„Die Demokratische Föderation Nordsyrien ist die Garantie für ein demokratisches und einheitliches Syrien“

Bese Hozat, Kovorsitzende des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Firat (ANF); im Folgenden veröffentlichen wir Auszüge aus dem Interview zu aktuellen Entwicklungen in Syrien und dem Irak, insbesondere dem geplanten Referendum in Südkurdistan (Nordirak), 05.09.2017

Wohin führt das Bündnis Russlands, der Türkei, des Irans und Assads in Syrien? War Astana ein offizieller Schritt in Richtung eines solchen Bündnisses und welche Bedeutung hat es aus Sicht der Türkei?

Zwischen den hegemonialen Kräften kommt es nicht mehr zu einer starken und ausgeprägten Polarisierung wie etwa zu Zeiten des Kalten Krieges. Sie sind durch Beziehungen und gleichzeitige Widersprüche eng miteinander verbunden. Akteure, deren Interessen sich je nach Konjunktur überschneiden, können in Absprache miteinander handeln und für eine gewisse Zeit taktische Bündnisse und Beziehungen miteinander aufbauen. Es wäre jedoch nicht richtig, solche Beziehungen als feste Blöcke, einheitliche Fronten oder dauerhafte Bündnisse zu begreifen. Wir leben in einer globalen Welt. Die kapitalistischen Mächte sind aufs tiefste politisch, wirtschaftlich, militärisch und in anderen Bereichen miteinander verbunden. Natürlich befinden sich sie in einem Verhältnis der ständigen Konkurrenz und des Konflikts, aber das ist Teil der Dialektik aus Beziehungen und Widersprüchen.

Die Beziehungen Russlands, der Türkei, des Irans und Assads können wir nicht unabhängig von dieser Realität verstehen. Russlands Beziehungen zur Türkei sind vorübergehender und taktischer Natur. Russland versucht derzeit ausgehend von Syrien seinen Einfluss in der Region auszubauen. Es hat sich die Möglichkeit verschafft, Zugang zum Mittelmeer zu erhalten und möchte die Errungenschaft nicht wieder verlieren. Daher versucht Russland sich dauerhaft in Syrien festzusetzen. Die russischen Interessen werden von der Syrienpolitik der Türkei seit langer Zeit behindert. Die Beziehungen der Türkei zu Al-Kaida und dem Islamischen Staat (IS) haben negative Auswirkungen auf die Politik Russlands in Syrien, aber auch in Kaukasien, der Ukraine und der Krim. Russland bezweckt mit seiner Politik:

– die Türkei von der NATO und von Europa zu entfremden

– die bewaffneten Gruppen, die von der Türkei abhängen, mit Hilfe der Türkei zu zerschlagen

– die Türkei als Druckmittel gegen die Kurden in Syrien zu nutzen, um die Kurden an sich zu binden

Das Ziel der Türkei fußt auf zwei Säulen, ist im Endeffekt jedoch eindimensional:

– mit Hilfe Russlands den Aufbau eines demokratisch-föderalen Staatssystems in Syrien zu verhindern

– auf diesem Weg den Kurden in Syrien einen Status und den Völker Syriens Freiheit und Demokratie zu verweigern

Die Beziehungen der Türkei zum Iran beruhen auch auf der Feindschaft gegenüber den Kurden. Die Türkei versucht, den Iran auf die eigene Seite zu ziehen. Sie unternimmt Anstrengungen, um den Iran in Konflikte mit den Kurden hineinzuziehen, ihn zu einem Feind der Kurden und andersherum die Kurden zu einem Feind des Irans zu machen. Die Türkei ist darum bemüht, durch den Einfluss des Irans auf das syrische Regime den Aufbau eines demokratisch-föderalen Systems in Syrien zu behindern. In Ostkurdistan (Nordwestiran) und  Şengal (Südkurdistan/Nordirak) versucht die Türkei Angriffe des Irans auf die Kurden zu provozieren. Sie stellt dem Iran eine große Falle, indem sie ihn in eine anti-kurdische Allianz hineinzuziehen versucht.

Haben die Verhandlungen in Astana der Türkei nicht auch neue Möglichkeiten verschafft?

Mehr als der Türkei haben die Verhandlungen in Astana den Plänen Russlands und des Irans den Weg bereitet. In den Verhandlungen konnten Russland und der Iran klare Ergebnisse erzielen. Aus Sicht der Türkei ergaben die Verhandlungen die Möglichkeit nach Al-Bab (Nordsyrien; Redaktion) vorzudringen. Es ist jedoch nicht klar, in wie weit dieser Vorstoß in Zukunft einen tatsächlichen Gewinn darstellen wird. Als Folge der Verhandlungen hat die Türkei die von ihr abhängigen Gruppen Stück für Stück verkauft. In ihrer grundlegenden Politik hat die Türkei eher Rückschritte gemacht. Die hegemoniale, sektiererische Politik der Türkei in der Region ist vollständig gescheitert.

