Die Sackgasse des Mittleren Ostens und des Iraks

bagdad-irakAllianzen und Rivalitäten und die islamistische Destabilisierung
Mustafa Delen, 07.04.2014

Als die »arabischen Aufstände« ausbrachen, ergriff die Herrschenden in den Golfstaaten eine große Furcht. Sie gerieten geradezu in Panik. Allen voran die Herrscher Saudi-Arabiens, gefolgt von denjenigen Kuwaits, der Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrains, Omans und Katars, griffen zu außerordentlichen Sicherheitsmaßnahmen, um ihre Monarchien vor den Aufständen zu schützen. Unter all diesen Ländern, die alle auch Mitgliedsstaaten im »Golfkooperationsrat« sind, verfolgt allein Katar eine abweichende Politik. Denn es hat, trotz der Warnungen der Saudis, im Gegensatz zu den anderen Staaten seine Beziehungen zum politischen Islam nicht abgebrochen, sondern sogar intensiviert.

Katar ist ein Land, das für seinen Reichtum bekannt ist. Es verfügt über eines der weltweit höchsten Pro-Kopf-Bruttoinlandseinkommen. Doch wie kommt es, dass ein solcher Staat ganz offen zugibt, die Muslimbruderschaft (Ihvan-i Müslim) in der Region zu unterstützen? Im Falle von Tunesien und Ägypten freute sich der Emir Katars, Scheich Tamim bin Hamad Al Thani, darüber, dass sie die Macht an sich gerissen hatte. Vermutlich ging er davon aus, dass sie – als Strömung des gemäßigten Islams – sich in der Region etablieren würde, was wiederum zu einer politischen Stärkung des eigenen Landes führen würde. Doch wie der Verlauf des Putsches in Ägypten zeigte, täuschten sich die Machthaber Katars in dieser Einschätzung.

Der Putsch in Ägypten war nicht allein die Folge der gesellschaftlichen Widersprüche im Lande. Auch der Einfluss Saudi-Arabiens und der USA auf diese Entwicklung kann nicht geleugnet werden. Vor allem die Saudis gaben kein grünes Licht für die Muslimbruderschaft. Ohne den Putsch in Ägypten wäre heute der Zustand der Muslimbruderschaft in Syrien und somit auch der Freien Syrischen Armee (FSA) sicherlich erheblich besser.

Dieser durchaus riskante politische Kurs Katars beruht vor allem auf dem Wunsch, unter den Golfstaaten und insbesondere gegenüber Saudi-Arabien als politische Macht aufzusteigen. Aus diesem Grund unterstützt Katar in der Region oft diejenigen politischen Gruppen, die in Konkurrenz zu den von den Saudis protegierten Gruppen stehen. Haben die Saudis in Ägypten die Salafisten und Mubarak unterstützt, so stand Katar hinter der Muslimbruderschaft. In Palästina unterstützten die Saudis die Fatah, und so steht Katar aufseiten der Hamas. Und im Libanon positionierten sich die Saudis aufseiten der Hariri-Familie, während Katar Beziehungen zur Hizbollah herstellte. Auch wenn in letzter Zeit der politische Druck auf Katar steigt, hat es bislang seinen politischen Kurs nicht bedeutend verändert. Zugleich sei angemerkt, dass es im eigenen Land ebenso wie alle anderen Golfstaaten keiner Gruppierung aus dem Spektrum des politischen Islams auch nur den Ansatz einer politischen Organisierung gestattet. So folgte aus Verhandlungen im Jahr 1999, dass die Muslimbruderschaft ihre Organisierung in Katar auflöste. Im Gegenzug nahm ihre Unterstützung durch Katar in anderen Ländern klare Konturen an. Auch wenn das auf den ersten Blick wie ein Widerspruch erscheint, so gehört diese Politik doch zum Standardrepertoire der Machtkonsolidierung im Mittleren Osten.

