Die Befreiung von Minbic – Rückblick und Lagebewertung

minbic_2Umut Şerzan für Hawarnews (ANHA), 11.08.2016

Die Befreiung Minbics nach monatelangen turbulenten Kämpfen öffnet neue Lösungswege für das seit 2011 krisenbehaftete Syrien. Die Kinder dieses Landes, die zu Massen dem Aufruf ihres Volkes gefolgt und in den Krieg gezogen sind, haben Schritt für Schritt Frieden geschaffen.

Die Stadt Minbic 

Minbic, das eine große Region im Norden Syriens darstellt, liegt 85 km südlich zu Aleppo, 40 km nördlich zu Dscharablus, 65 km östlich zu Kobanê und 45 km westlich zu Al-Bab.

Die Bevölkerung von Minbic setzt sich zu 68% aus Arabern, 25% Kurden, 5% Turkmenen und 2% Tscherkessen zusammen.

Die gegenwärtige Situation in Minbic

Durch den Erfolg der Kämpfer aus Minbic schließt sich eine wichtige Versorgungsroute des sogenannten “Kalifats” des “islamischen Staats”. Die Stadt symbolisiert für viele Kräfte in Syrien eine strategisch wichtige Brücke zur Umsetzung der Pläne zur Belagerung von Aleppo. Die Entfernung zur Türkei beträgt lediglich eine Fahrtstunde, nach Ar-Raqqa, der “Hauptstadt” des IS, sind es zwei Fahrtstunden.

Die Stadt fungierte bisher als Hauptlager für Neuankömmlinge des IS, die sich nach Überqueren der türkischen Grenze dort versammelten. Die als logistisches Zentrum genutzte Stadt Minbic befindet sich im Zentrum zwischen Ar-Raqqa und Aleppo sowie zwischen Ar-Raqqa und Homs.

Die Befreiung von Minbic stellt einen weiteren wichtigen Sieg gegenüber dem IS in Rojava dar. Minbic, als „Brücke“ zwischen Irak und Syrien, diente dem IS gleichermaßen als Zugang nach Europa, der ihnen nun verwehrt bleibt.

Durch die Route Mosul-Raqqa-Minbic hielt der IS die Verbindung zwischen Irak und Syrien aufrecht. Die Stadt gewährleistete für den IS auch die regionale Verbindung zwischen Minbic-Aleppo-Sehba und Minbic-Dscharabulus-Ezaz, wodurch ihr die Rolle einer wichtigen strategischen Militärbasis zukam.

Dadurch, dass der Kanton Kobane von einer Bedrohung seitens des IS größtenteils befreit ist, wird die Region rund um den Euphrat eine sichere Zone werden. Minbic, stellt für den IS auch einen strategisch bedeutsamen Stützpunkt für den Öl-Verkauf dar. Der IS verkaufte das Öl aus dem Irak und Syrien, mithilfe der AKP und KDP, über Südkurdistan und Dscharablus in die Türkei und leistete so einen wichtigen Beitrag zur Wirtschaft der AKP.

Um der zweijährigen IS-Besetzung ein Ende zu bereiten, wurde am 2. April 2016 der Minbic Militärrat gegründet, der sich aus arabischen, kurdischen, armenischen und turkmenischen meist jungen Menschen zusammensetzt. Das oberste Ziel war es die regionale Bevölkerung von der Tyrannei und Repressionen des IS zu befreien. Die Minbic Offensive wurde durch die Behinderungen und paranoiden „roten Linie“ der AKP Regierung später als geplant gestartet. Die Türkei erklärte den Euphrat zur “roten Linie” und machte klar, dass „sie (gemeint die Demokratischen Kräfte Syriens) den Euphrat nicht überqueren dürfen“.

Die AKP hat jegliche Provokationsszenarien, von der Bombardierung der Region Rojava bis hin zum Abschuss des russischen Kampfjets verwirklicht – jedoch hat sie dadurch keinen Erfolg erzielen können. Mit der Minbic Offensive ist die Syrien-Rojava Politik der AKP Regierung als auch die türkische Außenpolitik gänzlich ins Leere gelaufen. Die Kämpfer haben die aufgezeigten „rote Linie“ bereits überquert.

