Die Rückkehr des hegemonialen Krieges in Kurdistan

nilüfer_kocEine politische Lagebetrachtung
Nilüfer Koç, Kovorsitzende des Nationalkongresses Kurdistan KNK, aus dem Kurdistan Report, September/Oktober 2014

Eine politische Analyse des Irak oder eines anderen Staates im Mittleren Osten bedarf stets der Grundkenntnisse in der Geschichte dieser Region, vor allem nach den 1990ern. Denn das gegenwärtige Chaos, vor allem seit der Einnahme von Mûsil (Mossul) Anfang Juni und der folgenden Angriffe des Islamischen Staates (IS) auf Gebiete in Südkurdistan (Nordirak), erschweren ein klares Bild. Täglich sind wir mit den Folgen einer brutalen Politik konfrontiert, in der zwar der Name einer terroristischen Organisation auftaucht, aber die Frage, woher sie kommt, wer sie unterstützt und fördert, offenbleibt. Der Charakter des gegenwärtigen Krieges in der Region hat eine unglaubliche Professionalität erreicht, in der die eigentlichen Verursacher des Krieges und des Terrors verdeckt bleiben. Im Gegensatz zum Ersten und Zweiten Weltkrieg, wo die Verursacher transparent waren, wird jetzt ein Krieg im rechtsfreien Raum geführt, gegen den scheinbar weder politisch noch rechtlich vorgegangen werden kann. Dieser Krieg lässt auch die Genfer Kriegskonvention außer Acht. Der IS führt einen Stellvertreterkrieg im Namen von Staaten, die selbst angeben, ihn zu bekämpfen. Mit einer einfachen Annäherungsweise ist dieser Krieg kaum zu verstehen und schwer nachvollziehbar. Es ist daher ratsam, dieses Labyrinth der Politik mit Geschichtswissen zu entwirren. Aus der Geschichte wissen wir, dass seit 1400 Jahren im »Namen des Sunnismus und der Schia« Kriege der regionalen und globalen Großmächte, unter dem Deckmantel des Islam, verdeckt geführt werden. Aber was in dieser Region passiert, hat wenig mit dem Islam und den Völkern zu tun. Es ist ein purer Machtkampf, ein dritter Aufteilungskrieg, der mit dem Fall der Sowjetunion begonnen hat. Es ist ein schleichender Krieg und er findet an vielen Orten gleichzeitig statt. Die demografische Zusammensetzung dieser Länder wird dann über Flüchtlingswellen bestimmt. Hierfür eignen sich Instrumente wie Al-Qaida, Al-Nusra-Front, IS/ISIS, Hamas, Hisbollah. Sie führen im Namen größerer Mächte den Stellvertreterkrieg.

Die Ereignisse seit dem Fall Mûsils zeigen eine politische Wende und einen Bruch in der bisherigen Politik im Irak. Die über schiitische und sunnitische Lager definierte Polarisierung hat sich mit Mûsil verstärkt. Der 1400 Jahre alte Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten stellt eine geeignete Basis und zugleich Tarnung für den Machtkrieg um die Neue Weltordnung dar. Einzelne Staaten, wie USA, EU, Iran, Türkei, Russland und China, haben verschiedene Vorstellungen. Der Machtkonflikt variiert zwischen Konfrontation und Kooperation. Al-Qaida, ISIS/IS, Hamas, Hisbollah etc. eignen sich als benutzbare Instrumente. Die Sicherheitsapparate der Staaten unterhalten über verdeckte Kanäle Beziehungen zu diesen Organisationen. Diese agieren dann anhand des Diskurses der Konfrontation oder Kooperation. Es ist ein komplexes System, das mit dem herkömmlichen Politikverständnis nicht nachvollziehbar ist. Die Vernetzung der Staaten mit diesen Organisationen könnte Stoff für einen neuen Wissenschaftszweig liefern.

Der Mittlere Osten ist seit 1400 Jahren Opfer eines ungelösten Konflikts. Er ist einerseits die Grundlage für politische Polarisierung, andererseits der Boden, auf dem Machtkämpfe ausgefochten werden können. Kurdistan geriet historisch gesehen des Öfteren in die Schusslinie zwischen diesen beiden islamischen Konfessionen. Bereits im 17. Jahrhundert wurde es Schauplatz eines ähnlichen Machtkampfs zwischen der schiitisch-persischen Dynastie der Safawiden und dem Osmanischen Reich, das der sunnitischen Konfession angehörte. Kurdistan wurde infolge des Krieges zwischen diesen beiden Mächten 1639 im Vertrag von Kasr-ı Şirin geteilt [diese Aufteilung besteht im Wesentlichen bis heute]. Im 20. Jahrhundert entflammte dieser Konfessionskrieg zwischen dem schiitischen Iran und dem sunnitischen Irak erneut. Wieder hatten die Kurden in Iran-Irak-Krieg einen hohen Preis bezahlen müssen.