Auch Saudi-Arabien verfährt da nicht sonderlich anders. Im eigenen Land gibt es eine »Null-Toleranz-Politik« gegenüber dem politischen Islam. Im Ausland gehört es dennoch zu den Top-Spendengebern der Al-Qaida und weiterer salafistischer Gruppierungen. Dass die Saudis gleichzeitig die Muslimbruderschaft, die Al-Nusra-Front und ISIS (Islamischer Staat in Irak und Syrien) zu Terrororganisationen erklärt haben, dient vor allem Imagezwecken. Denn es ist bekannt, dass die Al-Qaida sowohl im Irak als auch in Syrien mit Geldern aus Saudi-Arabien finanziert wird. Weshalb die Saudis das tun, lässt sich vor allem mit ihrer Gegnerschaft zum Iran und zur sogenannten »schiitischen Achse« erklären.

Jede Analyse des Krieges in Syrien oder der Anschläge im Irak bleibt ohne eine Einbeziehung der Rolle der Golfstaaten ungenügend. So kämpfen zwar selbstverständlich im syrischen Bürgerkrieg die Kräfte des Assad-Regimes gegen oppositionelle Kräfte. Aber es darf nicht außer Acht gelassen werden, dass hinter ihnen zugleich auch andere Mächte stehen. So unterstützt der Iran das syrische Regime, die Saudis unterstützen die Al-Qaida-Gruppierungen in Syrien, und Länder wie Katar und die Türkei unterstützen die FSA und Gruppierungen, die der Muslimbruderschaft zuzurechnen sind. Und natürlich setzen diese »Unterstützerstaaten« gleichzeitig alles daran, die von ihnen unterstützten Gruppierungen von ihrem eigenen Staatsterritorium fernzuhalten. Dies gelingt vor allem Saudi-Arabien und dem Iran sehr gut.

Ein weiterer Staat, in dem etliche äußere Mächte mitmischen, ist der Irak. Während das Land sich derzeit auf die Parlamentswahlen vorbereitet, finden die täglichen Meldungen über Bombenanschläge kein Ende. Zu den meisten dieser Anschläge hat sich interessanterweise bis heute niemand bekannt. Es gibt aber keinen Zweifel daran, dass die Al-Qaida-Gruppe ISIS dahintersteckt.

Meiner Meinung nach wird im Irak die Unterstützung von Al-Qaida durch die Benachteiligung der sunnitischen Bevölkerung verstärkt. Während im Norden des Landes die Kurden einen Teil des Staates kontrollieren, wird der Süden von den Schiiten dominiert. Die Sunniten, die geografisch in der Mitte des Landes leben und etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung ausmachen, werden von Leitungspositionen im Staat systematisch ferngehalten. Das trägt dazu bei, dass sich der Bruch zwischen der sunnitischen Bevölkerung und dem irakischen Staat vertieft und somit auch die Instabilität der Gesamtlage verstärkt. Die Annäherung zwischen der sunnitischen Bevölkerung und Al-Qaida ist also auch teilweise auf die Politik der Herrschenden in Bagdad zurückzuführen. Hätte die Regierung Al-Maliki alle Teile der Bevölkerung an der Politik beteiligt, sähe die Lage im Irak heute anders aus.

Die ISIS-Kräfte haben in den letzten Monaten wichtige Teile der Regionen um Mûsil (Mossul) und des Gouvernements Al-Anbar unter ihre Kontrolle gebracht. Dadurch ist es ihnen gelungen, sowohl die von ihnen kontrollierten Gebiete im Irak und in Syrien miteinander zu verbinden als auch ein Tor zu anderen arabisch-sunnitischen Staaten wie Saudi-Arabien oder Kuwait zu öffnen. ISIS wirft der Regierung von Bagdad konfessionelles Handeln vor. Und damit haben sie einen Großteil der sunnitischen Bevölkerung hinter sich. In Al-Anbar wollen sie nun den Artikel 140 der irakischen Verfassung ins Spiel bringen. [Artikel 140 sieht ein Referendum vor über die Zugehörigkeit zum kurdischen Autonomiegebiet oder zur irakischen Zentralregierung. Es ist bisher mehrmals verschoben, aber nie durchgeführt worden.] Diese Provinz Al-Anbar ist wie ein Gürtel, der den kurdischen Norden Iraks vom schiitischen Süden trennt. ISIS hat sich in dieser Region das Machtvakuum zunutze gemacht, denn weder die Zentral- noch die Regionalregierung hat dort etwas zu sagen. Aus diesem Grund wirkt in dieser vernachlässigten Region des Landes jede Unterstützung, welche die Mitglieder von ISIS der Bevölkerung bieten, als effektives Propagandamittel für die Islamisten.