Minbic Kämpfer im Einsatz

Dem Aufruf der regionalen Bevölkerung folgend wurde vom Minbic Militärrat am 1. Juni die breit angelegte Offensive zur Befreiung von Minbic, die seit Januar 2014 vom IS besetzt wird, gestartet.

In der ersten Nacht der Offensive wurde das Dorf Mustefa Hemdan befreit, gefolgt von den Dörfern Xirbet Zemalê, Halûlê,  Seqawiyê, Xirbet Rûs, Nord und Süd Til Arîşa, Wexfiyê Xilfiyet, Ebû Qelqel und weiteren 210 Dörfern.

Durch die Operationen wurden 140.000 Zivilisten gerettet und über 4000 IS-Terroristen getötet. 2300 Leichname von IS-Kämpfern wurden von den Ratskämpfern aufgefunden. An den Fronten Tişrîn und Qaraqozax wurde die Offensive von 4 Richtungen gestartet. Am dritten Tag wurde Abu Leyla, Mitglied des Militärrats und Kommandant der Sektion El-Semal, während den Operationen verletzt und verstarb am 5.Juni im südkurdischen Sulemaniye in einem Krankenhaus. Nach seinem Tod wurde die Offensive zu „Operation Märtyrer und Kommandant Faysal Abu Layla“ umbenannt.

Von großer Motivation getrieben haben die Ratskämpfer binnen kurzer Zeit alle Dörfer von Minbic vom IS befreien können. Innerhalb eines Monats haben die Kämpfer an den Fronten im Norden, Süden, Westen und Osten der Stadt über 200 Dörfer und hunderte Felder vom IS befreit. Bei der Befreiung der Dörfer wurden über 2000 IS-Terroristen getötet, über 600 Leichen konnten aufgefunden werden und viele Waffen und Munitionen konnten von den Kämpfern sichergestellt werden. Binnen einen Monats wurden 75 000 Zivilisten und ein Gebiet von 200 km² befreit.

Im Rahmen der Operation zur Befreiung der Dörfer wurden vier Waffenlager und drei Lager, in denen Minen und Sprengstoff durch den IS produziert wurden, unter die Kontrolle der Befreier gebracht. Die Expertenteams der Ratskämpfer haben im Zentrum und den umliegenden Dörfern 7000 Minen und Sprengstofffallen, die von IS angelegt wurden, entschärft. Außerdem wurden 20 mit Sprengstoff beladene Fahrzeuge vernichtet.

Die zweite Etappe der Operation

Nachdem alle Dörfer der Stadt Minbic von der IS Besatzung befreit wurden, haben die Kämpfer des Minbic Militärrats zunächst die Zugangsrouten des IS nach Dscharablus und Al-Bab abgekanzelt. Anschließend haben sie das Stadtzentrum von Minbic von vier Frontlinien aus allen Himmelsrichtungen eingekesselt und die die zweite Etappe der Offensive zur Befreiung des Stadtzentrums begonnen.

Die zweite Etappe der Offensive, die Ende Juni begann, führte zu Panik innerhalb der Reihen des IS, sodass sie im Zentrum der Stadt an bestimmten Schlüsselorten Minen und Sprengstofffallen anzulegen begannen. Außerdem haben IS-Kämpfer Zivilisten als lebendige Schutzschilde missbraucht und die Menschen vor der Flucht in die befreiten Gebiete behindert.

