Die Zivilisation des Mittleren Ostens

Abdullah Öcalan zur Widerständigkeit der mittelöstlichen Zivilisation und Wegen aus dem Chaos, 06.07.2017

Der Mittlere Osten erlebt gerade eine für ihn spezifische Art eines dritten Weltkrieges. Dieser Krieg unterscheidet sich jedoch von klassischen militärisch-politischen Auseinandersetzungen durch einige Besonderheiten. Tatsächlich findet ein „Kampf der Kulturen“ ((Deutscher Titel von Samuel Huntingtons Buch „Clash of Civilisations“. Sein Übersetzer hat sich wegen der unterschiedlichen Begriffstradition im deutschsprachigen Raum für die Übersetzung „Kultur“ für „civilisation“ entschieden. Wir folgen dem nicht und verwenden durchgängig den Begriff „Zivilisation“, wo der Autor „uygarlik“ benutzt, so in „demokratische Zivilisation“ und „mittelöstliche Zivilisation“. Der Zivilisationsbegriff des Autors entspricht eher dem angelsächsischen Begriff civilisation, der in der deutschen Begriffstradition als „Kultur“ wiedergegeben wird.)) statt, jedoch wird dieser Begriff oft falsch interpretiert. Seine historischen und gesellschaftlichen Dimensionen werden oft zu wenig beleuchtet. Die beteiligten Seiten, ihre Methoden und Ziele bleiben so im Unklaren. Obwohl von verschiedenen Plänen und Projekten die Rede ist, wirkt dieser Krieg, als ob er planlos und spontan geführt werde. So, als ob es das Ziel dieses Krieges sei, ein Chaos zu schaffen.

Die mittelöstlichen Staaten und Gesellschaften sind durch eine Vielzahl von Probleme gekennzeichnet. Seit der Antike häufen sich die Probleme an und nehmen der Gesellschaft zunehmend den Atem. Die Regime, die das kapitalistische System installiert hatte, damit sie eine Lösung finden, sind selbst zur Ursache der Probleme geworden. Weder sind sie selbst in der Lage, Lösungen zu produzieren, noch lassen sie zu, dass andere in- oder ausländische Kräfte dies tun. Insofern greift es zu kurz, das Problem lediglich in einer Krise des Islam zu sehen. Wir haben es mit Denkstrukturen zu tun, die noch vor die Entstehung der monotheistischen Religionen zurückreichen und ihre Wurzeln im Neolithikum haben. Es existiert eine Reihe von gesellschaftlichen Strukturen, die man mit dem Konzept der „Nation“ nicht erfassen kann. Nicht nur jeder Stamm, beinahe jede Familie hat so komplizierte Probleme wie sonst nur Staaten. Der Abgrund, der Frauen und Männer trennt, ist ebenso breit und tief wie die Kluft zwischen Gesellschaft und Staat. Sie sind einander beinahe vollständig entfremdet.

In diesem Chaos herrscht eine geradezu babylonische Sprachverwirrung. Als ob sich die Legende vom Turmbau zu Babel an gleicher Stelle wiederholen sollte, mühen sich im Irak mehr als siebzig Nationen ab. ((Diese Bemerkung bezieht sich auf die Koalitionstruppen, die 2003 den Irak besetzten und das Regime von Saddam Hussein stürzten.)) Doch das Chaos wird täglich größer. Der Krieg zwischen Arabern und Juden, ein Relikt aus der Zeit der Pharaonen, geht mit voller Wucht weiter. Gleiches gilt auch für die Militäroperationen, die seit den Zeiten der sumerischen Könige gegen die Kurden (damals „Kurti“ genannt) durchgeführt werden. Daher stellt sich die Frage, wie all diese Probleme im Mittleren Osten entstehen konnten.

Wir können die mittelöstliche Gesellschaft als die Stammzelle der Gesellschaften betrachten. Daher ist sie derart stark und beständig. So wie sich aus einer Stammzelle die verschiedensten Gewebe bilden können, so verhält es sich auch mit der Gesellschaft. Dem kapitalistischen System ist es gelungen, sich bis in alle Kulturen, vom amerikanischen Kontinent bis zum Pazifik und nach Australien, von dort nach Indien, China und Japan, von Afrika bis Russland und bis nach Südsibirien auszubreiten. In gewisser Weise hat es einen Sieg im Kampf der Kulturen davongetragen. Den Mittleren Osten jedoch konnte es trotz wiederholter Versuche seit dem 19. Jahrhundert nicht erobern. Dort herrschen Probleme, die vielleicht die der Weltkriege übertreffen. Die eigentliche Ursache für die Schwierigkeiten liegt offenbar in der Art und Weise, wie das gesellschaftliche Gewebe strukturiert ist.

