Die Partei der »dritten« Revolution Kurdistans

Ali Çiçek beleuchtet den Paradigmenwechsel der PKK und seine theoretischen und praktischen Bezugspunkte, 01.11.2017; für den IL-Debattenblog

Die politische Theoretikerin Hannah Arendt analysiert und vergleicht in ihrer Studie »Über die Revolution« die Französische, die Amerikanische sowie weitere Revolutionen, um »die wesentlichen Charaktere des revolutionären Geistes« zu bestimmen. Diese erkennt sie in der Möglichkeit, etwas neu zu beginnen, sowie im gemeinsamen Handeln von Menschen. Sie beschäftigt vor allem die Frage, warum dieser »Geist« keine »Institution« fand und in den Revolutionen verloren ging (Hannah Arendt, Über die Revolution). Anderswo schreibt Arendt:

»Wenn ich sage: keine der Revolutionen, deren jede ja eine Staatsform gestürzt und durch eine andere ersetzt hat, habe den Staatsbegriff erschüttern können, so meine ich damit etwas, was ich in meinem Buch über die Revolution ausgeführt habe: Seit den Revolutionen des 18. Jahrhunderts hat eigentlich jede größere Umwälzung im Ansatz eine Staatsform entwickelt, die unabhängig von allen Theorien unmittelbar aus den Revolutionen selbst sich ergab, nämlich aus der Erfahrung des Miteinander-Handels und aus dem Mitbestimmen-Wollen. Diese neue Staatsform ist das Rätesystem, das, wie wir wissen, jedes Mal und überall zugrunde gegangen ist, vernichtet entweder direkt von der Bürokratie der Nationalstaaten oder von den Parteibürokratien. (…) Es scheint mir jedoch die einzige Alternative zu sei, die überhaupt geschichtlich aufgetreten ist und immer wieder auftritt. Man kann spontane Rätebildungen in allen Revolutionen nachweisen, in der Französischen, bei Jefferson in der Amerikanischen Revolution, in der Französischen Revolution von 1870, in den russischen Revolutionen, im Zuge der Revolutionen in Deutschland und Österreich am Ende des Ersten Weltkriegs, schließlich in der Ungarischen Revolution; und zwar entstanden sie nirgends auf Grund einer bewussten revolutionären Tradition oder Theorie, sondern völlig spontan, jedes Mal als hätte es so etwas noch die gegeben. Also das Rätesystem scheint wirklich im Wesen des Handels zu liegen.« (Hannah Arendt, Macht und Gewalt)

Drei Unterschiede

Im Kontext dieser Ausführungen Arendts möchte ich im Folgenden die Revolution in Kurdistan beleuchten und hierbei vor allem auf den Paradigmenwechsel der kurdischen Freiheitsbewegung, die Rolle der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und ihres Ideengebers Abdullah Öcalan eingehen. Die Revolution in Kurdistan reihe ich mit ihrer Sprengkraft, die sie aufgrund ihrer geographisch zentralen Lage, aber vor allem aufgrund ihres Revolutionsverständnisses und Gesellschaftsparadigmas innehat, in die Reihe der großen Revolutionen der Menschheit ein. Diesen Anspruch formulierte das Zentralkomitee der PKK zuletzt in ihrer Erklärung zum 1. Mai, in der es heißt, dass die Revolution im Mittleren Osten der Weltrevolution die Tür öffnen wird. Die Revolution, die von der PKK vorangetrieben wird, hat jedoch signifikante Unterschiede zu den bisherigen Erfahrungen, die Arendt oben beschreibt. Denn:

  1. hat die PKK mit ihrem Paradigmenwechsel den »Staatsbegriff erschüttern« können und eine »Institution« für den »revolutionären Geist«, den demokratischen Konföderalismus, finden können,
  2. ist die Rätebildung in Rojava, wo das apostische Paradigma praktisch angewandt wird, nicht spontan entstanden, sondern die bewusste Entscheidung einer organisierten Kraft,
  3. fußt das von der kurdischen Bewegung vorgesehen Rätesystem auf bewussten revolutionären Traditionen des Mittleren Ostens und auf globaler Ebene sowie einer Theorie, nämlich dem demokratischen Sozialismus.

(1) Demokratischer Konföderalismus als Alternative zum Staat

Mit dem Paradigmenwechsel, der maßgeblich von Abdullah Öcalan Anfang der 1990er mitbestimmt wurde, überwand die kurdische Freiheitsbewegung die vom Realsozialismus geprägten Vorstellungen eines sozialistischen kurdischen Nationalstaats und verschreibt sich nun dem demokratischen, ökologischen und auf Frauenbefreiung beruhenden Paradigma. Im Jahr 2005 verkündete Öcalan mit der »Deklaration des demokratischen Konföderalismus« die neue strategische Ausrichtung der PKK.

