Die Türkei – eine Schreckensherrschaft!

GefangnissJuristische Repression unter der AKP
Maxime Azadi, Journalist, 3. Dezember, ANF

Das Regime der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) in der Türkei hat allein im vergangenen November über 1.000 Menschen verhaftet, darunter mehr als 230 Kinder [in diesem Zusammenhang alle Minderjährigen unter 18 Jahren] und 300 SchülerInnen und StudentenInnen. Raci Bilici, Vorsitzender des Menschenrechtsvereins IHD in Amed (Diyarbakir), reagierte darauf mit den Worten: „Damit wird eine Atmosphäre der Schreckensherrschaft geschaffen. Man versucht, neue Ängste zu schüren, indem die gesamte Gesellschaft kriminalisiert wird.“

Nachdem die türkische AKP inmitten einer immensen Wirtschaftskrise an die Regierungsmacht gekommen war, riss sie zunächst die Kontrolle über die Medien, die Geheimdienste, Polizei und Armee an sich und hat danach, vor allem ab 2009, eine regelrechte Hexenjagd auf KurdInnen sowie auf alle Oppositionellen, die sich mit den KurdInnen solidarisierten, begonnen. Es fällt auf, dass der Westen die Türkei jetzt der arabischen Welt als „Modell“ anpreist, wo doch gerade eine harte Unterdrückung praktiziert wird und die Gefängnisse aus allen Nähten platzen.
Ermutigt durch das Schweigen des Westens wurde die Türkei unter dem AKP-Regime zum weltgrößten Gefängnis für JournalistInnen, StudentInnen, GewerkschafterInnen, RechtsanwältInnen, Frauenaktivistinnen und Kinder. Es wurden in einem bisher in der Geschichte der Türkei nie dagewesenen Ausmaß politisch begründete Massenverhaftungen und -haftbefehle veranlasst.
Laut Raci Bilici ist die heutige Situation mit der Zeit des Militärputsches von 1980 vergleichbar. „Wann immer Unterdrückungs-Regime in der Türkei gegen Oppositionelle nicht mehr ankamen, war ihr wichtigstes Mittel der Repression stets, diese mundtot zu machen“, meint Bilici und fügt hinzu: „Auch wenn Untersuchungshaft als eine vorbeugende Maßnahme vorgesehen ist, so wird sie doch in der Türkei zum Zwecke des Bestrafens angewandt.“

1039 Festnahmen binnen eines Monats

Nach den Jahresberichten des Menschenrechtsvereins IHD hat das AKP-Regime allein zwischen Anfang 2009 und Ende 2011 mindestens 27.503 politisch begründete Festnahmen, darunter 6.444 Haftbefehle, veranlasst.
Laut Festnahmebilanz der Presseagentur ANF sind in diesem November mindestens 1039 Personen verhaftet worden. Es scheint so, als gäbe es im November keinen einzigen Tag ohne Festnahmen. Die meisten davon geschahen am 2. November.
Unter den Festgenommenen im November befinden sich 232 Kinder. Die Zahl der seit Anfang 2012 festgenommenen Kinder ist in 11 Monaten auf mindestens 426 gestiegen. Am 27. November hat ein Gericht in Mersin 3 kurdische Kinder unter dem Vorwand, sie seien auf „illegalen Demonstrationen“ gewesen, zu insgesamt 51 Jahren Gefängnis verurteilt. Kurdische Kinder sind allzu oft Opfer von schwindelerregend hohen Strafen.

Berichten des Menschenrechtsvereins IHD zufolge befanden sich Ende 2011 in türkischen Gefängnissen 2.309 Kinder, 2.100 davon (über 90 %) ohne irgendeine Verurteilung.
Auch die Reform der AKP-Regierung im Juli 2010, die bewirken sollte, dass Kinder nicht wie Erwachsene vor ein Schwurgericht müssen, hat in der Praxis keine Verbesserung der Situation zur Folge gehabt. Gegen Kinder ist zwar nun vor dem Jugendgericht anstatt vor dem Schwurgericht verhandelt worden, doch sind sie weiterhin zu mehr Gefängnisjahren verurteilt worden als sie alt sind. Die Gerichte, die sie verurteilen, sind andere, an der Gesinnung aber hat sich nichts geändert.
Zu den Hauptzielen des AKP-Regimes gehörten im November wieder einmal SchülerInnen und StudentInnen. Laut Berechnungen der Nachrichtenagentur ANF wurden binnen eines Monats 263 StudentInnen und 40 GymnasiastInnen festgenommen. Im Januar 2012 befanden sich nach Angaben des Justizministeriums 2.824 StudentInnen und GymnasiastInnen in türkischen Gefängnissen.

