Die Revolution in Rojava und ihr Bezug zur aktuellen Lage in der Türkei

Grenze RojavaMichael Knapp, Historiker, Oktober 2015

Im Moment durchleben wir eine Phase heftigster Auseinandersetzungen im Vorfeld der für 1. November anberaumten vorgezogenen Neuwahlen in der Türkei. Das Massaker von Ankara, bei dem mindestens 128 FriedensaktivistInnen ermordet worden waren, das Massaker von Suruç, der schwere Anschlag von Diyarbakir auf eine Wahlkundgebung der HDP vor den letzten Wahlen zeichnen ein deutliches Bild von einem Klima der Eskalation, welches von Ausgangssperren und weit über hundert von staatlichen Kräften umgebrachten ZivilistInnen begleitet wird. Es wirft sich die Frage auf, wie es zu dieser Eskalation kam und wir sollten die Innen- und Außenpolitischen Maximen der AKP Regierung dabei nicht außer Acht lassen.

Beginnen wir mit dem Großangriff des sogenannten IS auf die kurdische Stadt Kobanê in Rojava, so können wir eine Haltung des türkischen Staates verfolgen, dass politisch der Fall von Kobanê herbeigeredet wurde, Ministerpräsident Erdogan hatte mehrfach behauptet Kobanê sei schon an den IS gefallen. Doch Kobanê fiel nicht, das demokratische Projekt Rojava fiel nicht, im Gegenteil mit der Verbindung der zuvor isolierten Kantone Cizîre und Kobanê steht das Projekt auf stabileren Beinen denn je. Während dieser Entwicklung zeichnete sich auch innenpolitisch ein Überschreiten der 10% Hürde durch die linke, multiethnische und multikulturelle HDP und damit eine Verhinderung des Präsidialsystems für die AKP ab. Um diesen Wahlsieg in letzter Minute zu verhindern sollte die kurdische Guerilla zur Beendigung ihres Waffenstillstands vor den Wahlen am 7. Juni 2015 gezwungen werden. Es erfolgten Militäroperationen bei denen Guerillas getötet wurden und es scheint fast so, als wäre versucht worden, für diese Politik ebenfalls eigene Soldaten zu opfern, die bei Agri in kleiner Gruppe in einem schwer von der Guerilla verteidigten Gebiet abgesetzt worden waren. Gefallene Soldaten erscheinen immer wieder als ein politisches Mittel um den nationalistischen Diskurs anzufachen und zumindest zweifelnde KemalistInnen von der Wahl der HDP abzubringen. Dennoch siegte die HDP mit über 13% bei der Wahl und bracht e so Erdogans Innenpolitisches Projekt zum Scheitern, während das neoosmanische Projekt Erdogans durch die Befreiung von Tell Abyad (Gîre Sipî) auch außenpolitisch einen weiteren Schlag erhielt.

Die türkische Regierung reagierte sofort und streute haltlose Gerüchte von ethnischen Säuberungen an der arabischen und turkmenischen Bevölkerung und intensivierte seine Bemühungen um eine direkte Intervention in diese Region. Die Bildung einer Regierungskoalition wurde von Seiten der AKP blockiert und die Eskalationspolitik verschärft. Auf den Anschlag von Suruç folgte eine Erklärung der türkischen Regierung „gegen den Terror“ und man nutzte die Opfer des Anschlags um eine Verhaftungswelle gegen die Linke in der Türkei im Allgemeinen und gegen die HDP im Besonderen zu beginnen. Vorwand war auch die Tötung zweier Polizisten, denen Verbindungen mit dem IS vorgeworfen worden waren, durch eine von der PKK unabhängige Gruppe auf eigene Initiative.

Bezeichnend ist, dass von den über 1000 Festgenommenen weniger als 50 unter dem Vorwurf der IS Mitgliedschaft festgenommen worden waren, der Rest aus der Linken und vor allem aus der HDP kam. Erinnerungen an die KCK Operationen, bei denen nach dem Wahlsieg der mittlerweile verbotenen DTP Tausende AktivistInnen, Stadtratsmitglieder, BürgermeisterInnen, ParteifunktionärInnen, JournalistInnen ab Mitte 2009 inhaftiert worden waren, wurden wach. Der nächste Schritt war die Zurverfügungstellung des Flughafens von Incirlik und die eigenen angebliche Beteiligung an der Koalition gegen den IS. Folge waren massive Bombardements von Stellungen der kurdischen Guerillas und der Kandil Berge. Vor diesem Hintergrund war für die Guerilla ein Waffenstillstand nicht mehr zu halten.

