Die Rolle Abdullah Öcalans

abdullah ocalanMahmut Sakar, Rechtsanwalt
Rede auf der 8. EUTCC-Kurdistan-Konferenz

Ich grüße Sie alle, mein Name ist Mahmut Sakar und ich war vom März 1999 bis zu meinem Ausschluss durch die Türkei 2005 Rechtsanwalt von Abdullah Öcalan. Seitdem betreue ich Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Eigentlich sollte mein Kollege Cengiz Çiçek bei dieser Veranstaltung sprechen. Auch ihm war im August 2011 per Gerichtsbeschluss die Mandatsvertretung für Öcalan verboten worden. Am 22. November 2011 wurde er bei einer Razzia, die zeitgleich in 16 Provinzen stattfand, mit 45 anderen Berufskollegen festgenommen, sein Büro, seine Wohnung wurden durchsucht und er wurde mit 33 Kollegen in Haft genommen. Ebenso wie die Anwälte, die hier in den letzten vier Jahren gesprochen haben und anschließend verhaftet wurden, wurde auch er festgenommen, aber ohne seine Rede halten zu können.
Zurzeit sitzt er in Kocaeli im F-Typ-Hochsicherheitsgefängnis Kandira 2 und lässt Sie alle grüßen.

Für diejenigen, die die aktuelle Situation nicht so recht verfolgen konnten, gebe ich einen kurzen Überblick. Nachdem Premierminister Erdogan das Rechtsbüro des Jahrhunderts zur Zielscheibe gemacht hatte, fand dort eine zentrale Razzia statt. Gesetzeswidrig wurden alle Akten durchsucht und beschlagnahmt. Die Medien verbreiteten, obwohl die Aussagen der Rechtsanwälte noch nicht aufgenommen waren, Falschmeldungen und vorverurteilten sie so schon öffentlich, die Richter haben dann die notwendigen technischen Details zu Ende geführt.

Zudem konnte seit dem 27. Juli kein Treffen mehr mit Herrn Öcalan durchgeführt werden. Während dieser Zeit durfte ihn nur ein Mal seine Familie sehen. Wir alle wissen, auch wenn technische Probleme angeführt werden, dass es eine politische Entscheidung ist, ihn nicht besuchen zu dürfen. Auch der Premierminister und andere Minister verheimlichen die zentrale Entscheidung in dieser Frage nicht und erklären, dass die Isolation weiter bestehen wird.

Diese beiden zu Anfang von mir eingebrachten Sachverhalte stehen in direkter Verbindung mit unserem Thema. Diese neue Politik gegen Öcalan und seine Rechtsanwälte wird durchgeführt in dem Wissen, dass er eine zentrale Stellung für den Frieden und bei Verhandlungen einnimmt.

