Die kurdische Frage gewinnt einen regionalen Charakter, der türkische Status quo bröckelt

Sykes-PicotBaki Gül, Journalist, Aktuelle Bewertung für den Kurdistan Report Nr. 186  | Juli/August 2016

Die kurdische Frage ist aufgrund ihrer geografischen Auswirkungen, Bevölkerungsanteile und des Charakters der Staaten, auf die Kurdistan aufgeteilt ist, eine Frage der ganzen Region. Denn die Staaten, die heute Kurdistan unter ihrer Herrschaft behalten wollen, Iran, Türkei, Irak und Syrien, durchleben Entwicklungen, die die Tagesordnung des Mittleren Ostens und der Welt bestimmen.

Kurdistan wurde 1639 mit dem Abkommen von Qasr-e Schirin zwischen dem safawidischen Iran und dem Osmanischen Reich, der osmanische Teil dann am 16. Mai 1916 mit dem englisch-französischen Sykes-Picot-Geheimabkommen zwischen den späteren Staaten Syrien, Irak und Türkei aufgeteilt. Am 24. Juli 1923 schließlich wurde mit dem Vertrag von Lausanne die Teilung Kurdistans zwischen der Türkei, Syrien, Irak und Iran besiegelt.

Seit hundert Jahren hat das kurdische Volk zur Genüge das Leid dieser Teilung erfahren. Alle vier Staaten sind in sich voller Widersprüche und haben einen starren Charakter, weil sie – ausgeschlossen Iran – einen späten Nationenbildungsprozess durchlaufen haben und ihnen die Staatsstrukturen aufoktroyiert wurden. Auch wenn die Türkei die Staatsform der Republik angenommen hat, so hat das Regime mit seiner Prämisse »eine Nation, eine Sprache, eine Religion und eine Flagge« seinen eigenen nationalstaatlichen Status quo geschaffen und alle anderen, die dem widersprechen, verleugnet und abgelehnt. Aus diesem Grunde wurde jede Bemühung der Kurden, ihre Existenz zu manifestieren, blutig niedergeschlagen.

Auch Irak und Syrien unterschieden sich nicht sehr vom türkischen Staat. Irak und Syrien, die seit fünfzig Jahren vor allem vom Baathismus durchdrungen wurden, gründeten sich auf die arabische Herrschaft. Als aber in den neunziger Jahren die Entwicklungen im Mittleren Osten einen anderen Charakter annahmen, brach das unnachgiebige irakische Baath-Regime zusammen. Die Kurden im Irak erlangten eine relative Autonomie; was aber nicht heißt, dass das Problem vollständig gelöst wäre.

Die Situation in Syrien nahm 2010 eine Wende und das Regime versucht sich heute unter Gewalt und Chaos über Wasser zu halten. Dass sich die Kurden in diesem Chaos und gegen diese Gewalt in Form der Rojava-Revolution dargestellt haben, verweist auf den Charakter des kurdischen Status in der Zukunft. Die Revolution in Rojava wird nicht nur aufgrund ihrer militärischen Erfolge gegen den Islamischen Staat (IS) von der Welt mit Sympathie betrachtet und zum Teil anerkannt, sondern auch, weil sie gezeigt hat, dass Begriffe wie Säkularismus, Gleichheit, Freiheit, Emanzipation gelebt werden können. Dass die Kurden in Syrien-Rojava diese Entwicklung machen und diese Errungenschaften erzielen konnten, hat die Türkei in ihren Grundfesten erschüttert.

Die Türkei, die sich zum einen von dem Status, den die Kurden im Norden Iraks erreicht haben, und zum anderen von dem Status, den die Kurden im Norden Syriens erlangen werden, ausweglos in die Enge getrieben sieht, verhält sich immer aggressiver. Sollte der Status der Kurden in Irak und Syrien offiziell anerkannt werden, so würden sie politisch, militärisch und ökonomisch als eine Kraft sichtbar werden und die Türkei würde im Gegenzug in eine immer hilflosere Lage geraten. Denn die Beziehungen zu Irak und Syrien, die bislang die Hauptsäule ihres antikurdischen Pakts bildeten, werden nicht mehr dieselben sein wie früher und die Kurden werden sich mit ihren Geschwistern in den anderen Teilen Kurdistans noch schneller und wirksamer vereinen. Diese Entwicklungen und Optionen zwingen den türkischen Staat zu einer neuen Lagebewertung und zur Ausrichtung ihrer ganzen strategischen Politik darauf, die Kurden sowohl in der Türkei als auch außerhalb verlieren zu lassen.