Seitdem verfolgt die PKK »das Lösungsmodell des demokratischen Konföderalismus, das sich auf die Basisorganisierung der Kurden und aller Völker in der Region stützt«, wie es in ihrem Programm heißt. Das neue Paradigma der kurdischen Bewegung – in den Worten von Arendt – erschüttert förmlich den Staatsbegriff. So definiert Öcalan den Staat als etwas der Gesellschaft äußerliches, als »vorübergehenden Waffenstillstand zwischen der Gesellschaft und der Macht« (Abdullah Öcalan, Manifest der demokratischen Zivilisation). Öcalan erklärt weiter: »Ohne Gleichsetzung mit der Staatsmacht, ohne im Namen von Diktaturen des Volkes oder des Proletariats etwas vorzutäuschen, stellen die demokratischen Selbstverwaltungen das einer richtigen Lösung am nächsten kommende Modell dar. Es ist die Essenz und der Unterschied der demokratischen Selbstverwaltung, weder im Namen des Volkes Staat noch ein einfaches Anhängsel des Staates zu werden.«

Als Grundform der demokratischen Organisierung wird dabei auf oberster Ebene ein Kongress gesehen, an der Basis dagegen lokale Kommunen, Kooperativen, zivilgesellschaftliche Organisationen, Menschenrechtseinrichtungen und kommunale Einrichtungen. Die Erfahrungen in Nordsyrien sind hierbei ein praktisches Modell. So wird für den 18. Januar 2018 die Wahl des Volkskongresses nach einem Organisationsprinzip geplant, das von unten beginnt, sich nach oben fortsetzt und schließlich zum Kongress führt. »Unsere Formel lautet: »Staat plus Demokratie« – mit dem Ziel, den Staat zu verkleinern und die demokratische Gesellschaft auszuweiten«, heißt es in einem Interview mit dem Mitglied des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) Duran Kalkan. Wie uns Aktivist*innen aus Rojava/Nordsyrien erklären, ist damit nicht nur der Staat in Form des Assad-Regimes gemeint, sondern vor allem die staatliche Mentalität in den eigenen Köpfen.

(2) Die Partei der demokratischen Moderne

»Machiavelli wollte mit seinem Werk »Der Fürst« den idealen Fürsten des Mittelalters erschaffen. In Anspielung auf Machiavellis Fürsten hat Gramsci dies im Sinne der revolutionären Partei, der Führung der revolutionären Partei, ihrer Strategie und Taktiken abgewandelt. Während der Fürst von Machiavelli die Eigenschaften eines erfolgreichen Fürsten definiert, listet Gramsci die Eigenschaften der revolutionären Partei und seiner Militanten auf. Gramsci macht wichtige Analysen zur Frage, wie die sozialistische politische Organisierung geschehen muss. Ich selbst habe eigentlich den modernen Fürst von Gramsci auf die Demokratische Moderne und seinen wahrheitsliebenden Militanten angepasst. Eigentlich gibt es beachtliche Gemeinsamkeiten zwischen Gramsci und mir.« (Abdullah Öcalan, Gesprächsnotizen aus Imrali)

Während die PKK vor dem Paradigmenwechsel die Mission der klassischen marxistisch-leninistischen Avantgardeorganisation vertrat, formuliert sie ihre Mission nun als die einer »Wegweiserin der demokratischen Moderne«. In ihrem Programm wird die Hauptmission der »neuen Avantgarde« in der Befriedigung der vor allem mentalen Bedürfnisse der drei Hauptsäulen des Systems gesehen: die ökonomische, die ökologische sowie die demokratische Gesellschaft (städtischer, lokaler, regionaler, nationaler und transnationaler demokratischer Konföderalismus). (Abdullah Öcalan, Manifest der demokratischen Zivilisation)

Die PKK betrachtet die Existenz der Partei unter kapitalistischen Bedingungen als so lange notwendig, bis die Gesellschaft ein selbstständig funktionierendes Gebilde ist. Die Lebenszeit der Partei auf die Selbstbefähigung der Gesellschaft zu begrenzen, bringt einen großen Glauben an die Kraft und das Potential der Gesellschaft mit sich. Die Gesellschaft wird als fähig gesehen, alle Probleme eigenständig zu lösen. Die Gesellschaft ist also eine Lösungskraft, und wird nicht als »unbewusste lenkbare Masse« gesehen.

