Die Revolution in Westkurdistan – Teil 2

von Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V.

Im zweiten Teil unserer Serie geben wir die erste Hälfte aus einem ausführlichen Interview mit dem Mitglied des kurdischen Hohen Rates Ilham Ahmet wieder. Das Interview wurde von der JINHA Journalistin Hazal Peker geführt.

Die Entwicklungen in Syrien sind weltweit weit oben auf der politischen Agenda. Wieso gibt es auf der ganzen Welt solch ein Interesse daran, ob es Syrien zu einem Regimewechsel kommt oder nicht?

Syrien hat eine historische Bedeutung. Und die Entwicklungen in Syrien werden eine Reihe von Veränderungen, die über Syrien hinaus gehen, mit sich bringen. Insbesondere für die Staaten, die eine Vormachtstellung in der Region spielen, hat es deshalb eine besondere Rolle, in welche Richtung sich Syrien entwickelt. Man darf nicht vergessen, dass das internationale Kapital und die äußeren Mächte bereits mit dem Irak-Krieg begonnen haben, ihre Projekte für den Nahen und Mittleren Osten umzusetzen. Nach dem Irak mussten dann auch andere Staaten dran glauben.

Syrien spielt nun hierbei eine Schlüsselrolle, denn die Auswirkungen eines Regimewechsels in diesem Land werden weitaus größer sein, als beispielsweise in Ägypten oder Libyen. Und deswegen hat jede Macht seine eigenen Kalkulationen hinsichtlich Syriens. Wir reden hier also nicht bloß von einem Aufstand des Volkes oder einem Bürgerkrieg, denn auch die äußeren Mächte spielen eine gewichtige Rolle in diesem Konflikt. Dieser Krieg verläuft so blutig, weil es eben auch eine russische Front oder eine europäische Front gibt. Jede dieser Mächte versucht in Syrien ein System nach ihren Vorstellungen zu installieren. Und jede dieser Mächte hat selbstverständlich auch große Angst, ihren Einfluss in Syrien zu verlieren. Denn sollte das geschehen, wäre das praktisch gleichbedeutend damit, dass diese Mächte auch in der gesamten Region nichts zu sagen hätten und dadurch kein Stück des Kuchens im Mittleren Osten mehr erhalten würden.Durch diesen Wirrwarr an Machtinteressen in Syrien herrscht allerdings auch eine ernsthafte Gefahr vor, dass das Land dreigeteilt werden könnte. Dann würde es vermutlich zu einem alawitisch-arabischen, einem sunnitisch-arabischen und zu einem gemeinsamen kurdischen und christlichen Teilstaat in Syrien kommen. Diese These wird von vielen Kreisen angesichts der Eskalation der Situation als nicht unrealistisch angesehen.

Welche Auswirkungen hat dieser Krieg auf die verschiedenen Minderheiten im Land?

Zwischen den verschiedenen Volksgruppen in Syrien herrscht zum größten Teil eigentlich ein harmonisches Verhältnis. Es kommt eigentlich zu keinen Kämpfen zwischen den verschiedenen Gruppen. Hinzu kommt, dass der ehemalige syrische Präsident Hafiz al-Assad eine sehr geschickte Politik verfolgte. Er gewährte den Volksgruppen gewisse Rechte und versuchte dadurch den Menschen das Gefühl zu geben, sie seien frei. So durften die Kurden zu Hause und auf der Straße ihre Sprache sprechen und in ihrer traditionellen Kleidung auf die Straße gehen. Mit dieser Politik unterband Assad, dass die verschiedenen Volksgruppen weitere Forderungen an das Regime stellten. Gleichzeitig verfolgte das Regime aber auch eine Assimilationspolitik gegenüber den KurdInnen. Vielen Menschen wurde die syrische Staatsbürgerschaft aberkannt und sie verloren dadurch ihre elementaren Grundrechte. Zusätzlich wurden im Rahmen der Politik des „Arabischen Gürtels“ systematisch AraberInnen in den kurdischen Gebieten angesiedelt und KurdInnen enteignet und deportiert.
Abgesehen von der Staatspolitik war und ist das Verhältnis zwischen den Völkern allerdings friedlich. Als Beispiel kann ich das Zusammenleben der Kurden, Assyrer, Armenier und Araber in Derîk oder Qamislo anführen. Das Zusammenleben ist so sehr ineinander gewachsen, dass man diese Gruppen nicht mehr trennen kann. Jede Gruppe spricht ihre eigene Sprache und lebt ihre eigene Kultur. Zugleich hat sich die kurdische Sprache, weil die KurdInnen in der Mehrheit sind, auf natürlichem Weg zur gemeinsamen Sprache entwickelt. Und das stört die anderen Gruppen nicht, denn die KurdInnen haben ihre Sprache und Kultur nicht den andere zwanghaft aufgedrängt.