Die Französische Revolution hat die Monarchie und den Feudalismus liquidiert, die Russische Revolution in ähnlicher Weise die Zarenherrschaft und den Feudalismus. Beide ähneln sich insofern, dass sie nicht in die Tiefe des gesellschaftlichen Gewebes vorgedrungen sind, sondern sich weitgehend auf eine Veränderung des Überbaus beschränkten. Die Analyse und schließlich die Liquidierung dieser Strukturen war bereits enorm schwierig. Letztlich spielten sich diese Revolutionen jedoch im Überbau ab und konnten nicht verhindern, dass die entstandenen Strukturen in das kapitalistische System integriert wurden. Der Versuch, diese Modelle der mittelöstlichen Gesellschaft und ihrem Überbau aufzuzwingen, verstärkte deren Probleme noch, anstatt sie zu lösen. Insofern müssen wir uns klar machen, worin genau dieser „Kampf der Kulturen“ besteht. Was ist es, das die mittelöstliche Zivilisation so widerständig macht und eine Lösung verhindert? Warum sind Interventionen gegen bestehende Zivilisationen weltweit überall erfolgreich, nur nicht im Mittleren Osten?

Die Antwort auf diese Frage liegt im Verhältnis der Mutter der Zivilisationen zu ihren Kindern. Eine Mutter ähnelt nicht ihren Kindern, sondern die Kinder ähneln der Mutter. Entsprechend können auch Tochterzivilisationen ihre Mutter nicht nach ihrem eigenen Bild formen. Vielmehr ähneln sie ihr, zumindest in einigen Aspekten. Ich möchte noch einmal die Metapher von der Stammzelle verwenden. Eine Stammzelle enthält das gesamte genetische Potential aller Arten von Zellen. In der ausdifferenzierten Zelle dagegen sind nicht mehr alle Gene der Stammzelle aktiv. Zweifellos darf man die Parallelen von gesellschaftlichen mit biologischen Phänomenen nicht allzu weit treiben. Dennoch kann ein solcher Vergleich für das Verständnis hilfreich sein. Offensichtlich muss sich die Zivilisation des kapitalistischen Systems von seiner oberflächlichen Herangehensweise an den Mittleren Osten verabschieden und dessen spezifische Besonderheiten besser verstehen lernen.

Bei der Analyse der mittelöstlichen Zivilisation sollte man sich insbesondere auf ihre geistige Struktur konzentrieren. Dabei spielt eine wichtige Rolle, dass die drei großen monotheistischen Weltbilder in dieser Region entstanden sind und hier Wurzeln geschlagen haben. Auf diesem Gebiet gibt es eine Reihe von Fragen, die reichlich Stoff für die Religionssoziologie, aber auch die Literatur und andere Bereiche der Kunst liefern.

Das Panorama der Geisteshaltungen wäre nicht vollständig, wenn man nicht auch die Wertvorstellungen der neolithischen Gesellschaft berücksichtigte, die in der Region immer noch nachwirken. Auf der anderen Seite gibt es aber auch immer noch Konfessionen, Stämme und Familien als Untergruppen von Religionen und Völkern, die sich mit den Machthabenden arrangiert haben. Die geistigen Schablonen des Kapitalismus brechen sich an der Realität des Mittleren Ostens und haben so dort eingeschränkte Bedeutung. Wenn wir die miteinander verwobenen geistigen Strömungen und Normen besser verstehen wollen, sollten wir sie in Bezug setzen zu ihrer Entstehung zu Beginn der geschriebenen Geschichte – oder sogar davor – und zur Welt der Mythologie, insbesondere der sumerischen. Im Mittleren Osten verschwimmt heute der Unterschied zwischen Reden und Handeln, Begriff und Tatsache, Traum und Wirklichkeit, Religion und Leben, Wissenschaft und Ideologie, Moral und Gesetz, wodurch ein großes Durcheinander entsteht. Alle Stufen der geistigen Entwicklung der Menschheit vermischen sich mit ihren negativen Konsequenzen zu einem gigantischen Haufen von Problemen. Sowohl alte als auch neue Sprachen sowie Geisteshaltungenstrotzen vor Konservativismus. Über die Bedeutung von Begriffen wie Land, Heimat, Nation und Staat, die in den letzten Jahrhunderten geprägt worden sind, herrscht tiefste Unwissenheit.

