Die Regierung weiß genau, was und wer die KCK`ler sind

Selahattin demirtasSelahattin Demirtas, Co-Vorsitzender der BDP, in einem Brief an Hasan Cemal, Journalist und Kolumnist der Zeitung Milliyet

Guten Tag, Herr Hasan Cemal,

zunächst möchte ich darstellen, dass die seit dem 14. April 2009 andauernden KCK-Operationen schwer zu verstehen sind, wenn nicht die politische Entwicklung in dieser Phase verstanden wird. Aufgrund dessen möchte ich zusammenfassend an die wichtigsten politischen Entwicklungen der letzten Jahre erinnern:

Öcalan hatte, bevor er verhaftet wurde, eine Lösung jenseits des „kurdischen Nationalstaats“ gesucht. Erst in der Zeit nach seiner Inhaftierung im Gefängnis von Imrali hat er sich in seiner Auseinandersetzung um die Organisierung einer demokratischen Gesellschaft auf konföderale und autonome Gesellschafts- und Staatsmodelle konzentriert.

Zwischen 1999 und 2004 hielt die PKK einen unbefristeten Waffenstillstand ein und zog ihre bewaffneten Kräfte hinter die türkischen Grenzen zurück. (Die PKK löste sich sogar selbst auf und gab öffentlich die Beendigung ihres bewaffneten Widerstands bekannt. In dieser Phase wurde anstelle der PKK der KADEK [Freiheits- und Demokratiekongress Kurdistans] und anschließend der KONGRA-GEL [Volkskongress Kurdistan] als neue, unbewaffnete Organisation gegründet.) Während dieser Zeit wurden auf Imrali und in Kandil im Namen des Staates Verhandlungen geführt. Da aber die AKP zu der Zeit noch nicht die gesamte Regierung dominierte, hat sich im Nachhinein herausgestellt, dass die Verhandlungen nicht unter ihrer eigenen Kontrolle standen. Sie führten zu keinen Ergebnissen und die PKK verkündete mit der Perspektive einer „erneuerten“ PKK ihre Neugründung.
Im Februar 2005 informierte die PKK darüber, dass der Staat mit den Verhandlungen lediglich ihre Ablenkung und Vernichtung verfolgt habe, und nahm den bewaffneten Widerstand wieder auf. In ihren strategischen Zielen hatte es keine Änderungen gegeben. Unter Beibehaltung ihrer vorherigen Entscheidung strebte sie statt eines Nationalstaats eine „organisierte konföderale Gesellschaft und Autonomie“ an. Genau an diesem Punkt, also in den Jahren 2005 bis 2006, wurde auf Empfehlung Öcalans unter großen Anstrengungen unter den KurdInnen mit der Umsetzung des organisierten Gesellschaftsmodells sowie der Organisierung auf ziviler Ebene begonnen. Überall, wo die Basis stark genug war, wurden im Namen des freien Bürgers und der freien Bürgerin Stadtteil-, Bezirks- und Stadträte gegründet. Hauptziel dieser Art von Organisierung war es, gegen die Übermacht des Staates (von der Stadtverwaltung bis zur gesamten Verwaltungsmacht) eine selbstbewusste, organisierte Gesellschaft entstehen zu lassen. Nach Öcalan stellt dies nach dem Ende des bewaffneten Kampfes die beste Garantie dar, um sich in Notwehr verteidigen und gegen jede Form von Angriff wehren zu können. In diesen Jahren löste sich die DEHAP [Demokratische Volkspartei] auf und die DTP [Partei der Demokratischen Gesellschaft] wurde gegründet. Die Freien Bürgerräte hatten an vielen Orten einen legalen Vereinsstatus bekommen und setzten ihre Aktivitäten im Rahmen der Gesetze fort. Anders als bei der DEHAP enthielt die Satzung der DTP keine Organisationsmechanismen wie die Stadtteilkommissionen. Die Bevölkerung hatte sich bereits in Form der Freien Bürgerräte von Stadtteil zu Stadtteil organisiert. Das Ziel der DTP bestand nicht darin, die Bevölkerung unter einem Dach zu organisieren, sondern dafür zu sorgen, dass sie sich überhaupt in irgendeiner Form organisiert. Aufgrund dessen organisierte die DTP nicht in Form von Stadtteilkommissionen. (Die mit den Freien Bürgerräten beginnende Organisierung der Bevölkerung bildet die erste Stufe der Struktur, die heute vom Staat als KCK [Koma Civakên Kurdistan, Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistan] bezeichnet wird.) Der Idee der PKK entsprechend wird eine Koordination, eine Dachorganisation, aufgebaut, in der alle kurdischen Organisationen (sowohl die in den vier Teilen Kurdistans als auch die in Europa) vertreten sein sollen, allerdings sollen alle Organisationen ihre Autonomie behalten. Die KCK ist als ein System gegründet worden, in dem zwar Organisationen vertreten sind, aber unorganisierte Gruppen und Individuen ebenso teilnehmen sollen. Allerdings ist das System noch nicht in die Praxis umgesetzt worden. Derzeit funktioniert es lediglich als eine obere Koordination für die Organisationen der PKK. Soweit ich es einschätzen kann, sind innerhalb der KCK die PKK, HPG, YJA-STAR und ähnliche Organisationen vertreten. Öcalan erwähnt in manchen seiner AnwältInnengespräche, dass die KCK ein System sei, das auf alle Bereiche (zivil, politisch, kulturell, wirtschaftlich usw.) Anwendung finden könne. Was damit ausgedrückt werden soll, ist die Organisierung der gesamten Gesellschaftsbereiche von der Basis her, autonom und föderal sowie miteinander im Austausch stehend, der konföderalen Organisierung entsprechend. Also ist das im Kern ein Appell an eine organisierte Gesellschaft. Somit ist das KCK-System keine Organisation, sondern ein Organisierungsmodell oder -system. Zu Beginn, also zwischen 2005 und 2009, beobachtete der Staat die Organisierung auf dieser Ebene und fand dieses Organisierungsmodell nicht bedenklich und intervenierte daher auch nicht. Mehr noch wurden solche Bestrebungen aufgrund der EU-Verhandlungen gefördert.