Sucht die Türkei deshalb die Nähe des Irans?

Die Annäherung der Türkei an den Iran hängt eng mit dem Scheitern der türkischen Politik in der Region zusammen. Mit Unterstützung der USA, Englands und Israels wird derzeit unter Führung Ägyptens und Saudi-Arabiens ein neues sunnitisches Bündnis aufgebaut. Die Türkei und Katar werden derzeit von diesem Bündnis ausgeschlossen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt hat die Türkei ihre Rolle als Modell für die Region verloren und in diesem Zusammenhang einen Großteil ihres Einflusses eingebüßt. Jetzt versucht die Türkei auf Grundlage ihrer kurdenfeindlichen Politik wieder mit den Kräften ein Bündnis zu schmieden, die sie vor kurzem noch bekämpfte. Der Iran steht dabei an oberster Stelle. Die AKP ist ebenso nationalistisch wie sektiererisch. Sie hält nicht viel vom Iran. All ihre Anstrengungen gelten dem Vorhaben, den Iran in Konflikte mit den Kurden zu bringen. Solch ein Szenario würde wäre auch im Sinne einiger andere Akteure. Wir hoffen, dass der Iran sich dieser Situation bewusst ist.

Können die Angriffs- und Besatzungspläne der Türkei auf die Kantone Afrin und Şehba nicht als Folge der Astana-Verhandlungen verstanden werden?

Die faschistische AKP-MHP-Regierung hat den Plan Afrin und Şehba zu besetzen. Sie gehen auch ganz offen mit ihren Plänen um. Zur Umsetzung ihrer Pläne benötigen sie jedoch internationale Unterstützung. Ohne die Erlaubnis und Unterstützung der USA und Russlands kann die Türkei ihre Pläne nur sehr schwer umsetzen. Das alleinige Ziel der Türkei ist es, ein demokratisches System in Syrien zu verhindern. Mit dem Plan Şehba zu besetzen verfolgen sie genau dieses Ziel. Die Besetzung Şehbas würde sowohl die Rakka-Operation schwächen, als auch die islamistischen Gruppen in Idlib vor einem Angriff der USA schützen. Deshalb strebt die Türkei danach, durch eine solche Besatzungspolitik ihre eigene Verhandlungsposition zu stärken. Sie versucht daher Russland und den Iran davon zu überzeugen, diesen Plänen zuzustimmen. Es ist offensichtlich, dass dies auch Thema bei den letzten Treffen zwischen der Türkei und dem Iran war.

Unter Führung der SDF (Syrian Democratic Forces/Demokratischen Kräfte Syriens) wurden deutliche Erfolge erzielt. Wie sollte eine politische Gegenleistung für diese Erfolge aussehen? Welche Rolle sollten diese Kräfte in einem zukünftigen Syrien spielen?

Der Kampf der YPJ/YPJ und der SDF gegen den IS hat in Syrien und in der ganzen Region für enorme Entwicklungen gesorgt. In Nordsyrien hat sich ein demokratisches System entwickelt. Für die Völker Syriens stellt die aus autonomen Regionen bestehende Demokratische Föderation Nordsyrien einen großen Gewinn dar. Sie ist Ausdruck für den demokratischen Zusammenschluss der syrischen Völker. Zugleich ist dieses Modell eine Sicherheit für ein demokratisches Syrien. Die Demokratische Föderation Nordsyrien ist die Dachorganisation, die sich aus der Gesamtheit der autonomen Regionen zusammensetzt. Gemeinsam mit der in Damaskus noch zu gründenden demokratische Föderation wird sie eine rechtmäßige Regierung bilden. Die Demokratische Föderation Nordsyrien wird nicht getrennt von Damaskus sein, sondern gegenüber Damaskus eine politische Autonomie genießen. Sie wird ein Bestandteil der gemeinsamen Regierung in Damaskus sein. Sie wird ein Teil des vielfältigen föderalen Syriens sein. In diesem Sinne ist die Demokratische Föderation Nordsyrien der Garant für ein demokratisches und einiges Syrien. Das System der demokratischen Föderation, das autonome demokratische Regionen unter dem Dach einer vielfältigen Föderation vereinigt, ist das einzig realistische Modell, um den Zusammenhalt Syriens zu gewährleisten.