Währenddessen drohte die türkische Armee offen mit einem Einmarsch in Rojava, vor allem in der Zone welche die Kantone Afrin und Kobanê trennt, um einen Zusammenschluss der Kantone zu verhindern. Die türkische Regierung zog dabei den Unmut der USA auf sich, als sie behauptete diese sogenannte „Pufferzone“ sei Gegenstand eines Abkommens um die Nutzung der Militärbasis von Incirlik gewesen. Auch Russland drohte mit direkter Intervention, falls die Türkei einmarschiere. Einerseits war den USA die Unterstützung des IS durch die Türkei bzw. das fehlende Engagement gegen diese Terrorgruppe mittlerweile ein Dorn im Auge, andererseits war der Plan der USA, einer moderaten, kontrollierten Rebellengruppe komplett gescheitert, als praktisch die Gesamtheit der ausgebildeten Kämpfer zur Al Qaida Fraktion Jabhat al Nusra übergelaufen war. Daher blieb den USA nur noch eine Möglichkeit den IS einzudämmen, nämlich die Unterstützung von YPG/YPJ trotz der grundsätzlichen Differenzen zum linken Gesellschaftsprojekt in Rojava. Diese Haltung der USA zeigt sich unter anderem auch daran, dass sehr wohl Bereitschaft besteht Waffen an die Volksverteidigungseinheiten zu liefern, aber dringend gebrauchte humanitäre Hilfe für die Region ausbleibt und auch nichts dafür getan wird, dass die weitgehend von Türkei und USA abhängige Barzani Administration von Südkurdistan oder die Türkei ihr Embargo über die Region Rojava aufheben.

So griff die Türkei auf die Bewaffnung turkmenischer Milizen, welche eng mit den Al Qaida Kräften Ahrar Al Șam und Jabhat al Nusra kollaborieren zurück und stärkte deren Herrschaft über die Region um Afrin und Aleppo.

Während die Türkei offiziell der Anti-IS Koalition angehörte, weigerte sich der türkische Staat weiterhin die offenen IS Strukturen zu Verfolgen. So wurden potentielle Selbstmordattentäter, wie diejenigen, welche das Massaker von Ankara verübten zwar einerseits observiert, aber andererseits nicht einmal nachdem entsprechende Ankündigungen der Attentate vorlagen festgenommen. In Folge rechtfertigte dies Premierminister Davutoglu mit der Aussage die Türkei sei ein Rechtsstaat und sie hätten ja noch kein Verbrechen begangen. Diese Argumentation stellt den reinen Hohn für die Tausenden nach dem türkischen Antiterrorgesetz ohne irgendeine Straftat begangen zu haben, aufgrund von Mitgliedschaft oder ähnlichem inhaftierten linken PolitikerInnen, kritischen JournalistInnen, AktivistInnen dar.

Nach der Aufkündigung des Waffenstillstandes spitzten sich die Verhältnisse weiter zu. Insbesondere Misshandlungen von Gefallenen nahmen zu und lösten scharfe Proteste aus. Als in Varto der Körper der kurdischen Guerillera Ekin Van nackt ausgezogen und von der Armee in der Stadt präsentiert wurde führte dies zum Beginn einer Reihe von Aufständen in denen in verschiedenen Städten die „Demokratische Autonomie“ ausgerufen wurde. Von nun an waren durch „Sicherheitskräfte“ getötete ZivilistInnen zur täglichen Nachricht geworden. Die BürgerInnen griffen zu Mitteln der bewaffneten Selbstverteidigung und der türkische Staat setzte in Städten wie Cizre Hubschrauber und Artillerie ein. Szenen die vorher nur aus dem Kampf um Kobanê bekannt waren spielten sich nun in nordkurdischen Städten wie Amed, Șirnak, Cizre, Varto, Hakkari, Yüksekova, Silvan und an vielen anderen Orten ab. Das türkische Militär erlitt bei Operationen empfindliche Verluste, die es aber immer wieder verschleierte. Ein Angriff der Guerilla auf einen Militärkonvoy bei dem nach türkischen Angaben 13 Soldaten starben, wurde dann aber aufgegriffen und zum Mittel gemacht eine nationalistische Pogromstimmung zu schaffen. Nationalistische Lynchmobs zogen durch die Straßen, misshandelten Menschen, welche sie für Linke oder KurdInnen hielten und zündeten HDP Büros an.