Die KCK-Operationen

Ein beträchtlicher Teil der Festnahmen wurde während der Ermittlungen gegen die Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) veranlasst. Die türkischen Behörden bezichtigen die KCK, die städtische Struktur der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu bilden. Die auch als politischer Flügel der PKK definierbare KCK hat das Ziel, KurdInnen im Mittleren Osten, verteilt auf vier Staaten, in einer demokratisch-ökologischen Konföderation unter einem Dach mit flexibleren Grenzen zu vereinigen. Einige BeobachterInnen bezeichnen diese Struktur als „Benelux“-Modell.
Die KCK-Operationen begannen im April 2009, also gerade einige Wochen nach dem historischen Sieg der legalen kurdischen Partei bei den Kommunalwahlen. Dabei wurden an die 10.000 Personen festgenommen. Bis dato befinden sich immer noch 6 Abgeordnete, 36 BürgermeisterInnen, über 230 StadträtInnen und mindestens 56 Zentralratsmitglieder der Partei des Friedens und der Demokratie (BDP) in Untersuchungshaft. Außerdem sind laut Angaben der „Plattform für Solidarität mit den inhaftierten JournalistInnen“ bis zum 28. November 77 JournalistInnen in U-Haft gewesen, darunter 12 HerausgeberInnen und verantwortliche RedakteurInnen. Weiterhin werden auch dutzende GewerkschafterInnen, RechtsanwältInnen, MenschenrechtlerInnen und Intellektuelle ohne irgendeinen Beweis in Gefängnissen festgehalten. Fast wöchentlich verhaftet die Polizei willkürlich Menschen als vermeintliche KCK-Mitglieder ohne stichhaltige Beweise, und die Gerichte erlassen Haftbefehle.

Eine Meinung zu haben ist zur gefährlichsten Straftat geworden

Bilici sagt: „Die größte Straftat der verhafteten und in U-Haft genommenen Menschen war es, auf irgendeine Weise ihre Meinung kundzutun und entsprechend dieser Meinung dem System zu widersprechen“, und fügt hinzu: „Zu denken und diesen Gedanken Ausdruck zu verleihen ist zu einer gefährlicheren Straftat geworden, als sich illegal zu organisieren.“

Bilici erklärt, sogar in den 90er Jahren, in denen die Gefechte mit der PKK am schlimmsten waren, sei es nicht zu solchen Verhaftungswellen gekommen, und er meint: „Diese Praxis trauen sich nicht einmal totalitäre Regime so einfach zu. Bei den reaktionären Baath-Regimen erlebten wir Vergleichbares. (…) Unter den Inhaftierten sind Menschen aus allen Gesellschaftsschichten. Eine politische Verfolgung in solchem Ausmaß wird man sonst auf der Welt kaum finden.“

Ein riesiges Gefängnis

Auf eine Anfrage des BDP-Abgeordneten Hüsamettin Zenderlioglu antwortete Justizminister Sadullah Ergin, die AKP-Regierung wolle bis 2016 in den Gefängnissen eine Kapazität von 203.223 Plätzen schaffen.
Das soll wohl heißen, dass man in den nächsten fünf Jahren weitere 80.000 Personen festnehmen will. Wenn dieses Projekt durchgeführt wird, wird die Türkei in ein riesiges Gefängnis verwandelt.
Am 27. November hat die AKP-Regierung die Untersuchungsakten gegen die BDP-Abgeordneten an das Parlament zur Immunitätsaufhebung weitergeleitet. Einen Tag zuvor erklärte Ministerpräsident Erdogan, deren Immunität werde aufgehoben. In der Praxis genossen die BDPlerInnen jedoch nie Immunität. Es gibt keine/n einzige/n BDP-Abgeordnete/n, der oder die nicht Opfer von Polizeigewalt wurde. Es wurden insgesamt mehr als 800 Ermittlungsakten für die Immunitätsaufhebung erstellt, an die 600 davon betreffen BDP-Abgeordnete. Allein in den ersten fünf Monaten von 2012 wurden 180 Ermittlungsakten gegen BDP-Abgeordnete fertiggestellt. Während gegen die kurdischen Abgeordneten wegen Meinungsäußerungen ermittelt wird, geht es bei allen anderen Ermittlungsakten, also gegen Abgeordnete der Regierungspartei AKP, der kemalistischen Oppositionspartei CHP (Republikanische Volkspartei) und der ultranationalistisch-rassistischen MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung), um Korruption und Amtsmissbrauch. Aber in diesen Fällen rührt die Regierung nicht einmal ihren kleinen Finger, diese Akten werden im Parlament nicht behandelt.

Eine Atmosphäre der Schreckensherrschaft wird geschaffen

Bilici findet die Repressionen gegen die KurdInnen und die Oppositionellen nicht hinnehmbar: „ Auf diese Art kann das Land nicht geführt werden. Eine Atmosphäre der Schreckensherrschaft wird geschaffen. Man versucht, neue Ängste zu schüren, indem die gesamte Gesellschaft kriminalisiert wird. Die AKP versucht ihre Herrschaft mit diesen Ängsten zu festigen. Wir müssen aber eines wiederholt sagen: Man hat auch in der Vergangenheit Ähnliches gegen die kurdische Opposition versucht, war aber erfolglos. Auch heute wird die Regierung mit ihrem Vorhaben scheitern. Denn mit Angsteinjagen könnt Ihr eine Gesellschaft nicht in Schach halten.“

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