Diese Faktoren haben in der zweiten Etappe der Offensive zur Befreiung des Stadtzentrums den Vormarsch der Ratskämpfer verzögert. Da das vorrangige Ziel des Minbic Militärrats die Befreiung der Zivilisten war, wurde ein aus 15 Kämpfern bestehendes Spezialteam zur Rettung von Zivilisten aufgebaut, die sich zum einen aus Kämpfern, die an vorderster Front die Angriffe des IS zusammensetzte und zum anderen aus Sprengstoffexperten, die Minen und andere Sprengstofffallen entschärfen sollten, bestand. Kontrolliert haben die Ratskämpfer ihren Vormarsch fortgeführt, und haben als erstes die Stützpunkte des IS in den Straßen entlang des Stadtzentrums zerschlagen, sodass ihnen der Zugang zum Stadtzentrum ermöglicht wurde. An den nördlichen und östlichen Frontlinien wurden die Zivilisten aus der Stadt gerettet, im Süden und Osten haben die Ratskämpfer die befreiten Zivilisten in die befreiten Regionen gebracht.

Die Ratskämpfer haben die IS-Banden von vier Richtungen aus eingekesselt. Auf der einen Seite haben sie durch den konstanten Aufmarsch den Kreis immer enger gezogen, auf der anderen Seite haben sie Zivilisten befreit und die vom IS gelegten Sprengstofffallen entschärft.

Der IS und seine Komplizen kochen vor Wut

Nachdem der Minbic Militärrat im Kontext der zweiten Etappe der Operationen das Stadtzentrum von Minbic umzingelt hat, haben die Komplizen des IS, wie die Türkei, Katar und Saudi-Arabien, für die die Verhinderung der Befreiung von Minbic aufgrund der eigenen Interessen von enormer Wichtigkeit ist,  die Islamisten logistisch und mit Munition unterstützt.

Die AKP Regierung, die den erfolgreichen Fortschritt der Befreier nicht verkraften konnte, hat ihre Feindschaft gegenüber der Offensive und dem demokratischen Föderalismussystem in Rojava und Nordsyrien mehrfach durch öffentliche Erklärungen bekundet.

Dasunter der Führung der Kurden ins Leben gerufene Demokratische Selbstverwaltungsmodell von Rojava  hat den türkischen Staat, das syrische Baath-Regime und den Iran gar zusammengeführt. Durch die Vermittlung des Irans kam es nämlich zu einem Zusammentreffen von Vertretern des  türkischen Staates und dem Assad-Regime in Algerien.

Die Belagerung von Minbic hat auch dazu geführt, dass verschiedene islamistische Gruppierung neue Ziele für sich definiert haben. Verschiedene  Islamistengruppen, die bis vor kurzer Zeit noch mit der Unterstützung der Türkei auf der Route Azaz-Mare gegen den IS gekämpft haben, attackieren nun Dörfer von Cindiris, einem Distrikt des Kantons Afrin. Die IS-Banden haben die Dörfer zwischen Azaz-Mare diesen Banden überlassen und haben die Belagerung von Mare aufgehoben. Gemäß Informationen aus der Region, soll der IS unter Führung der Türkei, die Dörfer bis 25 km südlich von Azaz, an der Grenze zu Al-Rai an die anderen Islamistengruppen überlassen haben. Da der Fall von Minbic sicher vorauszusehen war, sollte mithilfe der logistischen Unterstützung der Türkei der IS in Al-Bab für den Kampf gerüstet werden. In diesem Sinne versucht der IS, ihre Kräfte aus Dscharablus langsam in den Norden von Al Bab zu ziehen. Um den IS-Banden im Norden von Minbic Unterstützung zu schicken, haben die Banden mehrmals durch Anschläge versucht, die von den Ratskämpfern kontrollierte Route zwischen Minbic-Dscharablus zu durchbrechen, wurden jedoch jedes Mal zurückgeschlagen.

Die Eingriffe der AKP-Regierung in Form von Vorschlägen wie eine „Pufferzone“, eine „sichere Zone an der Grenze“, oder „die rote Linie westlich zum Euphrat“ haben in Syrien und Rojava jegliche Bedeutung verloren. Mit der wahrscheinlichen Befreiung von Al-Bab und Shehba nach Minbic wird sich für die Türkei die Route zwischen Aleppo und Homs verschließen. Für die Türkei bedeutet dies, dass die wirtschaftliche Route zum Mittleren Osten, insbesondere nach Katar, Saudi Arabien und Afrika verschlossen sein wird.