Auch kritische JournalistInnen und kemalistische Zeitungen wie die Hürriyet wurden zum Ziel von Attacken. Damit wurden groß Teile der Gesellschaft auf den Kriegskurs eingeschworen und das Folgende Bombardement mit Erfolgsmeldungen des türkischen Militärs stützte diese Stimmung dass Erdogan nun für Sicherheit und Ordnung sorgen würden.

Das Militär und die Polizei gingen zu extralegalen Hinrichtungen über und denunzierten die Getöteten als Terroristen. Unter ihnen Alte und Kinder, die von Heckenschützen des Militärs getötet worden waren. Die Angriffe gipfelten darin, dass ein kurdischer Filmemacher vor laufender Kamera misshandelt, anschließend mit zwanzig Schuss getötet und sein Leichnam dann von türkischen Soldaten unter Verhöhnungen durch die Straßen Șirnaks geschleift worden war. Dennoch entgegen dieser Konjunktur kündigte die kurdische Guerilla gerade auch auf Stimmen aus der HDP aber auch der internationalen Gemeinschaft hin an, am 11.10. einen einseitigen Waffenstillstand zu beginnen. Bevor der Waffenstillstand offiziell von der Guerilla verkündet worden war, explodierten am 10.10. die Bomben von Ankara gegen eine Friedensdemonstration. Die Polizei griff daraufhin die Verletzten mit Tränengas an und noch am gleichen Tag wurden die schwersten Angriffe denn je auf Kandil geflogen. Der Waffenstillstand wurde dennoch erklärt, doch der Staat setzt weiter auf eine Eskalation. Davutoglu beschrieb die Täterschaft in einer abenteuerlichen These eines „Terror-Cocktails“ – der IS und die PKK hätten gemeinsam die Friedensdemonstration angegriffen.

Diese Argumentation, die wie schon zuvor beim Anschlag von Suruç die Opfer zur Zielscheibe der Repression macht ist Teil einer Spaltungsstrategie. Medial wurde schon seit Monaten versucht einen Konflikt zwischen PKK und HDP zu konstruieren. Zunächst hatte die türkische Regierung schon letztes Jahr Selahattin Demirtaș von der Besuchsliste für den inhaftierten Vorsitzenden der PKK Abdullah Öcalan gestrichen, die Friedensgespräche wurden durch den Staat vor den Wahlen abgebrochen und Abdullah Öcalan totalisoliert. Doch nicht nur die türkische Regierung versucht Spaltungslinien zu konstruieren. So tritt die US Regierung und ihre Berater in dieselben Fußstapfen, wenn sie die HDP und die YPG/YPJ loben, andererseits die PKK als Terrororganisation diffamieren, Personen wie Cem Özdemir stoßen in diesem Rahmen ins gleiche Horn. Diese Thesen entbehren allerdings jeglicher Grundlage und sprechen dafür, dass hierbei das gemeinsame alternative Projekt der PKK, HDP und von Rojava, nämlich die Demokratische Autonomie bewusst totgeschwiegen wird.