Ich werde zunächst die bekannten Fakten der Reihe nach aufführen:
1. Herr Öcalan ist seit etwa 1993 bis heute in der kurdischen Frage und bei einer friedlichen Lösung der direkte und indirekte Verhandlungspartner.
Herr Öcalan hat, um einer friedlichen Lösung den Weg zu bereiten, historische und strategische Entscheidungen getroffen, wie den Waffenstillstand und den Rückzug der Guerilla von türkischem Boden. Er hat selbst erklärt, dass er das so weit wie ihm möglich tut.
2. Um den Weg freizumachen für eine schrittweise Reduzierung und die vollständige Auflösung der bewaffneten Kräfte als Teil der Lösung, sorgte Abdullah Öcalan über seine Rechtsanwälte mit einem Aufruf dafür, dass 1999 eine Gruppe Guerillas ihre Waffen niederlegte und in die Türkei kam. Im Rahmen eines weiteren Aufrufes reiste eine Gruppe aus Europa in die Türkei ein. Ein Teil der damals Eingereisten aus diesen Gruppen sind immer noch im Gefängnis. Sie haben, um die Risiken wissend, weil es Öcalans Wunsch war, seine Friedensbemühungen unterstützend ihre Freiheit geopfert. Im Oktober 2009 reiste über den Grenzübergang Habur, ebenfalls dem Aufruf Öcalans folgend, eine weitere Gruppe ein.
3. Es geht noch weiter; er selbst hat den größten Beitrag für eine friedliche Lösung der kurdischen Frage samt den geistigen und philosophischen Dimensionen geleistet und dieses Denken fast allen Kurden eingepflanzt. Er selbst brachte es zur Sprache, dass die Lösung des nationalen Problems der kurdischen Frage nicht unbedingt über die Gründung einer neuen Nation – eines Staates – geht, sondern dass es auch die Möglichkeit einer freiheitlichen und demokratischen Lösung gibt, ohne die Grenzen anzugreifen. Er hat dies als neue strategische Änderung in der gesamten kurdischen Politik und Gesellschaft durchgesetzt und somit den Verlauf konstruktiv beeinflusst.
4. Trotz allem leitete er aufrichtig und nachhaltig beharrlich den Paradigmenwechsel in der kurdischen Frage ein und ebnete damit den Weg dafür, dass es der kurdischen Gesellschaft bewusst wurde und sich in Sachkenntnis wandelte. Darum ist auch, wider alle chauvinistischen und rassistischen Äußerungen, bis jetzt kein Riss im gemeinsamen Leben des kurdischen und des türkischen Volkes entstanden.
5. Herr Öcalan hat auf Imrali von 1999 bis heute ständig auf mögliche Gefahren hingewiesen und den Schwerpunkt immer auf den Frieden gelegt, und er orientierte sein Vorgehen nicht an Krieg und Spannungen.

Vor diesem Hintergrund muss ich sagen, dass Öcalans Exis­tenz und seine Ideen das Wichtigste und der Hauptgrund dafür sind, dass die kurdische Gesellschaft trotz aller erlebten Tragödien zu einer friedlichen und mit der türkischen Republik gemeinsamen Lösung neigt.

Denn die Beziehung zwischen Öcalan und den Kurden geht über die praktische und bloß politische hinaus. Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auf zwei Fakten lenken:
(a) Das Problem der kurdischen Frage hat eine 200-jährige Geschichte und gesellschaftliche Ursachen. Es hat nicht mit Öcalan und der PKK begonnen. Aber bis zu Öcalan und der PKK waren auf dem Wege der Assimilation und Ausbeutung bedeutende Strecken zurückgelegt worden, die Verbindungen der kurdischen Gesellschaft zur Geschichte der Aufstände waren losgerissen worden, den Kurden waren die Identität und ihre Geschichte genommen worden. Öcalan selbst war es, der von Neuem eine innovative und moderne kurdische Identität prägte. Die Frage, die wir heute die kurdische Frage nennen, ist also die Frage nach Identität und Demokratisierung, die Öcalan und die PKK definiert und formuliert haben.
(b) Zweitens und in Verbindung damit stehend gilt, dass aktuell die Mehrheit der für die kurdische Identität eintretenden Kurden mit Öcalan ihre Identität gelernt und sich angeeignet haben.

Wir können von beiden Punkten ausgehend feststellen, dass Öcalan regelrecht zu einem Teil der kurdischen Identität geworden ist. Er sollte also nicht nur mit einer politischen Bewegung gleichgesetzt werden, sondern es dehnt sich aus auf die Repräsentativität. Darin liegt trotz zwölf Jahren Isolation und Angriffen das wachsende Interesse der Kurden am gefangen gehaltenen Öcalan.