Heute steht Kurdistan wieder im Mittelpunkt eines Krieges zwischen schiitischen und sunnitischen Lagern. Im Grunde hat er wenig mit dem Islam zu tun, vielmehr benutzen die nach Macht strebenden Kräfte diesen ungelösten Konflikt.

Vom neuen Irak, nach dem Sturz Saddam Husseins 2003, wurde ein Bild gezeichnet, das die Schiiten als Opfer, die Sunniten als Verlierer und die Kurden als eigentliche Gewinner darstellte. Bis zum »Arabischen Frühling« und bis zum Beginn der Krise in Syrien 2011 war dieses Bild so gültig. Unmittelbar mit dem Umwälzungsprozess 2011 intensivierten sowohl die USA als auch der Iran ihren Machtkampf um die Kontrolle des Irak und das oben gezeichnete Bild veränderte sich. Die Sunniten, als Verlierer, bekamen nun das Siegel der Opfer. Das schiitische Regime des irakischen Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki hatte mit iranischer Unterstützung die sunnitischen Araber nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich übergangen. Diese Diskriminierung ließ sowohl die Armut der Menschen wachsen als auch systematische Unruhen sich maßlos ausweiten, was die eigentliche Grundlage für die Mobilisierung der sunnitischen Araber für den Islamischen Staat IS schuf. Die Flucht des ehemaligen Vizepräsidenten Tariq al-Hashimi 2012 bildete den Höhepunkt der sunnitischen Unzufriedenheit.

Der kurdische Präsident des Irak, Dschalal Talabani, dem bisher eine angemessene Politik der Balance zwischen Sunniten und Schiiten gelungen war, erkrankte. So blieb dem Ministerpräsidenten die alleinige Herrschaft über das Schia-Regime in Bagdad. Zudem ließ der Erfolg Al-Malikis die Hoffnung auf eine bessere Zukunft für die Sunniten schwinden. Es folgten die Aufstände der Sunniten in Al-Anbar und Falludscha. Das war die Einladung für die Dschihadisten der Al-Qaida. Eine ihrer Splittergruppen, die in Syrien gemeinsam mit der Al-Nusra-Front kämpfte, war der Islamische Staat in Irak und Syrien (ISIS), in dem zahlreiche sunnitische Araber aus dem Irak vertreten waren. Es waren zumeist ehemalige Getreue Saddam Husseins, die sich aufrüsteten, um gemeinsam das Al-Maliki-Regime zu bekämpfen. Die ISIS-/IS-Führung besteht zum großen Teil aus Militärs und Beamten der Ära Saddam Husseins. ISIS/IS fand schnell Unterstützung, vor allem aus Saudi-Arabien, Jordanien und den Golfstaaten, da diese ohnehin ihre Expansionspolitik über den Sunnismus definieren. Die Türkei schloss sich diesem Bündnis an, um einen Autonomiestatus für die Kurden in Syrien ähnlich dem im Irak zu verhindern. Der Westen, die USA und einige europäische Staaten, hielten Saudi-Arabien und den Golfstaaten den Rücken frei, da sie gegen die Expansionsbestrebungen des Iran waren. Die Türkei und die genannten Staaten waren sich auch in Bezug auf die kurdische Sache einig: Keine Autonomie für die Kurden, da dies nicht ihrem Ziel dient. Deshalb haben diese Kräfte den ISIS/IS trotz dessen Verbrechen gegen die Menschlichkeit toleriert. Mit ISIS/IS, Al-Nusra und den restlichen 45 dschihadistischen Gruppen als Instrumente der aufgeführten Staaten führen sie in Syrien und Rojava (Westkurdistan/Nordsyrien) einen unbeschreiblichen Kampf. Al-Nusra, die zwei Jahre lang in Rojava Krieg führten, verloren an Stärke. Gegen die Kurden und insbesondere gegen die Volks- und die Frauenverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) schafften sie es nicht, sich zu behaupten. Ihre Strukturen im arabischen Teil Syriens wurden durch die vom Assad-Regime und dem Iran unterstützten anderen dschihadistischen Gruppen geschwächt. Die Jabhat al-Nusra zum Beispiel kämpfte anfangs gemeinsam mit dem ISIS/IS in Syrien. Mit der Intervention des Iran mittels anderer dschihadistischer Gruppen wurde ihre Spaltung befördert und somit vor allem die Einmischung der Türkei geschwächt, die über die Al-Nusra-Front ihren Krieg gegen die Selbstverwaltung Rojavas führte. Der Iran, das syrische Regime und weitere Dschihadisten setzten den ISIS/IS gegen die Kurden in Rojava in Bewegung.Es mag paradox klingen, aber in Rojava kam es mittelbar zu einem iranisch-syrisch-türkischen Bündnis. In puncto Kurden waren sie sich indirekt einig, diese sollten nicht zu Wort kommen.

