Die Lösung der demokratischen Autonomie und ihre Umsetzung

Abdullah ÖcalanAbdullah Öcalan über die demokratische Lösung der kurdischen Frage, 16.10.2018

Das grundlegende Ziel der PKK war es bislang, die kurdische Frage sichtbar zu machen. Die Tatsache, dass in ihrer Gründungsphase die kurdische Realität verleugnet wurde, drängte die Existenzfrage auf. Deshalb hat die PKK zunächst mit einer ideologischen Argumentation versucht, die Existenz dieser Frage unter Beweis zu stellen. Dass das Problem auf subtile Weise auch in der Linken geleugnet wurde, machte eine eigenständige Selbstorganisierung und Aktionslinie unabdingbar. Als der türkische Nationalstaat auf seiner traditionellen Verleugnungs- und Vernichtungspolitik beharrte und deshalb keinen Raum für politische Lösungsinitiativen bot, sich gar mit dem Putsch vom 12. September 1980 der faschistische Terror als Antwort auf mögliche Initiativen noch weiter steigerte, blieb der PKK als einzige Option die Aufnahme des revolutionären Volkskrieges. In dieser Situation musste die PKK entweder wie die demokratischen linken Gruppen der Türkei liquidiert werden oder sich für den Widerstand entscheiden. Dass die bis dahin verdeckt geführte Verleugnungs- und Vernichtungspolitik des Systems mit dem faschistischen Putsch vom 12. September 1980 in offenen Terror umschlug, trug entscheidend dazu bei, dass sich die kurdische Frage von einer ideologischen Identitätsfrage zu einer Frage des Krieges wandelte. Es ist realistisch, den militärischen Vorstoß der PKK vom 15. August 1984 in diesem Zusammenhang zu betrachten. Dieser Vorstoß stellte weniger den Beginn einer Befreiungsoffensive dar, sondern hatte vielmehr das Ziel, die Existenz [des kurdischen Volkes] unter Beweis zu stellen und seinen Fortbestand zu schützen. In diesem Sinne müssen wir festhalten, dass der Vorstoß weitgehend erfolgreich war. Auch wenn es der PKK gelungen ist, die Infragestellung der kurdischen Existenz zu beenden, so blieb sie doch dem National-Etatismus verhaftet. In einer Phase der Selbstreflexion und Selbstkritik ist sie dann zu der Erkenntnis gelangt, dass National-Etatismus im Kern sowohl anti-sozialistisch als auch anti-demokratisch ist. So leistete sie auch einen Beitrag zum besseren Verständnis dieses wesentlichen Faktors für den raschen Niedergang des Realsozialismus in den 1990er Jahren. Die Ursachen für den Niedergang des Realsozialismus waren die Problematiken von Herrschaft und sozialistischem Nationalstaat. Genauer gesagt rührte die Krise des Sozialismus vom Versagen bei der Lösung der Problematik von Herrschaft und Staat her. Als in der kurdischen Frage die Widersprüche in den Fragen von Staatlichkeit und Herrschaft mit der weltweiten Krise des Realsozialismus zusammenkamen, wurden tiefgreifende Auseinandersetzungen mit den Themen des Staates und der Macht geradezu unausweichlich. Aus diesem Grund habe ich in einem Großteil meiner Verteidigungsschriften versucht, die Phänomene der Herrschaft und des Staates im Laufe der Zivilisationsgeschichte zu analysieren. Meinen Schwerpunkt habe ich bei der Analyse auf den Wandel dieser Phänomene im Zusammenhang mit der gegenwärtig herrschenden Zivilisation, der kapitalistischen Moderne, gelegt. Ich habe dargelegt, dass die Verwandlung der Herrschaft in die Form des Nationalstaates die Grundlage des Kapitalismus darstellt. Das ist eine wichtige These. Denn ich habe versucht zu zeigen, dass ohne die Organisierung der Herrschaft in Form des Nationalstaates der Kapitalismus nicht zum hegemonialen System hätte aufsteigen können. Der Nationalstaat war also das wichtigste Instrument, um die kapitalistische Hegemonie zu ermöglichen. Deshalb habe ich versucht zu beweisen, dass der Sozialismus als antikapitalistisches System, welcher sich als historische Gesellschaftsform präsentiert, nicht auf dem gleichen Staatsmodell fußen, also nicht als realsozialistischer Nationalstaat errichtet werden kann. Außerdem habe ich versucht zu zeigen, dass die von Marx und Engels herrührende Ansicht, der Sozialismus könne nur auf Grundlage zentralistischer Nationalstaaten errichtet werden, einen systemischen Fehler des wissenschaftlichen Sozialismus darstellt. Ich habe die These vertreten, dass der Sozialismus nicht allgemein auf Grundlage des Staates, insbesondere auf Grundlage des Nationalstaates errichtet werden kann und ein Beharren hierauf in vielen Beispielen, allen voran im Realsozialismus von Russland und von China, gezeigt hat, dass hieraus lediglich die primitivste Form des Kapitalismus resultiert. Ich vertrete dagegen die These, dass der Sozialismus nicht auf Grundlage des Staates allgemein, insbesondere aber nicht des Nationalstaates erbaut werden kann, und dass das Beharren darauf in einem besonders degenerierten Kapitalismus enden muss, wie viele Beispiele einschließlich des Realsozialismus russischer und chinesischer Prägung gezeigt haben. Als notwendige Konsequenz aus dieser These habe ich mich intensiv bemüht, das durch die gesamte [geschriebene] Geschichte hindurch existierende System der Zentralzivilisation, seinen Herrschaftsbegriff und die Herrschafts- und Staatsform seiner heute herrschenden Form, der kapitalistischen Moderne, zu analysieren. Meine grundlegende Erkenntnis hieraus ist, dass die Nationalstaatlichkeit kein Prinzip für Sozialisten sein kann und dass das fundamentale Lösungsprinzip für die nationale Frage die demokratische Nation sein muss. Deren konkreter Ausdruck ist die Praxis der KCK, wie ich versuchen werde zu zeigen. Kurdistan ist bereits jetzt zu einem Brennpunkt der Revolutionen und Konterrevolutionen des 21. Jahrhunderts geworden. Die Region stellt das schwächste Glied der kapitalistischen Moderne dar. Die nationalen und gesellschaftlichen Fragen der Bevölkerung von Kurdistan sind so schwerwiegend, dass sie weder mit liberalen Rezepten, noch mit der Demagogie von individuellen und kulturellen Rechten kaschiert werden können. In der kurdischen Frage produziert der National-Etatismus mit seinen Praktiken, die bis zum kulturellen Genozid reichen, längst weder für die herrschenden noch für die unterdrückten Nationen Lösungen, sondern vielmehr Probleme. Der National-Etatismus, der selbst für die kapitalistische Modere zu einem Problem geworden ist, löst sich immer weiter auf. Flexiblere demokratisch-nationale Tendenzen sind heute Vorreiter lösungsorientierter Entwicklungen. Die demokratische Moderne stellt den theoretischen Ausdruck und die praktischen Schritte dieser Entwicklung dar. Die demokratisch-nationalen Transformation finden in Kurdistan ihren konkreten Ausdruck in der KCK, die im Mittleren Osten den Weg für die Lösung der demokratischen Moderne erhellt. (…)