Auch die Strukturen von Macht und Krieg präsentieren sich im Mittleren Osten anders als in anderen Teilen der Welt. Sie sind nicht weniger kompliziert als das Geflecht der geistigen Strukturen. Obwohl Krieg und Macht in der Region seit so langer Zeit institutionalisiert sind, besteht doch eine paradoxe Kluft zwischen ihnen und dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben. In wechselseitigen Beziehungen kann jederzeit das gesamte Spektrum von subtiler Demagogie bis zu roher Gewalt zum Vorschein kommen. Mitunter hat das mit Rationalität nichts mehr zu tun. Macht und Krieg sind auch von Seiten der Sozialwissenschaften nicht verstanden worden und werden lediglich im Rahmen von religiösen, ethnischen, ökonomischen und politischen Kategorien sowie Klassen gesehen. Es ist jedoch kaum möglich, ein realistisches Bild des Mittleren Ostens zu bekommen, ohne Macht und Krieg in all ihren Formen vom abstrakten Gottesbegriff bis zum konkreten Knüppelhieb treffend zu analysieren.

Ebenso kompliziert wie die Machtverhältnisse sind die gesellschaftlichen Institutionen, darunter insbesondere die Familie. Der Mann und die Frau des Mittleren Ostens sind derart kompliziert strukturiert, dass sie einer spezifischen Analyse bedürfen. Eine Analyse der Frau und des patriarchalen Mannes nach allgemeinen soziologischen Kriterien wäre keinesfalls ausreichend. Im Mann und in der Frau spiegeln sich die dunkelsten Seiten der politischen, ideologischen und moralischen Realität wider. Die Widersprüche der Institution „Familie“ sind keineswegs geringer als diejenigen der Institution „Staat“. Die Familie ist mehr als eine gesellschaftliche Institution, sie ist sozusagen das „schwarze Loch“ aller Gesellschaften. Wenn wir die Frau unter die Lupe nehmen, können wir womöglich das Drama der gesamten Menschheit verfolgen.

Bei der Analyse der Region darf man die dialektischen Wechselbeziehungen zwischen Geschichte und Gesellschaft bzw. zwischen Geographie und Gesellschaft nicht vernachlässigen. Wir können weder die heutige noch die vergangenen Zivilisationen verstehen, wenn wir sie nicht in ihrem konkreten zeitlichen und räumlichen Kontext analysieren. Dabei ist die ungeschriebene Geschichte noch bedeutsamer als die geschriebene. Und auch die Geschichten der nicht genannten Orte sind wichtiger als diejenigen der Orte, die in aller Munde sind.

Offenbar ist es nicht sinnvoll, die wirtschaftliche Rückständigkeit isoliert von den gesellschaftlichen Verhältnissen zu betrachten und sie lediglich mit trockenen ökonomischen Theorien zu analysieren. Es ist eine allgemeine Krankheit der Sozialwissenschaft, die Gesellschaft so zu analysieren, wie man einen Kadaver in seine Bestandteile zerlegt. Jedoch hat diese Methode nirgendwo zu so falschen Ergebnissen geführt wie bei der Zivilisation desMittleren Ostens. Dies gilt zuallererst für die Ökonomie. Ökonomische Analysen ohne Berücksichtigung der Wechselwirkungen von Krieg und Macht, von Mentalität und Gesellschaft vergrößern nur das Unwissen. Die Übertragung von analytischen Schablonen der westlichen Zivilisation auf den Mittleren Osten führt offensichtlich zu Fehlern in Theorie und Praxis. Diese Methodik hat ihren Teil zum heutigen Chaos beigetragen.