Ein Blick auf die politischen Verhältnisse in der Türkei zeigt, dass sich eigentlich widersprüchlich und anscheinend kompromisslos gegenüberstehende politische Kräfte heute verbündet sind. Die kemalistische Republikanische Volkspartei (CHP), die nationalkonservative islamische Partei für Gerechtigkeit und Wohlstand (AKP), die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) sowie einige sozialdemokratische und liberale Gruppen sind heute auf der Grundlage antikurdischer Politik ein Bündnis eingegangen.

Als bei den Parlamentswahlen am 7. Juni 2015 die Demokratische Partei der Völker (HDP) 6 Mio. Wählerstimmen auf sich vereinigen und mit 13,1 % Stimmenanteil 84 Sitze erringen konnte, haben AKP, CHP und MHP gemeinsam dafür gesorgt, dass Tayyip Erdoğan Neuwahlen abhalten konnte. Dabei konnte die HDP am 1. November wieder mit annähernd 6 Mio. Wählerstimmen und 11 % Stimmenanteil 59 Sitze erzielen. Die Wahlen wurden nicht unter demokratischen Umständen durchgeführt, folglich waren sie nicht einfach zu bewältigen. Kundgebungen und Parteibüros der Kurden wurden bombardiert, nach Angaben des Menschenrechtsvereins (IHD) Tausende Menschen festgenommen.

Weil es dem Charakter der türkischen Republik widerspricht, dass die Kurden sich auf dem Feld der demokratischen Politik präsentieren, zeigten AKP, MHP und CHP ein gemeinsames Vorgehen, um die HDP aus dem Parlament auszuschließen. Als weiterer Schritt wurde ebenfalls von AKP, CHP und MHP ein Gesetz verabschiedet, um das Militär davor zu bewahren, wegen seiner Verbrechen in Kurdistan juristisch belangt zu werden. Das Bündnis mag widersprüchlich erscheinen, ist es aber nicht. Denn die Ergenekon-Kräfte (türkische Geheimorganisation des Tiefen Staates), bestehend aus Militärs, Polizei und Paramilitärs, die 2010 von der AKP und Erdoğan ins Gefängnis gesteckt worden waren, wurden im Gegenzug zu ihrer kurdenfeindlichen Politik freigelassen und agieren heute mit der AKP zusammen.

Dabei hatte das Militär den Preis für seine militärische Niederlage gegen die PKK mit den Balyoz- und Ergenekon-Verfahren im Zeitraum 2008–2015 gezahlt. Diese Offensive gegen das aufgrund seiner Erfolglosigkeit gegen die PKK aus der Politik gedrängte Militär war ein gemeinsames Werk von AKP und Gülen-Gemeinde gewesen. Das Bündnis wurde jedoch von der wirksamen Politik der PKK gesprengt. Die AKP überwarf sich mit der Gülen-Gemeinde, was bis heute anhält. In die Ecke gedrängt und gegen die PKK immer mehr in Bedrängnis geraten, hat die AKP alle Militärangehörigen und Sicherheitskräfte aus den Gefängnissen geholt und sie erneut in Anspruch genommen.Die von der türkischen Armee zerstörten Städte werden zum Zeichen des Triumphes mit der türkischen Nationalfahne behängt. So feiert eine Besatzungsarmee, auf Trümmern, ohne Bevölkerung.

Jetzt scheinen Erdoğan und die AKP-Regierung sich dem Militär noch weiter angenähert zu haben. Erneut bestimmt die Sorge über die Teilung des Landes die gesamte politische Tagesordnung der Türkei. Diese Sorge wird mit den Entwicklungen in Rojava begründet. Hinzu kommen der Umfang und die Radikalität des Widerstandes der PKK in Nordkurdistan sowie der Krieg, der in den Städten ausgetragen wird. Das alles hat den türkischen Staat auf einen unumkehrbaren Weg gebracht. Das wiederum führte dazu, dass einander widersprüchliche politische Kräfte in der Türkei wie die CHP, AKP und MHP ein Zwangsbündnis eingegangen sind. Allerdings ist es kein Geheimnis, dass diese drei Parteien strukturelle Widersprüche in sich tragen und als Ergebnis dessen eine tiefe Spaltung erleben.

Die Neutralisierung und politische Liquidierung des ehemaligen Ministerpräsidenten Davutoğlu durch Erdoğan-Anhänger hat zusätzlich den inneren Zerfall der AKP verstärkt.