Unter den zahlreichen dschihadistischen Gruppen ist der ISIS/IS die stärkste. Mit ihrer Kriegserfahrung und Unterstützung in Syrien streben sie die Expansion in den Irak an. Die Unzufriedenheit der arabischen Sunniten im Irak, deren Aufruhr in Falludscha, boten dem ISIS eine günstige Gelegenheit. In der zweitgrößten irakischen Stadt Mûsil hatte die Unzufriedenheit enorme Ausmaße angenommen, die dem ISIS Tür und Tor öffnete. Im ISIS wurde die Rettung gesehen. Mûsil war nach Falludscha der Höhepunkt des sunnitisch-arabischen Aufstands.

Im bisher unterschwelligen, mit der Übernahme Mûsils aber offensichtlichen Krieg im Irak hat der Iran eine ausschlaggebende Rolle gespielt. Die Befürchtung wächst, dass nach Mûsil, Şengal und Maxmur der Krieg lange Jahre andauern kann. Von September 1980 bis August 1988 dauerte der erste Golfkrieg. Das bedeutet, der schiitisch-sunnitische, d. h. arabisch-persische Machtkampf hat ohnehin eine lange Vorgeschichte. Der Iran führt in Syrien seinen Krieg gegen die USA, die EU, die Türkei, die Golfstaaten, Saudi-Arabien und Jordanien über die Stärkung des Assad-Regimes. Denn solange diese Auseinandersetzung in Syrien andauert, wird sie die Kontrahenten schwächen und außerdem vom Iran fernhalten. Über seine Bündnispartner, die Hamas in Palästina und die Hisbollah im Libanon, das syrische und das irakische Regime, kann der Iran seinen Krieg führen. Durch Provokationen der Hamas konnte der palästinensisch-israelische Konflikt erneut aufgeschaukelt werden und mehr als tausend unschuldige Palästinenser wurden in Gaza durch die israelische Armee getötet. Außerdem nahm der Iran die Unterstützungserklärung Israels für einen unabhängigen kurdischen Staat im Irak als Provokation wahr; was mit einen Grund für die Auseinandersetzungen in Gaza lieferte.

Insgesamt lässt sich von einer meisterlichen Politik des Iran sprechen, da sie dazu führte, dass sowohl die USA als auch die EU-Staaten ihre diplomatischen Beziehungen mit dem Iran erneuern mussten.

Nach den Angriffen auf Mûsil, Şengal, Maxmur, Jelawla, Xaneqîn (Chanaqin) stellt sich natürlich die Frage, ob Irakisch-Kurdistan zu einer zweiten Kriegsfront neben Syrien wird. Hier beginnt jetzt die Befürchtung eines langwierigen Konflikts zwischen dem Iran und den Koalitionspartnern des sogenannten sunnitischen Lagers. Iran hat im Krieg in Syrien aktiv mitgemischt, um zu verhindern, dass der Krieg geografisch in seine Nähe rückt. Mit den Auseinandersetzungen jetzt ist das aber geschehen. Ob dieser Krieg mit dem IS oder einer neu installierten Terrorbande geführt wird, das wird die Zeit zeigen.

Die gegenwärtigen Bemühungen der USA und der EU, Südkurdistan militärisch aufzurüsten, lassen das befürchten. Die Not, in die Irakisch-Kurdistan nach dem Genozid an den Êzîdis in Şengal geraten ist, sollte Anlass zur Beendigung dieses schmutzigen Krieges geben. Aber wie es aussieht, wird Winston Churchill leider nochmals bestätigt werden: »Großbritannien hat keine ewigen Feinde, keine ewigen Freunde, nur ewige Interessen.« Es bleibt nun an uns Kurden, den weiteren Werdegang zu bestimmen.