Der kurdischen Bevölkerung ist es in den Gebieten, in denen sie leben, gelungen, die Kontrolle ohne Blutvergießen an sich zu nehmen. Sie erklärten, dass sie sich selbst verwalten wollen. Welche politischen Schlussfolgerungen kann man aus der Situation der KurdInnen in Syrien ziehen?

Wir können deutlich sagen, dass die KurdInnen die dritte oppositionelle Kraft, nach den äußeren Mächten wie Europa und islamischen Opposition im Inland, sind. Und während das System und die übrige Opposition einen blutigen Kurs fahren, setzen die KurdInnen auf einen friedlichen Widerstand. Wir halten das für den sinnvolleren Weg. Es ging uns nicht darum, sofort die Waffen in die Hand zu nehmen und sie gegen das Regime zu richten. Wir wollen unser Ziel eines demokratischen Syrien mit friedlichen Mitteln umsetzen. Wegen diesem Kurs wurden uns von vielen Seiten Vorwürfe gemacht. „Warum kämpft ihr nicht? Ihr leistet gar keinen Widerstand“, hieß es von verschiedenen Kreisen. Aber wir haben versucht zu erklären, dass wir unseren Kurs für den richtigeren Weg erachten. Der Nahe und Mittlere Osten ist für sein Blutvergießen bekannt. Wir wollen als KurdInnen beweisen, dass es auch anders gehen kann, dass mensch auch mit friedlichen Mitteln für seine Rechte einstehen kann. Und die Tatsache, dass wir mit dieser Politik bisher recht erfolgreich waren, bringt die restliche Opposition zum Grübeln. Auch der Staat und die äußeren Mächte sind regelrecht schockiert über die Ergebnisse unserer Politik.
Lange Zeit hat sich der syrische Staat mit Gewalt gegen unsere Politik gewehrt. Sie dachten, dass das kurdische Volk Syrien spalten will. Und sie haben Dutzende unserer Freundinnen und Freunde inhaftiert, gefoltert und ermordet. Und dabei haben die KurdInnen stets nichts mehr verlangt, als ihre grundlegenden Rechte. Aber der Staat hat auf seiner Verleumdungs- und Vernichtungspolitik beharrt. Jetzt mischt sich das Regime nicht sonderlich in die Entwicklungen in Westkurdistan ein. Sie lassen mehr oder weniger die KurdInnen gewähren. Das Regime denkt sich das Ganze wie folgt: „Wir lösen zunächst das Problem unter den Arabern, und danach werden wir uns schon um die KurdInnen kümmern.“ Das ist ihre gegenwärtige Herangehensweise. Aber sie lassen außer Acht, dass sich einiges geändert hat. Wir schreiben das Jahr 2012 und die Umstände haben sich ein wenig verändert. Sie können nicht mehr so leicht wie früher in unsere Städte hineinspazieren und tun und lassen, was sie wollen. Wir sagen, dass sowohl das Regime als auch die Opposition falsch an die Sache herangehen. Beiden Seiten geht es nur darum sich an der Macht zu halten bzw. die Macht an sich zu reißen. Die KurdInnen agieren da schlauer und bauen gegenwärtig ihre kommunalen Verwaltungsstrukturen in ihren Ortschaften auf.

Im nächsten Teil erklärt Ilham Ahmet, was die Ziele die KurdInnen in Westkurdistan und Syrien sind.

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