Mittlerweile besteht ein breiter Konsens darüber, dass im Mittleren Osten ein Chaos herrscht. Tragischerweise bemüht sich jedoch niemand um eine sinnvolle Analyse – weder diejenigen, die von sich behaupten, die eigentlichen Herren der Region zu sein, noch diejenigen, die neuerdings Herrschaftsansprüche geltend machen. Sie scheuen davor zurück, denn einerealistische Analyse käme nicht nur dem Öffnen der Büchse der Pandora gleich. Es bedeutete eigentlich eine erneute Landung der Arche Noah am Berg Cûdî. ((In der koranischen Version der Noah-Legende landet die Arche am Berg Cûdî in Nordkurdistan.)) Es wäre der Beginn eines neuen Lebens – sowohl in menschlicher als auch in ökologischer Hinsicht. Das gegenwärtige Leben strotzt von Lüge und Gewalt. Seit dem sumerischen Priesterstaat von vor 5000 Jahren schleppt es einen Bodensatz von Despotie, Ausbeutung und Prostitution aller Art mit sich herum. Die Poren der Gesellschaft sind vielleicht noch nicht völlig verstopft, aber der Atem des Lebens strömt nicht mehr durch sie hindurch.

Alexander der Große arrangierte sich mit den Strukturen des Perserreiches und kurdischen Kollaborateuren und schuf so die mächtige zivilisatorische Synthese des Hellenismus. Wird es dem Alexander unserer Zeit, den USA, mit ihrem jüngsten Mittelost-Projekt vergleichbares gelingen, indem sie mit ihrer Provinz Irak und den dortigen kurdischen Aristokraten zusammenarbeiten?

Noch bedeutsamer scheint die Frage, ob es wie zur Zeit der Morgendämmerung der Geschichte den Kurden wieder gelingen wird, zur Wiege einer Zivilisation zu werden. Könnten sie beim Übergang des Mittleren Ostens in das Zeitalter der demokratischen Zivilisation eine ähnliche Rolle spielen? Die Kurden beeinflussten die Geschichte meist durch Interaktion mit den Zivilisationen in ihrer Umgebung. Auf ihrem eigenen Gebiet entwickelte sich die Zivilisation nur in begrenztem Maße. Um ihre Existenz zu bewahren wehrten sie sich zumeist als Ethnie – in der Form von Stämmen oder Sippen – gegen Angriffe von außen und gegen Besatzungsmächte, oder siekollaborierten, wo es zweckdienlich erschien. Ähnlich halten es die Kurden auch heute noch.

Andererseits werden sie gegen die neue Offensive des globalen Kapitalismus mit den alten Motiven nicht so leicht Widerstand leisten, die eigene Existenz bewahren oder kollaborieren können. Zwar versuchen die traditionell kollaborierenden Aristokratenfamilien, diese Politik fortzusetzen. Doch sehen sie sich mittlerweile einem Volk gegenüber, das die engen Grenzen der Ethnie überwunden hat und demokratisch agiert. Dieses Volk kann man weder mit alten Motiven auf sich selbst zurückwerfen, noch mit dieser oder jener Macht unter Kontrolle halten.

Es ist dem kurdischen Volk nicht gelungen, im klassischen Sinne einen Staat zu gründen. Doch wem es um die Freiheit geht, sollte diese Tatsache nicht als Verlust, sondern als Chance begreifen. Wie viele Versuche, die Gesellschaft zu befreien, hat es gegeben, die auf einen Staat hin orientiert waren und die Menschen wirklich zufriedengestellt haben? In Lateinamerika, Afrika und Asien haben so viele Völker ihren Staat bekommen. Ist es ihnen damit gelungen, ihre Probleme zu lösen? Oder haben sie sich nicht etwa noch verschlimmert?

In der Vergangenheit war das Handeln der Völker meist durch eine kommunalistische und demokratische Grundhaltung geprägt. Diese Identität muss mit den Möglichkeiten der modernen Wissenschaft und Technik ergänzt und institutionalisiert werden. Für die Völker des Mittleren Ostens ist heute die Demokratie so nötig wie das tägliche Brot. Nichts außer der Demokratie kann den Völkern Glück bringen – alles andere ist in der Geschichte schon versucht worden. Die Kurden werden sich, ihren Nachbarn und der Menschheit insgesamt dann einen Gefallen tun, wenn es ihnen gelingt, ihr Gebiet, das eine strategische Schlüsselstellung einnimmt, sowie ihre historischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten für eine demokratische Zivilisation im Mittleren Osten zu mobilisieren.

Bei dem Text handelt es sich um einen Auszug aus “Jenseits von Staat, Macht und Gewalt” von Abdullah Öcalan. Erhältlich ist die Verteidigungsschrift des inhaftierten PKK-Vorsitzenden HIER