Rolle und Verantwortung der Kurden

Eine wichtige Rolle beim weiteren Werdegang dieses Krieges werden die Kurden spielen. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass sie aus der eigenen Geschichte gelernt haben. Eine Parteinahme in diesem brutalen und rechtsfreien Krieg würde zu katastrophalen Folgen führen. Wie am Beispiel Şengals zu sehen ist. Während die Kurden in Rojava/Syrien jenseits der sunnitisch-schiitischen Polarität eine eigenständige politische Strategie entwickeln, haben führende kurdische Parteien in Irakisch-Kurdistan über das strategische Bündnis mit der Türkei für das sunnitische Lager Partei ergriffen. Es ist nunmehr international bekannt, dass der IS verdeckte passive wie aktive Beziehungen mit der Türkei pflegt. Der türkische Krieg gegen Rojava lief über den ISIS. Die Türkei hat nicht nur Rojava zu bekämpfen versucht, sondern sich auch in innerkurdische Konflikte eingeschaltet, um sie gegen Rojava zu wenden. Andererseits hat sie Parteien im Rat der Kurden aus Syrien (ENKS) über zahlreiche Konferenzen in Istanbul gegen die Partei der Demokratischen Union (PYD) aufgestachelt. Auch hat die AKP-Regierung im Doppelspiel Bagdad und Hewlêr (Arbil) gegeneinander aufgehetzt. Konflikte zwischen Bagdad und Hewlêr schwelten ohnehin aufgrund der Wirtschaftspolitik, vor allem um Erdölgeschäfte und Zolleinnahmen. Sie wurden von der AKP über die kurdische Region angeheizt und befeuerten somit auch die antischiitische Haltung gegenüber dem Al-Maliki-Regime. Hinter der Absicht, Al-Maliki zu schwächen, steckt als eigentliche Strategie die Schwächung des Iran, da das Mullah-Regime großen Einfluss in Bagdad hat.

Abdullah Öcalan hatte bereits vor längerer Zeit, noch vor dem Krieg in Syrien, die Kurden gewarnt, Partei für eines dieser Lager zu ergreifen; sie sollten aus der Geschichte lernen und die Fehler nicht wiederholen. Er will vermeiden, dass die Kurden Spielball in diesem Krieg werden. Aus diesem Grund hat er sie immer wieder zur Einberufung eines kurdischen Nationalkongresses aufgerufen und sich mehrmals schriftlich an den Präsidenten der Autonomen Region im Irak und an den Generalsekretär der Patriotischen Union Kurdistans (YNK) gewendet. Der vorgeschlagene Kongress soll eine kurdische Strategie entwickeln, mit der eindeutige Friedenssignale an die regionalen wie globalen Kräfte gesendet werden. Denn sowohl das vom Iran angeführte schiitische Lager als auch das Türkei-geführte sunnitische kämpfen nur vorgeblich für den Islam. Außerdem fahren beide Staaten eine antikurdische Politik. Beide haben Verbündete hinter sich, mit denen sie im Grunde ähnliche Machtinteressen teilen. Deshalb ist Öcalans Strategie des Dritten Weges von überlebenswichtiger Bedeutung. Ihr folgten die Kurden in Syrien mit Erfolg. Weder dem schiitischen Lager, zu dessen Verbündeten das alawitische Assad-Regime gehört, noch den sunnitischen Syrern erklärten die Kurden den Krieg. Die Diffamierung, die PYD würde mit dem Assad-Regime zusammenarbeiten, sollte die Kurden dem sunnitischen Lager zuführen. Die Devise Rojavas war es, weder für das eine noch für das andere Lager Partei zu ergreifen.

Es ist jetzt an der Zeit, in Kurdistan eine einheitliche Politik zu entwickeln. In Südkurdistan wurde über das Bündnis mit der AKP-Regierung Partei ergriffen. Auf der anderen Seite muss sich außerdem die Bündnispolitik mit dem Iran vor Augen gehalten werden. Irakisch-Kurdistan muss auch einem zu großen Einfluss des Iran zuvorkommen. Dieser verfolgt im eigenen Land fünfzehn Millionen Kurden. Wir dürfen nicht zum Instrument anderer Mächte werden und haben uns die Erfahrungen und Erfolge von Rojava zu eigen machen. Was wir brauchen, ist eine Politik der nationalen Einheit vor allem zur Entwicklung einer gemeinsamen Verteidigungsstrategie.

Die Zersplitterung der kurdischen Parteien hat uns großen Schmerz zugefügt, in Mûsil den Assyrern, in Tel Afar den schiitischen Turkmenen und in Şengal den êzîdischen Kurden. Wir stehen jetzt vor einer historischen Verantwortung im Spiel der Großmächte, und unsere Geschichte hat viele Beispiele, wie sie diese Spiele spielen wollen.

Der Zusammenhalt der kurdischen Parteien wie PKK, PDK und YNK in Maxmur hat gezeigt, dass unsere Stärke in unserer Einheit liegt. In Maxmur haben Guerilla und Peschmerga gemeinsam gegen den IS gekämpft und ihn vertrieben. Darauf muss jetzt die politische Einheit folgen. Nur so können wir verhindern, dass Kurdistan erneut Schauplatz eines brutalen Krieges der regionalen und globalen Mächte wird. Daher müssen wir, ähnlich wie in Rojava, auch in der Autonomen Region Kurdistan unseren eigenen Weg finden.

 

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