Diese ISIS-Politik ist eigentlich nicht besonders neu. Aus ihrem Namen geht bereits hervor, dass sie Teile des Iraks und Syriens in einem sunnitisch-islamischen Emirat verbinden wollen. Al-Anbar wäre das Herzstück eines solchen Gebildes. Daher konzentriert sich diese Organisation im Irak auf dieses Gebiet.

Sowohl in Syrien als auch im Irak werden die Fronten täglich klarer. In beiden Staaten wird mehr ein religiöser denn ein ethnischer Krieg ausgetragen. Die Konfliktlinien verlaufen vor allem zwischen der sunnitischen und der schiitischen Bevölkerung. Deshalb spielen bei den Auseinandersetzungen in Syrien sowie bei den Bombenanschlägen im Irak sowohl der Iran als auch Saudi-Arabien eine nicht zu unterschätzende Rolle.

All diese Entwicklungen haben selbstverständlich auch Auswirkungen auf Südkurdistan. ISIS bedroht dort vor allem Kerkûk (Kirkuk) und das von der YNK (Patriotische Union Kurdistans) kontrollierte Silêmanî (Sulemaniye). Was auch damit zusammenhängt, dass ISIS in der YNK eine Verbündete der Al-Maliki-Regierung und des Irans sieht. Ein weiterer Grund ist, dass die YNK im Gegensatz zur PDK (Demokratische Partei Kurdistans) die Revolution in Rojava unterstützt. Beide Gründe verleiten ISIS dazu, ihre Angriffe vor allem auf diejenigen Gebiete Südkurdistans zu konzentrieren, in denen die YNK stark organisiert ist.

Die politische Krise zwischen der Regionalregierung Südkurdistans und der Zentralregierung von Bagdad hält unterdessen weiter an. Grund hierfür sind vor allem die Ölförderverträge, welche die Regionalregierung unabhängig von Bagdad abschließt und mit denen sie Erdöl über die Türkei an europäische Staaten liefern will. Als Gegenmaßnahme setzt die Zentralregierung auf die Aussetzung des Haushaltsbudgets für die südkurdische Regierung. Nach der irakischen Verfassung werden alle Bodenschätze und natürlichen Ressourcen als nationaler Reichtum betrachtet. Insbesondere im Falle des Erdöls ist das explizit niedergelegt. Das Erdöl des gesamten Iraks soll demnach der Kontrolle des staatlichen Unternehmens SOMO unterliegen. Sowohl die Förderung als auch der Verkauf und die Verteilung der Erlöse werden von diesem Unternehmen durchgeführt. Die südkurdische Regierung hält sich allerdings nicht an diese Bestimmung und will die Entscheidungen über das in ihren Gebieten geförderte Erdöl selbst treffen, auch wenn das gegen die Gesetze des Iraks verstößt. Auf der anderen Seite hat die Regierung in Bagdad bis dato der südkurdischen Regierung das ihr zustehende Budget von 17 % des Staatseinkommens weder regelmäßig noch vollständig zukommen lassen.

Zusammengefasst sieht es so aus, dass die konfessionellen Widersprüche und politischen Krisen im Irak zunächst einmal weiter anhalten werden. Das trifft umso mehr zu, wenn man bedenkt, wie sehr das Land derzeit für die Steuerung von außen anfällig ist: Die schiitische Bevölkerung wird von der Regierung in Bagdad beeinflusst und gelenkt, die sunnitische Bevölkerung steht unter starkem saudischem Einfluss, und Südkurdistan ist politisch und wirtschaftlich eng an die Türkei gebunden. Von einer Unabhängigkeit des Iraks zu sprechen, ist also offensichtlich Selbstbetrug.

Begleitet von all diesen Problemen wird die irakische Bevölkerung am 30. April an die Wahlurnen treten und ihre Abgeordneten wählen. Es bleibt abzuwarten, wie sich die neugewählte Regierung mit den beschriebenen Problemen auseinandersetzen wird.

Quelle: Kurdistan Report 173 | Mai/Juni 2014

 

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