Der Kampf der demokratischen Kräfte Syriens unter der Führung der Kurdinnen und Kurden ist ein Kampf für die Demokratisierung Syriens, für die Befreiung und den Zusammenhalt der Völker Syriens. Die einzige Kraft, die wirklich für die demokratische Einheit Syriens kämpft, ist definitiv die SDF mit ihrem Krieg gegen den IS unter der Führung der Kurdinnen und Kurden.

Die Zukunft Syriens wird sich auf Basis demokratischer Werte entwickeln, für die so große Opfer gebracht wurden. Die Demokratische Föderation Nordsyrien wird auch der Demokratisierung des gesamten Mittleren Ostens die Tür öffnen.

Welche Bedeutung trägt Rakka vor dem Hintergrund der Freundschaft zwischen den kurdischen und den arabischen Völkern?

Das System, welches nach der Niederlage des IS in Rakka aufgebaut werden wird, trägt eine große Bedeutung für die Demokratie Syriens. Die Arbeit des demokratischen Rates, der in Rakka gegründet wurde, ist dafür sehr bedeutungsvoll. Alle verschiedenen Identitäten und Gruppen Rakkas sind in diesem Rat vertreten. Der Rat ist Ausdruck des Willens zu einer gemeinsamen, demokratischen Leitung. Wenn dieses Modell sich wie in Minbic und den anderen Kantonen etabliert, wird sich auch eine demokratische und autonome Leitung für Rakka entwickeln. Das wird einen sehr positiven Einfluss auf ganz Syrien haben.

Nach der Befreiung Rakkas wird die Findung einer politischen Lösung für den Syrienkonflikt zum Hauptthema werden. Es wird eine Phase beginnen, in der sich ein politisches Verwaltungssystem für Syrien entwickeln wird. In diesem Zusammenhang werden die demokratischen Kräfte Syriens unter der Führung der Kurdinnen und Kurden einen bedeutenden Einfluss auf die Neugestaltung Syriens haben. Dem entgegengesetzte Entwicklungen würden nur die Fortsetzung des syrischen Bürgerkrieges und die Teilung Syriens zur Folge haben.

Mossul wurde vollständig vom IS befreit. Es gibt derzeit verschiedenste Bewertungen, die alle von einem neuen Krieg im Irak ausgehen, dessen Fronten noch nicht klar sind. Wird nach dem IS ein neuer Krieg im Irak beginnen?

Ein baldiges Ende des Krieges im Irak wird schwer sein. Solange sich im Irak kein demokratisches System entwickelt, wird auch der Krieg kein Ende finden. Sowohl für den Irak, als auch für die gesamte Region gilt, dass ein Ende des Krieges nur durch die Demokratisierung erreichbar ist. Der Mittlere Osten wird sich ohne eine demokratische Revolution nicht vor den Kriegen retten kennen. Der Irak nimmt auch für die Demokratisierung der gesamten Region eine sehr wichtige Rolle ein. Der Irak ist das Zentrum der fünftausendjährigen staatlichen Zivilisation. Der Irak ist zugleich der Ort, an sich der IS begann zu organisieren. Von dort aus verbreitete der IS sein Einflussgebiet nach Syrien und in andere Gebiete. Die Wurzeln des IS liegen im Irak. Er ist Ausdruck einer gesellschaftlichen und soziologischen Realität. Daher wird der IS nicht einfach durch die Befreiung Mossuls verschwinden. Der IS ist zwar geschwächt, aber er wird auf verschiedene Arten und Weisen weiter bestehen.

Der einzige Weg, den IS wirklich zu vernichten, ist die Demokratie. Wenn der Irak sich zu einem föderalen System bestehend aus demokratischen, autonomen Regionen entwickelt, wird dem IS der Boden entzogen, auf dem er sich entwickeln konnte. Der IS nutzt die Benachteiligung der sunnitische Araberinnen und Araber, um Fuß zu fassen und Unterstützung zu gewinnen. Natürlich nutzen auch Kräfte wie z.B. die Türkei den IS für ihre eigenen Ziele.

In nächster Zeit wird sich jedoch der Krieg im Irak und insbesondere in der Region um Mossul intensivieren. Der IS kann in diesem Gebiet auch auf andere Art weiterbestehen. Es gibt zahlreiche Anzeichen dafür, dass der Krieg sich in diesem Gebiet verschärfen wird. Auf diesem Weg kann der Krieg sich auch auf Gebiete außerhalb des Iraks und weiter nach Osten ausbreiten. Er kann ein ganz anderes Ausmaß annehmen. Dafür gibt es zahlreiche Anzeichen.

Im Original erschien das Interview am 29.08.2017 unter dem Titel “Hozat: Bağımsız Kürdistan’a karşı çıkan yok” auf der Homepage der Nachrichtenagentur Firatnews (ANF).