Die Aufgabe des Revolutionärs ist es, innerhalb der staatlichen Gesellschaft dieses Potential zu entfalten. Denn im staatlich-kapitalistischen System wird verhindert, dass die Kraft der Gesellschaft zur Geltung kommt. Aus diesem Grund heißt es in der kurdischen Bewegung, dass die Rolle der Revolutionär*innen nicht die Schaffung einer neuen Gesellschaft ist, sondern die Hindernisse zu beseitigen, die das Hervortreten der sowieso vorhandenen Gesellschaft behindern. Die Rückgewinnung der Räume durch die ethisch-politische Gesellschaft ist die eigentliche Revolution. Denn sie wurde über fünftausend Jahre durch die Hegemonie der zentralen Zivilisation, deren Höhepunkt die vierhundert Jahre alte Kapitalistische Moderne ist, zurückgedrängt und klein gehalten.

Aus dieser Perspektive ist es offensichtlich, dass eine Revision der Unterdrückung nicht so schnell vonstatten gehen wird wie das Zurückdrängen des Islamischen Staates aus Rojava. Die Gesellschaft bedarf Wege und Methoden, ihr Potential freizusetzen. Es ist die Aufgabe der Revolutionär*innen, diese zu finden. Über die Bedeutung des Paradigmas erklärt Xebat Andok (Mitglied des PKK-Zentralkomitees) in einem Artikel: »Uns wäre es sicher genauso ergangen wie KDP und PUK, wäre der Paradigmenwechsel nicht vollzogen worden. Denn ein Kampf für Nationalstaatlichkeit ist ein Kampf für den Kapitalismus« (Homepage der PKK).

Der Unterschied der Revolution Kurdistans ist, dass es sich in Kurdistan, ob in Nordkurdistan oder Rojava, nicht um eine »spontane Rätebildung« handelt, sondern der Aufbau von Räten und lokalen Selbstverwaltungsstrukturen bewusst von der Partei, der PKK, vorangetrieben wird und programmatisch und ideologisch ein zentraler Punkt ist.

Der linke Theoretiker Murray Bookchin, der Öcalans Ideen zum Paradigmenwechsel maßgeblich beeinflusste, befasst sich in seiner lesenswerten Abhandlung »The Third Revolution«, ähnlich wie Arendt, mit der Amerikanischen, der Französischen und der Russischen Revolution (Murray Bookchin, The Third Revolution: Popular Movements in the Revolutionary Era, Vol. 3). In der Einführung des Buches schreibt Bookchin, dass die Namen, Taten und Ideale der Revolutionär*innen, die all diese Revolutionen zu einer freiheitlichen Gesellschaft führen wollten, mit den Tyrannen wie Robespierre oder Stalin identifiziert werden. Doch laut Bookchin müssen wir uns zuallererst auf die Revolutionär*Innen besinnen, welche die demokratischen Organisierungen direkt anführten. Mit dieser These verschiebt er den Blick auf die revolutionären Prozesse in der Vergangenheit. Die »erste Revolution« beginnt mit dem Aufstand der breiten Volksmassen, die das alte Regime verjagen, worauf die »zweite Revolution« einsetzt. Die »zweite Revolution« endet damit, dass die politische Kraft sich in einem zentralen Staat konzentriert und die werktätige Gesellschaft, welche die erste Revolution verwirklichte, aus den Entscheidungsprozessen verdrängt wird. Darauf folgt sofort die direkte demokratische Organisierung der Gesellschaft, die ihre verlorene politische Kraft wiedererlangen möchte. Diese Bewegung, welche die »dritte Revolution« vorantreiben will, ist die eigentliche Dynamik, mit der sich Bookchin näher auseinandersetzten will.

Am Beispiel der Russischen Revolution ist der Kronstädter Matrosenaufstand für ihn einer der Beweise für die Konflikte zwischen der revolutionären Partei und den kommunalistischen Strukturen der Gesellschaft, welche sich in dem Motto »Alle Macht den Sowjets – Keine Macht der Partei« konkretisierte. Öcalan, der die leninistische Auffassung, dass die Partei unter den Bedingungen des Imperialismus nur bestehen kann, wenn sie Macht habe, als unzutreffend betrachtet, definiert die neue Rolle der PKK als Antreiber der »dritten Revolution« in diesem Sinne wie folgt: »Sie übernimmt in gesellschaftlichen Bewegungen eine Führungsrolle mit einem Programm, das die Transformation in eine demokratische, freie und egalitäre Gesellschaft zum Ziel hat, einer gemeinsamen Strategie für alle gesellschaftlichen Gruppen, die ein Interesse an diesem Programm haben, und Taktik, welche eine breite Organisierung von zivilgesellschaftlichen, umweltorientierten, feministischen und kulturellen Gruppen anstrebt und dabei die legitime Selbstverteidigung nicht vernachlässigt.« (Abdullah Öcalan, Jenseits von Staat, Macht und Gewalt)