Die Lösung der demokratischen Autonomie kann auf zwei Wegen umgesetzt werden: Der erste Weg beruht auf einem Kompromiss mit den Nationalstaaten. Seinen konkreten Ausdruck findet es in einer Lösung durch eine demokratische Verfassung. Diese respektiert das historisch-gesellschaftliche Erbe der Völker und Kulturen. Sie betrachtet deren Freiheit, sich auszudrücken und zu organisieren, als unverzichtbares verfassungsmäßiges Recht. Die demokratische Autonomie ist das Grundprinzip dieser Rechte. Hauptbedingungen dieses Prinzips sind der Verzicht des souveränen Nationalstaats auf jegliche Politik von Verleugnung und Vernichtung und die Abkehr der unterdrückten Nation von der Idee, einen eigenen MiniNationalstaat zu gründen. Solange sich beide Nationen nicht von solchen etatistischen Tendenzen abwenden, ist kann das Projekt der demokratischen Autonomie kaum umgesetzt werden. Nach mehr als dreihundert Jahren Erfahrung mit Nationalstaaten akzeptieren die EU-Länder mittlerweile, dass demokratische Autonomie das beste Lösungsmodell für die regionalen, nationalen und Minderheiten betreffenden Probleme der Nationalstaaten ist. Auch bei der Lösung der kurdischen Frage führt der konsequente und sinnvolle Weg, der nicht auf Separatismus und Gewalt beruht, über die Akzeptanz der demokratischen Autonomie. Alle anderen Wege führen entweder zu einem Aufschieben der Probleme und somit in eine noch tiefere Ausweglosigkeit, oder in scharfe Konflikte und Zerfall. Die Geschichte der nationalen Probleme ist voll von solchen Beispielen. Dass die letzten sechzig Jahre in den EULändern – der Heimat der nationalen Konflikte – friedlich und in Reichtum und Wohlstand verlaufen sind, wurde durch die Akzeptanz der demokratischen Autonomie und durch die Entwicklung von flexiblen und kreativen Herangehensweisen und Maßnahmen gegenüber regionalen, nationalen und Minderheiten betreffenden Problemen möglich. In der Republik Türkei war das Gegenteil der Fall. Der NationalEtatismus, der durch eine Politik der Verleugnung und Vernichtung der Kurden komplettiert werden sollte, hat die Republik [Türkei] in den Zerfall, gigantische Probleme, permanente Krisen, Militärputsche im Zehnjahrestakt und ein durch Gladio geführtes Spezialkriegsregime gestürzt. Der türkische Nationalstaat kann nur zu einer normalen, rechtsstaatlichen, laizistischen und demokratischen Republik in Frieden, Reichtum und Wohlstand werden, indem er sich von dieser Innen- und Außenpolitik sowie Regimepraxis verabschiedet und die demokratische Autonomie aller Kulturen (einschließlich der türkischen und turkmenischen), insbesondere der kurdischen, akzeptiert. Der zweite Lösungsweg der demokratischen Autonomie beruht nicht auf einem Kompromiss mit Nationalstaaten, sondern auf der einseitigen Umsetzung des eigenen Projekts. Im weiteren Sinne handelt es sich um die Verwirklichung des Rechts der Kurdinnen und Kurden auf ein Dasein als demokratische Nation durch die Umsetzung der Dimensionen der demokratischen Autonomie. Zweifellos werden sich in diesem Fall die Konflikte mit den Nationalstaaten verschärfen, die diesen Weg, einseitig zu einer demokratischen Nation zu werden, nicht akzeptieren werden. In dieser Situation werden die Kurden angesichts der Angriffe einzelner Nationalstaaten oder gemeinsamer Angriffe (Iran-Syrien-Türkei) keinen anderen Ausweg finden, als ›zum Schutz der eigenen Existenz und eines freien Lebens zur Generalmobilmachung und Kampfbereitschaft überzugehen‹. Sie werden davon nicht abrücken, im Kampf bis zu einem möglichen Kompromiss oder bis zur Erlangung der Unabhängigkeit auf der Grundlage der Selbstverteidigung das Dasein als demokratische Nation in all seinen Dimensionen und aus eigener Kraft zu entwickeln und zu verwirklichen.