Inzwischen wurden in den Jahren 2008 bis 2009 anstelle der „Freien Bürgerräte“ die Stadt- und Stadtteilräte neu gegründet. In ihnen sind unter anderem Mitglieder der BDP (vorher DTP) vertreten, zivile Nichtregierungsorganisationen, Frauenorganisationen, JournalistInnen, AnwältInnen, IngenieurInnen, BürgermeisterInnen. Den Aufbau solcher Räte haben DTP und BDP unterstützt. Dem Geist dieser Räte entspricht es nicht, irgendeiner politischen Partei anzugehören, vielmehr sollen sie autonom und unabhängig gegründet werden. Jeder Stadtteil wählt seine Delegation für den Stadtrat und die Stadträte wählen ihre Abgesandten für den DTK [Kongress für eine Demokratische Gesellschaft]. Der setzt sich nicht nur aus den Stadträten zusammen, in ihm sind VertreterInnen der BDP und anderer Parteien, Organisationen, Ethnien oder Glaubensrichtungen zu finden. Die AKP-Regierung begann im Jahr 2008 auf Imrali und in Oslo mit der PKK eine qualifizierte Gesprächsphase. Die erste Wirkung dieser Gespräche waren die befristeten Waffenstillstände der PKK. Schließlich wurde von der PKK der Waffenstillstand bis nach den Kommunalwahlen vom 29. März 2009 verlängert, um eine Atmosphäre gegenseitigen Vertrauens herzustellen. Nach den Wahlen gab die PKK am 13. April 2009 eine weitere Verlängerung des Waffenstillstandes bekannt; anschließend begannen am 14. April 2009, also einen Tag nach der Erklärung, die ersten KCK-Verhaftungen. Die Räte in den Stadtvierteln und Gemeinden haben bei den Kommunalwahlen von 2009 die DTP unterstützt, indem sie von Haus zu Haus gingen, um für die DTP zu werben, sodass diese einen großen Wahlerfolg erzielen konnte. Hierbei konnten wir, und auch die AKP, das erste Mal die Funktionsfähigkeit und Stärke dieses Organisierungsmodells erkennen, was beim Staat und vor allem bei Ministerpräsident Erdogan ein enormes Unbehagen verursachte. Denn als die Menschen in den kurdischen Städten Diyarbakir, Tunceli, Hakkari und Van auf den Aufruf der Räte hin die Wahlkampfveranstaltungen der AKP geschlossen mieden, hat sich Erdogan bei seinen Auftritten wohl gedemütigt gefühlt. Denn kurz nach den Kommunalwahlen wurden am 14. April 2009 zahlreiche SprecherInnen der Räte und MitarbeiterInnen des DTP-Vorstands unter dem Vorwurf der Mitgliedschaft in der KCK verhaftet. Aufgabe der MitarbeiterInnen des DTP-Vorstands war es, die Koordination zwischen der DTP und den Räten zu gewährleis ten. Im Anschluss an diese erste Verhaftungswelle folgten noch größere in den Monaten November und Dezember, wobei viele BürgermeisterInnen und auch der damalige Vorsitzende des DTK, Hatip Dicle, verhaftet wurden. Das sogenannte Hauptverfahren im KCK-Prozess in Diyarbakir ist dasjenige, in dem den Festgenommenen die Verteidigung in ihrer Muttersprache Kurdisch verwehrt wird.
Dieses Verfahren hat aus zweierlei Gründen den Namen KCK-Verfahren bekommen: Zum einen sollen damit die Beschuldigten und ihre Organisationen kriminalisiert werden und zum anderen, weil deren Organisierungsform dem Modell des KCK-Systems ähnelt. Wir können deutlich unterstreichen, dass die Betroffenen keine Mitglieder der KCK sind, da es, wie ich bereits erörtert habe, keine Organisation namens KCK gibt. Es gibt lediglich ein Organisierungsmodell namens KCK. Die Regierung ist von diesem Modell stark beunruhigt worden, da sich der Organisierungsgrad der Bevölkerung bis in die Straßenviertel widerspiegelt. So kam es dann auch, dass die AKP-Regierung eine bis dahin unbehelligt agierende und vollkommen legale Struktur, die bis dahin keine Gefahr für ihre Machtposition darzustellen schien, ab 2007, vor Beginn der Kommunalwahlen, beobachten und abhören ließ. Die Ergebnisse der Observation wurden dann anschließend der von ihr mittlerweile zu einem erheblichen Teil übernommenen Staatsanwaltschaft übermittelt. Bemerkenswert ist hierbei, dass die AKP-Regierung und damit der Staat die seit 2007 beobachtete Struktur nicht als Gefahr empfunden hatte und trotzdem die Erkenntnisse nach den erheblichen Niederlagen bei den Kommunal- oder Parlamentswahlen zum Anlass für große Verhaftungswellen nahm. Dies wiederum ist Beleg dafür, dass dieses Organisierungsmodell das Potenzial besitzt, die vorherrschende Machtstruktur ins Wanken zu bringen. Daher bestehen die AKP und ihre VertreterInnen darauf, diese Rätestruktur als eine parallele Staatsstruktur zu bezeichnen. Seit Beginn der Verhaftungswellen sind insgesamt 6 300 Personen unter dem Vorwand der Mitgliedschaft in der KCK inhaftiert worden. Ein Großteil der Verhaftungen gilt entweder BDP-Vorständen oder den SympathisantInnen, die mit der BDP in Verbindung gebracht werden können. Dazu zählen vor allem Mitglieder und AktivistInnen in den Räten der Stadtteile und Gemeinden, die zugleich auch Parteimitglieder der BDP sind. BürgermeisterInnen, Provinz- und Kreisvorstände, MitarbeiterInnen der BDP-Parteivorstände und Ähnliche sind von der Natur ihrer Funktion her Delegierte der Räte.
Dieses Modell ist das Ergebnis des Prozesses, in dessen Zuge sich die KurdInnen vom Lösungsmodell des unabhängigen Nationalstaats verabschiedet haben. Eine gesellschaftliche Organisierung stellt auch aus unserer Sicht die Garantie für eine demokratische Zukunft dar. Daher können wir ganz klar sagen, dass dies auch ein Beleg dafür ist, dass die KurdInnen bereit sind, zusammen im und mit dem Staat (hier dem türkischen) zu leben. Dies ist der demokratische Aspekt des sogenannten Lösungsmodells der „Demokratischen Autonomie“.