(3) Lebendige kommunale Geschichte und eine revolutionäre Theorie

So wie die Revolution und der Aufbau kommunaler Selbstverwaltung in Kurdistan kein spontanes Ereignis sind, verfügen die Revolutionär*innen Kurdistans auch über eine bewusste revolutionäre Tradition und Theorie. In der monatlichen Zeitschrift der PKK-Akademie Komünar über das apoistische Geschichtsverständnis heißt es: »Die Geschichte trägt mehr als wir denken den Charakter der demokratischen Zivilisation. Wenn Geschichte auf dieser Grundlage gelesen wird, wird man eine unglaubliche Menge an ideologischen Verflechtungen und systematischen Strukturen sowie Organisationen finden.«

Insbesondere die Geschichte des Mittleren Osten ist reich an lokalen, kommunalen Bewegungen. Wer kennt schon Persönlichkeiten und Bewegungen wie den Zoroastrismus, den Mithraismus, den Manichäismus, den MazdakitInnen, den ChurramitInnen, Bābak Khorramdin, die IsmaelitInnen, Hasan-i Sabbāh, die QarmatInnen, die Zandsch-Bewegung, Mansūr Hallādsch, Schihab ad-Din Yahya Suhrawardi, Baba Ilyas, Pir Sultan Abdal und Scheich Bedrettin, welche die kurdische Bewegung als ihr revolutionäres Erbe betrachtet? Die Geschichte des Kampfes der Gesellschaften gegen den Staat wird nicht nur im Mittleren Osten verortet, sondern auch in den griechischen und italienischen autonomen Städtebewegungen in Europa, dem Aufstand der kastilischen Städte in Spanien und den Städtebewegungen gegen den Absolutismus, der Amerikanischen und Französischen Revolution, der Erfahrung der Pariser Kommune, der Rolle der Räte in der Oktoberrevolution sowie den ökologisch und anarchistisch orientierten Auffassungen von Kommunen nach den 1960ern und insbesondere den 1968ern, sowie der Freiheitssuche und der kommunalen Orientierung der zapatistischen Bewegung, der Landlosen-Bewegung, der Sozialforen und ähnlicher lokaler wie überregionaler Initiativen überall auf der Welt. So heißt es in der Erklärung der Demokratischen Föderation Nordsyrien, dass sie ihre Stärke bezieht »aus der reichen Kultur Mesopotamiens und der demokratischen Gemeinschaftsstruktur der natürlichen Gesellschaft, das seit dem Klansystem und während der gesamten Geschichte bis heute die Gesellschaftsform eines zentralisieren Staates abgelehnt hat« (Dokument des Demokratischen Föderalen Systems von Rojava, Nordsyrien).

Neben dieser bewussten revolutionären Tradition verfügt die PKK auch über einen Theorieansatz, »außerhalb jeglicher klassischen, hierarchischen Staatsmacht« (Abdullah Öcalan, Jenseits von Staat, Macht und Gewalt). Darin wird die These vertreten, dass nicht alleine Klassenkämpfe Motor des gesellschaftlichen Fortschritts sind, sondern ebenso der große Widerstand der kommunalen gesellschaftlichen Werte.

In den Worten Arendts, ist auch der Paradigmenwechsel der PKK das Ergebnis des »Miteinander-Handels und Mitbestimmen-Wollens«. Die Auseinandersetzung mit dem Sozialismus der PKK ist die Suche nach einer Antwort auf die Frage, warum der »revolutionäre Geist« bisheriger Revolutionen keine Institution fand. Der Zusammenbruch des Realsozialismus, die Frage der Frauenbefreiung und die Entwicklungen der nationalen Befreiungsbewegungen, die die PKK sich als Beispiel genommen hatte, waren für diese Neuorientierung ein besonderer Impuls. Mit ihrem Sozialismusverständnis des 21. Jahrhunderts legt die PKK eine Antwort vor; diese umfasst ein neues antikapitalistisches Verwaltungskonzept, eine Partei, welche die »dritte« Revolution, also die Kommunalisierung gegen staatliche Tendenzen antreibt, sowie eine revolutionäre Theorie und eine neue Geschichtsauffassung.


Der Beitrag Analyse erschien zuerst auf dem Debattenblog.