Die Karten im Mittleren Osten werden neu gemischt

Dr. Hüseyin Akdağ über den Vielfrontenkrieg im Mittleren Osten; für den Kurdistan Report Januar/Februar 2018

Der Mittlere Osten tritt mit der schweren Niederlage des Islamischen Staates (IS) und von dessen Unterstützern in Syrien und im Irak in eine neue Phase. Deren Vorbote war eigentlich der Besuch des US-Präsidenten Donald Trump in Saudi-Arabien im Mai 2017. Mit seinem öffentlichen Auftritt in den Medien zusammen mit dem saudischen König und dem ägyptischen Staatspräsidenten wurde diese von Riad angeführte neue Phase angestoßen.

Im Jahr 2015 trafen die P5+1 – die fünf permanenten Mitglieder des UN-Sicherheitsrates plus Deutschland – eine Vereinbarung mit dem Iran, der zufolge das Embargo gegen ihn im Gegenzug für die Einschränkung seines Atomprogramms aufgehoben wurde. Der Iran hat dieses Abkommen mehr als ausgenutzt und damit sein Einflussgebiet auf Irak, Syrien, Libanon, Jemen und Bahrain ausgedehnt und konsolidiert. Das sorgte bei den USA wie auch den sunnitischen Kräften in der Region für Unruhe. Diese neue Phase zielt auch darauf ab, den Iran im Mittleren Osten auszubremsen und seinen Einfluss zu beschränken.

Abkehr von der salafistischen Ausrichtung

Zuvor hatte Saudi-Arabien noch mit der sunnitisch-salafistischen Auslegung des Islam den Iran und dessen schiitische Expansion stoppen und ausgleichen wollen. Doch ungeplante Entwicklungen wie beispielsweise die Entstehung von Al-Qaida und den Taliban in Afghanistan und zuletzt die Entfaltung des Islamischen Staates (IS) hatten Auswirkungen auf diesen Plan. Jetzt wird offensichtlich, dass wir eine Phase der Neubestimmung durchlaufen, eine Phase, die von Saudi-Arabien und Ägypten ausgeht. Sie werden von den USA, Israel und etlichen sunnitisch-arabischen Staaten unterstützt. Mit der alten Strategie der islamisch-salafistischen Ausrichtung ist es nicht möglich, alle Araber zu erreichen und an sich zu binden. Die radikale salafistische Auffassung wird nun aufgehoben. Dann wird es leichter sein, die arabische Welt – die schiitischen Araber mit eingeschlossen – einzubeziehen. So kann die Äußerung des Kronprinzen und Vizepremiers Saudi-Arabiens Mohammed bin Salman gedeutet werden, sich auf den »moderaten Islam« zu beziehen.

Iran wurde gestärkt

In der salafistischen Deutung des sunnitischen Islam wurde jeder, der nicht Teil dieser Lesart war, zum Feind erklärt. Dieser Ansatz stärkte den Iran im Irak, Jemen, in Syrien und Bahrain. Im neu zu entwickelnden Ansatz tritt die arabische Identität in den Vordergrund. Auf diese Weise sollen die schiitischen Araber im Mittleren Osten angezogen und der Iran ausgespielt werden.

Der Irak spielt in diesem Prozess, in dem die sunnitischen und die schiitischen Araber befriedet werden sollen und neben dem Schiitentum die arabische ethnische Identität in den Vordergrund rückt, in gewissen Sinne eine Rolle als Zentrale. Das Schiitentum wird buchstäblich von der Stadt Ghom im Iran in die Städte Kerbela und Nadschaf im Irak getragen.

Die schiitischen Anführer Muktada al-Sadr, Ammar al-Hakim und der irakische Ministerpräsident Haider al-Abadi stehen dieser Linie nahe und die USA sind bestrebt, sie mit Saudi-Arabien und Ägypten zusammenzubringen. Im Allgemeinen hat der Iran Einfluss auf Al-Abadi. Doch dessen Stärke rührt mehr von den USA her. In letzter Zeit haben sowohl Al-Abadi als auch Muktada al-Sadr und Ammar al-Hakim Saudi-Arabien und Ägypten besucht und dabei der arabischen Welt gemäßigte Botschaften vermittelt. Was sagt der Iran zu der neuen Situation, in der statt der schiitischen mehr die arabische Identität in den Vordergrund rückt? Die Antwort darauf steht noch aus.

Die US-geführte internationale Koalition gegen den IS hat Al-Abadi bei der Befreiung vieler Städte, vor allem Mûsils (Mossuls), unterstützt. Wenn man bedenkt, dass Mûsil in der Amtszeit des vorherigen Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki innerhalb eines Tages unter die Kontrolle des IS geriet und aufgrund dessen der Ministerpräsident gewechselt wurde, dann wird die große Unterstützung der USA für Al-Abadi deutlich. An dieser Stelle muss auch daran erinnert werden, dass die grobe Annäherungsweise Al-Malikis an die Sunniten ihren Teil zur Herausbildung und Stärkung des IS und ähnlicher Gruppen beigetragen hat.

Widersprüche zwischen den Schiiten im Irak

Auf der anderen Seite kann nicht die Rede sein von einem stabilen Gleichgewicht im Irak. Es gibt das Potenzial für Widersprüche und Konflikte zwischen der US-gestützten und Saudi-Arabien nahestehenden Regierung Al-Abadis und den vom Iran unterstützten Haschd-al-Schaabi-Milizen und den Kräften um Al-Maliki. Wird dieser Konflikt gewalttätig oder auf die politische Ebene begrenzt bleiben? Das ist noch nicht klar, aber während die irakische Regierung die parallel zur Armee bestehende Miliz zu integrieren versucht, will der Iran die Haschd-al-Schaabi-Milizen als Teil der Al-Quds-Einheit [Teil der Iranischen Revolutionsgarden] benutzen.