Die Phase vor einer Krise in der AKP verläuft immer nach demselben Schema: »Ein Komplott ist im Gange, wir müssen zusammenhalten!« Immer dann wurde intern jemand politisch kaltgestellt und die Trennung erfolgte. Um nur einige Betroffene zu nennen: Zapsu, Dengir Fırat Miroğlu, Bülent Arınç, Hüseyin Çelik, Abdullah Gül, Ahmet Davutoğlu.

Auch die Spaltung zwischen der Gülen-Gemeinde und der AKP verlief nach diesem Muster, ebenso die Abwendung der Liberalen. Die AKP wurde mit der Zeit immer stärker von der faschistisch-monistischen Politik Erdoğans geformt und nahm einen Charakter an, der sowohl ihrer Basis als auch der gesamten türkischen Gesellschaft schadet.

Die Situation innerhalb der CHP ist eine ähnliche. Die Partei erfährt unter dem Vorsitz Kemal Kılıçdaroğlus und seiner Politiklosigkeit einen Abnutzungseffekt. Der Eindruck wird vermittelt, dass sie sich nur dann auf den Beinen halten kann, wenn sie Stütze für die AKP ist. Die CHP erlebt intern eine ideologische und politische Spaltung. Noch wichtiger ist, dass ihre Basis sich nicht mehr von ihr vertreten fühlt und nach Alternativen sucht.

Die MHP hingegen ist eine Partei, deren Verfallsdatum abgelaufen ist. Wie ein Lebensmittel mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum wird sie sich selbst und der Gesellschaft schaden. Daher ist eine politische Operation unumgänglich.

Was kann der türkische Staat unter diesen Umständen tun, was kann passieren und warum tritt die Figur Tayyip Erdoğan politisch immer mehr in den Vordergrund? Die Antwort kann unterschiedlich ausfallen. Nur das Bündnis der AKP mit Militär, CHP und MHP nach den Wahlen vom 7. Juni 2015 ermöglicht Erdoğan noch die politische Existenz. Denn nach den Wahlergebnissen hatte die AKP eine Niederlage erlitten und ihre alleinige Macht verloren. Die türkische Armee hat, um Fortschritte für die Kurden zu verhindern, Tayyip Erdoğan eine Rolle in der Politik zugestanden. Der hat im Gegenzug die politische Verantwortung für den Krieg übernommen, in dessen Folge seit einem Jahr Tausende ihr Leben verloren haben. Das führte dazu, dass die AKP erneut allein die Regierung stellt und weiterhin Erdoğan als Staatspräsident fungiert. Aber der kurdische Widerstand, der sich immer weiter ausbreitet, hat die Pläne der türkischen Armee und der AKP durchkreuzt.

Die Krise in der Türkei ist systembedingt und vertieft sich mit jedem Tag. Auch wenn Tayyip Erdoğan und seine AKP mit Ergenekon, Kemalisten, Nationalisten und Armee Bündnisse schließen, um nach Auswegen zu suchen, so sind die Bemühungen umsonst. Als Ausweg aus der Krise den Kurden den totalen Krieg zu erklären und mit Losungen wie »Nationalismus und nationale Einheit«, deren Verfallsdatum längst abgelaufen ist, Gewaltpolitik zu produzieren, wird zu keinerlei Lösung führen.

Denn der kurdische Widerstand wird sich als Existenzgrundlage fortsetzen und verstärken. Die kurdische Befreiungsbewegung hat ihren am 15. August 1984 begonnenen Guerillakampf Ende 2015 auf ein neues Niveau gehoben und diese Phase hat sie historisch und gesellschaftlich zu außerordentlichen politischen, sozialen, diplomatischen und militärischen Ergebnissen geführt. Die AKP unter Erdoğan will diese Realität nicht sehen und verhindert diese Erkenntnis mit allen Mitteln. Aber die Realität wird sich irgendwie manifestieren.

Der Punkt, an dem die etablierten Parteien in der Türkei angelangt sind, ist eine systemimmanente Krise und eine Situation des Verfalls. Grund dafür ist der ununterbrochene Widerstand. Diese Realität war auch auf den Erster-Mai-Kundgebungen zu erkennen. Der Ausweg aus der Krise in der Türkei ist nur möglich mit einer Politik, wie sie die HDP vertritt. Eine Politik, volksnah, aufständisch, demokratisch und selbstbewusst, kann die Türkei freiheitlich gestalten. Die Art und Weise der Politik von AKP, CHP und MHP bringt dem Land nichts als Zerfall …

 

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