Die Demokratische Autonomie ist am wenigsten ein parlamentarisches System, sondern ein radikaldemokratisches Rätemodell, dessen Basis die Kommune, die Kleinste Selbstverwaltungseinheit bildet, welche mit ihren Kommissionen alle Bereiche, des Staates der Gesellschaft übergibt. Aus Rojava kennen wir diese Modell durch die unendliche Zahl von Kommunen, Stadtteilräten, Stadträten und Regionalräten mit ihren Kommissionen für Verteidigung, Versöhnung, Ökonomie, Infrastruktur und je nach Bedarf weiteren Bereichen. Diese Kommunen stellen den Kern der Demokratischen Autonomie dar, ihre Föderation bildet den Demokratischen Konföderalismus mit dem antikapitalistischen Konzept einer kommunalistischen Ökonomie, welche nicht auf Profitmaximierung sondern auf gesellschaftlichen Nutzen ausgerichtet ist. Autonomie ist hier kein territorialer Begriff, sondern ein politischer, jede Kommune ist politisch autonom und vernetzt sich mit anderen Kommunen. Während in Rojava diese radikaldemokratische Selbstverwaltung in TEV-DEM, der Bewegung für Demokratie zusammengeschlossen ist, organisiert sich diese Bewegung in Nordkurdistan als DTK, Demokratischer Gesellschaftskongress mit Hilfe der Partei der Demokratischen Regionen DBP. All diese Strukturen unterstützen die HDP. Denn zur Demokratischen Autonomie gehört weiterhin die Komponente der Demokratischen Republik. Ausgehend von dem Gedanken, dass das Rätesystem nicht sofort alle Menschen erfasst, dass es das Bedürfnis nach repräsentativer Demokratie gibt und das es Strukturen gibt, die an staatlichen Strukturen festhalten, findet ein weiterer Transformationsprozess auf parlamentarischer Ebene statt. Parteien wie die HDP oder PYD in Rojava sollen sich dafür einsetzen, dass der Staat den Menschen die Freiheit garantiert in Demokratischer Autonomie zu leben. So stellt die HDP einen Teil im Kampf für eine Demokratisierung der Region dar, ist aber bei weitem nicht das große Ganze zu dem alle Strukturen die in allen Teilen Kurdistans für die Demokratischen Autonomie eintreten gehören. Garantiert der Staat diese Rechte nicht, sondern schränkt sie systematisch weiter ein, so besteht im Modell der Demokratischen Autonomie das Recht auf legitime Selbstverteidigung. Diese Selbstverteidigung wird von Verteidigungskommissionen der Räte getragen.

Es ist ein Trugschluss davon auszugehen, dass die Guerilla nun im großen Stil in den Städten operieren würde, es finden punktuelle Aktionen und Rückzüge statt, allerdings die Verteidigung der Stadtviertel wird vor Allem von der lokalen Bevölkerung und der in YDG-H und YDG-K organisierten Jugend getragen. Ein Teilnehmen der Guerilla direkt an den Kämpfen um die Stadtviertel würde eine weitere Eskalation herbeiführen und stellt bis jetzt eher ein Szenario dar, das bei weiterem Vorgehen des Staates gegen die Bevölkerung in den Bereich des Möglichen rückt. Dies führt zu einem ambivalenten Verhältnis zum Staat. So wird gegen den Staat vorgegangen, wenn er angreift, allerdings nicht aktiv in Form von Offensiven. In Rojava führt diese Haltung zur absurden Situation, dass man sich einerorts bewaffnete Auseinandersetzungen mit dem syrischen Militär liefert, an anderen Stellen jedoch Koexistiert. Zumindest so lange, bis der Staat in die Demokratische Autonomie eingreift. Deutlich wurde die beispielsweise am … in Qamishlo, als der syrische Staat Jugendliche zum Militär zwangsrekrutierte. Daraufhin umstellte die YPG/YPJ die syrischen Militärbasen und drohte diese zu erstürmen, falls die jungen Männer nicht freigelassen würden. Darauf ließ das Militär diese frei und der Konflikt war erledigt. Dies zeigt die Position der Stärke aus der die Selbstverwaltung von Rojava agiert, in Nordkurdistan/Türkei ist die Situation gerade jetzt eine andere, der türkische Staat scheint die Wahlen durch einen Ausnahmezustand verhindern zu wollen, möchte dafür jedoch der PKK die Schuld geben können. Hier wird deutlich dass eine große strategische Flexibilität herrscht und immer wieder festgestellt wird, „wir wollen trotz Allem Frieden“ und damit ein herausragendes humanistisches Zeichen des Durchbrechens von Rachekreisläufen gesetzt wird.