Der Aspekt der „Autonomie“ wird durch eine neue Verfassung, in der dieses Modell berücksichtigt wird und somit Rechtssicherheit garantiert wäre, umgesetzt. Als Ergebnis können wir festhalten, dass die auf Initiative der Regierung hin begonnenen KCK-Operationen zum Ziel haben, die organisierten Strukturen des kurdischen Volkes zu eliminieren. Es ist durchaus denkbar, dass sich Individuen, die Mitglieder in diesen Strukturen sind, durch ein Fehlverhalten strafbar gemacht haben und dass dies untersucht wird. Es ist jedoch äußerst fragwürdig, wenn begonnen wird, die gesamte Struktur als eine Terrororganisation darzustellen, und fast alle verhaftet werden, die irgendwie mit ihr in Verbindung gebracht werden können. Dieses Verhalten ist von der Bemühung geprägt, diese Strukturen offensichtlich zu Unrecht zu kriminalisieren. Da eben die Inhaftierten im legal-demokratischen Bereich aktiv waren, sind sie durch die Regierung zum Ziel erklärt worden. Es gibt nichts Heimliches oder Illegales an ihrer Arbeit, sodass wir uns natürlich genauer fragen müssen, wieso sie zum Ziel der Repression geworden sind. Alle diese Operationen haben nur eines zum Ziel, nämlich die kurdische Bewegung für das von der AKP vorgesehene beschränkte Lösungsmodell gefügig zu machen. Bei Implementierung des eigenen Lösungsmodells soll es auch keinerlei organisierte Struktur oder Opposition geben, die Widerstand leisten könnte. Auffällig ist jedoch ganz besonders eines: Als die AKP mit der PKK und Öcalan in Verhandlungen eingetreten war, nahm sie weiterhin AktivistInnen der zivilgesellschaftlichen Ebene fest und in Haft. Kurz: Weiß denn die Regierung nicht, was und wer die KCKler sind? Die Antwort darauf lautet: Doch, sie weiß genau Bescheid, was und wer die KCKler sind. Sie nimmt Verhaftungen im Rahmen eines großen Projekts vor mit dem Ziel, die kurdische zivilgesellschaftliche Ebene zu liquidieren (AktivistInnen und SympathisantInnen der Räte, BDPler, etc.).
Ich möchte hierbei die aktuellen politischen Ereignisse nicht länger ausführen, wenn Sie diesbezüglich Gesprächsbedarf haben, so bin ich gern bereit, Ihnen auch telefonisch Auskunft zu erteilen.

Mit freundlichen Grüßen

Selahattin Demirtas
17. Februar 2012

Schreibe einen Kommentar