Die neuen Besitzer der „alten Türkei“

Der Journalist Celal Başlangıç über das Erbe der AKP-Regierung in der Türkei, 05.09.2018

Seine Hände und Füße waren am Krankenhausbett gefesselt, als Koçer Özdal sein Leben verlor. Sein Alter betrug 70, er war seit vier Jahren im Gefängnis. Erst als seine Krebskrankheit ihn an die Schwelle des Tods brachte, wurde er aus seiner Gefängniszelle ins Krankenhaus gebracht. Kurz danach verlor Kemal auch schon sein Leben. Und selbst bis zu seinem letzten Atemzug haben sie die Fesseln an seinen Füßen und Händen nicht abgenommen. Aber dieser Staat lässt einen auch nicht in Ruhe, wenn man stirbt. Er sollte in seinem Dorf in Muş begraben werden. Lediglich seiner Familie und den engsten Verwandten war die Erlaubnis, dem Begräbnis beizuwohnen, erteilt worden. Im Dorf durfte keine Kondolenzhütte errichtet werden und die Menschen, die am Begräbnis teilnehmen wollten, hatten keinen Zugang zum Dorf. Zu guter Letzt, als eine Delegation der Demokratischen Partei der Völker (HDP) – unter ihnen waren auch Abgeordnete – zur Kondolenz ins Dorf wollte, wurde gesagt, es gäbe eine „Operation“ und das Dorf und seine Umgebung wurden zur „verbotenen Region“ erklärt. Außer den Dorfbewohnern durfte niemand mehr ins Dorf fahren.

Der Staat schaute zu als die Wälder Dersims brannten. Den ersten großen Brand konnten Freiwillige nur dadurch löschen, weil sie sich allen Verboten wiedersetzten. Als die Brände erneut anfingen wollte eine HDP-Delegation – darunter Abgeordnete – zum Brandgebiet und Inspektionen durchführen. Die Sicherheitskräfte ließen sie nicht weiter; „Es gibt eine Operation, ihr dürft nicht dahin“ wurde gesagt. Die Bewohner konnten weiter, wenn sie ihre Ausweise zeigten, aber Abgeordnete durften auf Anordnung des Landrats nicht zum Brandgebiet. Die Brände dauerten an, ähnlich wie in der ersten Hälfte der 90er Jahre…

Auch damals brannten Wälder; Journalisten die darüber berichteten, Bürgerinnen, die den Brand meldeten, wurden als „Terroristen“ in Untersuchungshaft genommen. Es ist offensichtlich, dass die AKP-Regierung eine Maschinerie der Unterdrückung am Laufen hält. Sie kehrt damit zurück in die 1990er Jahre zurück, in der die Türkei von Morden unbekannter Täter, dem Verschwindenlassen von Festgenommen und Dorfräumungen geprägt war.

Letzte Woche hat der Innenminister Süleyman Soylu die Samstagsmütter durch die Sicherheitskräfte angreifen lassen, die er der „Wortführerschaft von Terrorgruppen“ bezichtigte. Unter den Familien die er angreifen ließ, waren auch die Familien von Hayrettin Eren und von Cemil Kirbayir, die bis heute kein Grab haben, weil sie während der faschistischen Junta vom 12. September in Untersuchungshaft verloren gegangen waren und ihre Gebeine nicht aufzufinden sind. Das bedeutete, dass diese Regierung nicht nur das Erbe der 90er Jahre, sondern auch des 12. September sein möchte. Wenn sie sich damit begnügen würde, wäre es ja noch gut.

Die AKP-Regierung hat sich zum Ziel noch barbarische Zeiten auserkoren. Dass bei dem Angriff auf die Samstagsmütter, ausgerechnet der Sohn von Hrant Dink, Arat, in Untersuchungshaft genommen werden sollte, ist ein Zeichen für diesen Sachverhalt. Also begnügt sie sich nur mit dem Erbe der 90er und vom 12. September, sie geht auch denselben Weg wie das Komitee für Einheit und Fortschritt, dass den Völkermord an den Armeniern beginn. In Bezug zu den Samstagsmüttern hatten wir letzte Woche nach den Angriffen eine Auswertung gemacht, wobei es zwei Möglichkeiten gibt. Die erste war, dass sie Angst hatten, dass sich in der 700. Woche eine große Anzahl von Menschen versammelt. Für diese Woche haben sie das Zusammenkommen einer zu großen Menschenmenge verhindert. Es ist die Frage ob diese Hinderung einmalig war.

Die zweite Möglichkeit ist erschreckender. Sollte die Versammlung der Samstagsmütter von nun an ständig verhindert werden; der Galatasaray-Platz jeden Samstag zum Taksim-Platz vom 1. Mai verwandelt werden, bedeutet es, dass dahinter ein tieferer Plan liegt, der eine schwarze Zukunft für die Türkei bedeutet. Das bedeutet, sie bereiten sich von nun an auf ungeklärte verlorene Fälle vor. Sie wollen, dass niemand nach ihnen fragt. Es sieht immer mehr danach aus, als ob die zweite Option zutrifft.

Der Sprecher der AKP, Ömer Celik, hat vor zwei Tagen auf der zentralen Vorstandsversammlung erklärt, dass der Galatasaray-Platz von nun an für die Mütter gesperrt sei. Sollte die Verwaltung solch eine Befugnis erteilen, müsste diese vom Sprecher der Regierung, dem Sprecher des Präsidenten oder vom Innenministerium erklärt werden. Es ist nicht die Aufgabe des AKP-Sprechers, den Galatasaray-Platz für die Mütter zu sperren. Wenn es nun soweit gekommen ist, bedeutet dies, dass es einen lang angelegten Plan gibt.

Erdogan wiederholte dauernd die Worte „Ein Staat, ein Volk“… Das ist nun vollständig wahr geworden. Es gibt nicht so was wie die alte Türkei oder die neue Türkei. Es gibt nur noch „eine Türkei“. Es ist die Türkei wie wir sie kennen, allerdings mit einem Unterschied. Diese Regierung hat alle positiven Seiten der Republik Türkei entfernt. Geschaffen hat sie mit den negativen Aspekten der Geschichte eine alte Türkei. Wir haben es mit einer Regierung zu tun, die alle guten Seiten der Republik Türkei zurückgewiesen hat und alles Schlechte seit dem Komitee für Einheit und Fortschritt angenommen hat. Die AKP konnte die „neue Türkei“ die sie wollte, nicht gründen, aber ist der Besitzer der alten Türkei geworden. Jetzt klopfen sie mit einem Flirt an der Tür der EU.

Im Original erschien der Artikel am 31.08.2018 unter dem Titel “ ‘Eski Türkiye’nin yeni sahibi!” auf der Homepage des Nachrichtenportals Artı Gerçek.