Bei dem Text handelt es sich um einen Auszug aus dem Text “Demokratische Nation” von Abdullah Öcalan.


Abdullah Öcalan, geboren 1949, studierte politische Wissenschaften in Ankara. Er initiierte 1978 die Gründung der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und führte als ihr Vorsitzender bis zu seiner Verschleppung im Februar 1999 den kurdischen Befreiungskampf aktiv an. Seit seiner völkerrechtswidrigen Entführung aus Kenia am 15. Februar 1999 befindet er sich in einem Gefängnis auf der türkischen Insel İmralı im Marmarameer, mehr als zehn Jahre davon als einziger Gefangener. Am 29. Juni 1999 wurde er vom türkischen Staatssicherheitsgerichtshof zum Tode verurteilt. Inzwischen wurde die Todesstrafe in der Türkei abgeschafft und das Urteil gegen Abdullah Öcalan in eine verschärfte lebenslängliche Freiheitsstrafe umgewandelt. Trotz der unmenschlichen Isolationshaft setzt er sich auch aus der Haft heraus im Rahmen seiner Möglichkeiten weiter für eine friedliche Lösung der kurdischen Frage ein. Er gilt weiterhin als führender Stratege und einer der wichtigsten politischen Repräsentanten des kurdischen Volkes.

In Isolationshaft auf der Insel İmralı verfasste Öcalan mehr als zehn Bücher, welche die kurdische Politik revolutionierten. Mehrfach initiierte er einseitige Waffenstillstände der Guerilla und lieferte konstruktive Vorschläge für eine politische Lösung der kurdischen Frage. Seine Konzepte wie der »demokratische Konföderalismus« sind eine wesentliche Inspiration für das revolutionär-demokratische Projekt in Nordsyrien. Ein »Friedensprozess« begann 2009, als der türkische Staat auf Öcalans Aufrufe, die kurdische Frage politisch zu lösen, reagierte. Die Regierung brach den Dialog mit Öcalan und der PKK Mitte 2015 ab und setzt seither wieder auf eine militärische Vernichtungspolitik. Seit dem 27. Juli 2011 wird Öcalan und seinen Mitgefangenen der Zugang zu Anwältinnen und Anwälten verwehrt. Seit April 2015 ist die Gefängnisinsel İmralı vollständig von der Außenwelt isoliert. Keinerlei Besuch ist möglich, es gibt keine Kommunikation mit den Gefangenen. Die weltweite Kampagne für seine Freiheit hat bereits mehr als zehn Millionen Unterschriften gesammelt.