Entwicklungen im Libanon

Die Situation des libanesischen Ministerpräsidenten Saad Hariri, der aufgrund des Drucks von Iran und Hisbollah zurücktrat und nach seiner Rückkehr in den Libanon von diesem Rücktritt wieder zurücktrat, muss im Kontext dieser Entwicklungen gesehen werden. Wenn wir das alles zusammentragen, können wir von einer neuen Welle sprechen, die den Mittleren Osten heimsuchen wird. Wir treten in eine Phase intensiver Konflikte und Umbrüche für Schiitentum wie auch Sunnitentum ein.

Insbesondere im Libanon sieht es danach aus, als werde sich dies in Form eines Krieges widerspiegeln. Ziel ist es dort, den Einfluss des Iran und der Hisbollah zu brechen. Ein möglicher Krieg könnte von Israel und Saudi-Arabien losgetreten werden. Angesichts der historischen Beziehungen zwischen Syrien und Libanon ist es undenkbar, dass ein Krieg dort Syrien nicht beeinflussen wird.

Die Logik hinter dem Umstand, dass nicht der Iran, sondern dessen Einfluss in den anderen Ländern eingedämmt wird, besagt: »Der Iran selbst ist nicht sehr stark. Seine innere Balance ist fragil. Was ihn auf den Beinen hält, ist die Verbundenheit der außerhalb in seinem Namen kämpfenden Gruppen. Es sind dies die Kräfte in Syrien, die Hisbollah im Libanon, die Huthi im Jemen und die Haschd-al-Schaabi-Milizen im Irak. Wenn diese Beine gebrochen werden, wird er automatisch in sich zusammenfallen.«

Türkei hat verloren

Ob dieser Plan klappt, ist ein anderes Thema, aber dies ist das Ziel. Die konfliktreiche Situation wird sich dem Irak und der Türkei zunehmend aufdrängen. Wenn wir die Neugestaltung im Sinne von Sunniten- und Schiitentum ansprechen, ist von der Türkei nicht die Rede. Warum?

Anfang der 2000er Jahre kam Tayyip Erdoğan mit der Mission an die Macht, den Islam zu mäßigen. Doch als Ergebnis dieses Projekts ist der IS in Syrien und dem Irak entstanden.

Die Türkei, die Banden wie den IS schuf und sie dem Mittleren Osten und dem Westen aufzwang, hat verloren. Sie hat ihren Führungsanspruch in der islamischen Welt verloren. Nun bilden sich neue Kräftegleichgewichte im Mittleren Osten. In diesem Sinne werden die Türkei und der Iran direkt davon betroffen sein.

All diese Entwicklungen zusammengenommen machen klar, dass die Nationalstaatsmentalität zunehmend weiter erodieren wird. Nach dem Unabhängigkeitsreferendum haben die kurdenfeindlichen Initiativen der Türkei und des Iran in Südkurdistan einige Ergebnisse erzielt. Damit soll nun diese Kurdenfeindlichkeit noch verstärkt werden. Doch wenn wir all die neuen Entwicklungen bewerten, dann wird dieser Ansatz langfristig ergebnislos bleiben.

Auch wenn der Iran in Irak, Syrien, Bahrain, Libanon und Jemen wirtschaftlich, militärisch, politisch und diplomatisch in der Offensive ist, erlebt er mit der neuen Initiative der Gegenseite eine schwierige Phase. Es funktioniert nicht endlos, die Krise und die Konflikte außen vor zu halten. Wie wird er sich in einer solchen Situation den Kurden annähern? Wird es zu einer Vereinbarung kommen oder zu noch mehr Konflikten? Das wird uns alles die Zeit zeigen. Wenn sich der Iran der Kurdenfeindlichkeit verschreibt, wie es die Türkei einfordert und aufzwingt, dann werden sich diese Auseinandersetzungen im Iran widerspiegeln und er wird den Konflikten in all den Gebieten nicht lange standhalten können.

Die Situation in Südkurdistan innerhalb der Gleichgewichte

Nun kommen wir im Rahmen dieser ganzen Widersprüche, Konflikte und Balancen auf die Situation in Südkurdistan zu sprechen. Wir können sagen, dass die Politik dort mehr von außen anstatt von Südkurdistan selbst gesteuert wird. Sie verfügt nicht über die Kraft, ohne Unterstützung von außen aktiv zu werden. Wie vor dem Referendum gibt einem auch die Haltung danach kein Vertrauen.

Ihre sehr simplen Ansätze senken das politische Niveau. Der Iran hat mit der Türkei zusammen beispielsweise bewirkt, dass alle Errungenschaften im Süden einen Rückschlag erleiden. Der Süden hat fünfzig Prozent seines Territoriums eingebüßt. Doch es gibt eine südkurdische Regierung, die sich für zwei türkische Lastwagen mit Lebensmitteln für die Erdbebenopfer bedankt. Im Iran starb der Vater des Kommandanten der Al-Quds-Einheit Qassem Soleimani und in Südkurdistan wurde fast ein Gedenktag ausgerufen. Wir können von einer südkurdischen Regierung sprechen, die ihre eigene Situation nicht analysieren kann, sich von außen abhängig macht und sich selbst nicht organisieren kann.

In dieser Situation, in der sich im Mittleren Osten neue Akteure und neue Gleichgewichte bilden, besteht die Möglichkeit zur Rückgewinnung der verlorenen Errungenschaften im Süden. Doch dafür ist eine Politik der südkurdischen Regierung Pflicht, die sich auf die nationale eigene Kraft stützt. Anderenfalls ist sie mit einer noch größeren Gefahr der Liquidation konfrontiert.