Regierung nun durch Angriffe auf die Kurden dem IS von Neuem Luft zum Atmen gibt, verwundert daher nicht. Und wenn man nun die Angriffe auf Shengal hinzunimmt, also eben auf jene Stadt, in welcher der IS 2014 einen Genozid an den Êzîden verübt hat, so wirken die Luftangriffe der Türkei auf diese Stadt wie die Fortsetzung dessen, was der IS begonnen hat.

Diese Realitäten machen Folgendes deutlich: Geschweige dessen, dass die Angriffe ohnehin keinerlei militärische Erfolgsaussichten haben, führen ihre Ergebnisse zu nichts anderem, als das vielfältige neuen Feindschafte gegen die Türkei in der Region geschürt werden.