Fasse ich es zusammen, dann:
1. möchte ich noch einmal unter Einbeziehung der oben genannten Punkte besonders unterstreichen, dass Frieden und der Verhandlungsprozess ohne Öcalan nicht entwicklungsfähig sind;
2. gilt noch mehr, ohne Öcalan, ohne Einbeziehung Öcalans würde die Grundlage genommen dafür, dass die kurdische Gesellschaft innerhalb der türkischen Grenzen leben kann;
3. muss verstanden werden, dass durch den Vollzug der Isolation Öcalans, durch die Ausschaltung seiner Rechtsanwälte mithilfe aller staatlichen Potenziale nichts erreicht werden kann;
4. bedeutet der neueste Angriff des Staates aus der Sicht des Friedensprozesses und der Verhandlungen einen strategischen Angriff. Mit Herrn Öcalan finden seit dem ersten Tag seiner Ankunft in der Türkei Gespräche mit verschiedenen staatlichen Stellen statt. Von Zeit zu Zeit wurden diese Gespräche durch Eskalationen und Kämpfe unterbrochen. Aber diese Eskalationen und die Kämpfe währten nicht lange und von Neuem wurde zurückgekehrt zu Friedensbemühungen. Auch wenn Öcalan zeitweise isoliert oder anderes unternommen wurde, führte dies nie zu dauerhaftem, also nicht rückgängig zu machendem politischem Vorgehen. Kurzum bestand zwischen Staat und Kurden grob gesehen in diesem Punkt ein stillschweigendes Gleichgewicht und innerhalb dieses Gleichgewichtes immer eine Verbindung zwischen Öcalan, der kurdischen Politik und der Gesellschaft. Natürlich hat das Vorhandensein dieses Gleichgewichtes eine Verschärfung der Kämpfe verhindert, die Hoffnung des kurdischen Volkes auf ein gemeinsames Leben geschützt und Anlass gegeben zu Optimismus.
Die AKP-Regierung hat mit Geschrei und den Lügengeschichten der türkischen Medien dieses relativ stillschweigende Gleichgewicht zerstört, wütend zertreten und die Brücken niedergerissen. Indem sie diese Brücken zwischen Öcalan, kurdischer Politik und der Gesellschaft zerstörte, hat sie den Weg für eine Konfrontation mit ungewissem Ausgang freigemacht. Im Vergleich zur bisherigen Militärpolitik hat eine Rückkehr zu einem sehr aggressiven Niveau stattgefunden, die Möglichkeiten einer politischen Lösung sind massiv beschnitten worden. Beabsichtigt ist die Reduzierung oder das Unschädlichmachen der dynamischen Kräfte unter den Kurden, die ihre Identität und Demokratie einfordern, und die Einverleibung der restlichen Menge zum eigenen Pool. Diese Politik kann dargestellt werden, wie Sie möchten, es ist offensichtlich, dass die Hauptforderung Auflösung und Massaker ist. Diese Politik ist eine offene Kriegserklärung an alle Kurden. Folglich werden mit dieser gegen Öcalan und seine Rechtsanwälte praktizierten Isolation und Angriffspolitik nicht nur der Frieden und die Möglichkeiten der Verhandlungen zertreten, sondern es ist ein Projekt, das strategische Resultate für ein gemeinsames Leben mit sich bringen kann. Ich sage es auf naivste Art und Weise: Aus Sicht der Kurden ist es eine Politik, die verhindert, den Frieden, das gemeinsame Leben so laut und stark zum Ausdruck zu bringen.
5. Als Ergebnis bleibt zu sagen, dass der aktuelle Prozess, wie oben dargestellt, sich zu einem Krieg mit ungewissem Ausgang entwickelt. Diejenigen, die in der Türkei Demokratie und Frieden wollen, müssten hauptsächlich an diesem Punkt etwas unternehmen. Demokratische Kräfte in Europa, Demokraten und Friedensliebende aus der Türkei sollten etwas unternehmen können, um diesen Verlauf zu ändern; dieser neueste Angriff der AKP, der die Frage in gefährliche Bereiche führt, muss verhindert werden und die Brücke muss erneuert werden.

Kurdistan Report Nr. 159 Januar/Februar 2012

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