Durchs wilde Kurdistan?

Vor weit über hundert Jahren schrieb Karl May einen Bestseller Durchs wilde Kurdistan über die Abenteuer eines deutschen Helden, Kara Ben Nemsi, in diesem Teil der Welt. Dieses ungemein populäre Buch begründete die Wahrnehmung Kurdistans in Mitteleuropa: Ein Ort brutaler Stammeskriege, naiver Ehrlichkeit und des Ehrgefühls, aber auch des Aberglaubens, Verrats und der permanenten grausamen Kriegsführung – das fast karikative barbarische Andere der europäischen Zivilisation. Wenn wir uns die heutigen KurdInnen ansehen, sollten wir uns über den Kontrast zu diesem Klischee wundern – in der Türkei, wo ich die Situation relativ gut kenne, bemerkte ich, dass die kurdische Minderheit der modernste und weltlichste Teil der Gesellschaft ist, weit weg von jedem religiösen Fundamentalismus, mit entwickeltem Feminismus usw. (Lassen Sie mich nur ein Detail erwähnen, dass ich in Istanbul gelernt habe: Kurdische Restaurants haben keine Toleranz für irgendwelche Anzeichen von Aberglauben….). Das „Stable Genius“ (Trump’s wiederholte Selbstbezeichnung) begründete seinen jüngsten Verrat an den KurdInnen (er entschuldigte den türkischen Einmarsch in die kurdische Enklave in Nordsyrien) mit der Feststellung, dass „Kurden keine Engel sind“ – Natürlich, da für ihn die einzigen Engel in dieser Region Israel (besonders im Westjordanland) und Saudi-Arabien (vor allem im Jemen) sind. In gewisser Weise sind sie jedoch die einzigen Engel in diesem Teil der Welt. Das Schicksal der KurdInnen macht sie zum exemplarischen Opfer der geopolitischen Kolonialspiele: An der Grenze von vier Nachbarstaaten (Türkei, Syrien, Irak, Iran) gelegen, hätte ihre (mehr als verdiente) Autonomie niemandes Angelegenheit sein dürfen, da sie den vollen Preis dafür zahlten. Erinnern wir uns noch an Saddams massive Bombardierung und den Giftgasangriff an den KurdInnen im Norden des Irak Anfang der 90er Jahre? In jüngerer Zeit spielt die Türkei seit Jahren ein gut geplantes militärisch-politisches Spiel, indem sie offiziell den IS bekämpft, aber effektiv KurdInnen bombardiert, die wirklich den IS bekämpfen.

Gelebte Utopie in Rojava

In den letzten Jahrzehnten wurde die Fähigkeit der KurdInnen, ihr kommunales Leben selbst zu organisieren, unter nahezu eindeutigen experimentellen Bedingungen getestet: Als ihnen der Raum zum Durchatmen gegeben wurde, außerhalb der Konflikte der umgebenden Staaten, überraschten sie die Welt. Nach dem Sturz Saddams entwickelte sich die kurdische Enklave im Nordirak zum einzigen sicheren Teil des Irak mit gut funktionierenden Institutionen und sogar regelmäßigen Flügen nach Europa. In Nordsyrien war die in Rojava liegende kurdische Enklave ein einzigartiger Ort im heutigen geopolitischen Durcheinander: Als den KurdInnen eine Pause von ihren großen Nachbarn gewährt wurde, die sie sonst ständig bedrohten, bauten sie schnell eine Gesellschaft auf, die man nur als eine tatsächlich existierende und gut funktionierende Utopie bezeichnen kann. Aus eigenem beruflichem Interesse bemerkte ich die blühende intellektuelle Gemeinschaft in Rojava, welche mich immer wieder zu Vorträgen einlud – diese Pläne wurden durch militärische Spannungen in der Region brutal unterbrochen.

Kritische Distanz einiger Linker „widerlich“

Aber was mich besonders traurig machte, war die Reaktion einiger meiner „linken“ Kollegen, die sich darüber ärgerten, dass sich die KurdInnen auch auf den militärischen Schutz der USA verlassen mussten – Was hätten sie tun sollen, gefangen in den Spannungen zwischen der Türkei, dem syrischen Bürgerkrieg, dem irakischen Chaos und dem Iran? Hatten sie eine andere Wahl? Sollten sie sich auf dem Altar der antiimperialistischen Solidarität opfern? Diese „linke“ kritische Distanz war nicht weniger widerlich als die gleiche Distanz zu Mazedonien. Vor ein paar Monaten fragte man sich, wie man das Problem der Namensgebung lösen könne: Mazedonien sollte seinen Namen in „Nordmazedonien“ ändern. Diese Lösung wurde von den Radikalen in beiden Ländern sofort angegriffen: Griechische Gegner bestanden darauf, dass „Mazedonien“ ein altgriechischer Name sei, und mazedonische Gegner fühlten sich gedemütigt mit der Reduzierung auf eine „nördliche“ Provinz, denn sie seien das einzige Volk, das sich „Mazedonier“ nennt. So unvollkommen diese Lösung auch war, sie bot einen Hauch von Hoffnung, um einen langen und sinnlosen Kampf durch einen vernünftigen Kompromiss zu beenden. Dennoch wurde es in einen anderen Kampf gezogen: dem Kampf zwischen Großmächten (USA und EU auf der einen Seite, Russland auf der anderen Seite). Der Westen übte Druck auf beide Seiten aus, um den Kompromiss anzunehmen, sodass Mazedonien schnell der EU und der NATO beitreten könne, während Russland aus genau dem gleichen Grund (da sie eine Gefahr ihres Einflussverlustes auf dem Balkan sahen) dagegen sprach und tollwütige, konservative nationalistische Kräfte in beiden Ländern unterstützte. Auf welche Seite sollten wir uns also hier stellen? Ich denke, wir sollten uns entschieden auf die Seite des Kompromisses stellen, und zwar aus dem einfachen Grund, dass es die einzige realistische Lösung für das Problem ist – Russland hat sich ihm nur wegen seiner geopolitischen Interessen widersetzt, ohne eine andere Lösung anzubieten, so dass Russland zu unterstützen hier bedeutet hätte, die vernünftige Lösung des einzigartigen Problems der mazedonischen und griechischen Beziehungen den internationalen geopolitischen Interessen zu opfern. (Wenn Frankreich nun gegen die beschleunigte Aufnahme Mazedoniens in die EU ein Veto einlegt, werden sie für eine unvorhersehbare Katastrophe in diesem Teil des Balkans verantwortlich sein.) Werden die KurdInnen mit dem gleichen Rückschlag von unseren antiimperialistischen „Linken“ konfrontiert werden?

Es ist unsere Pflicht die Kurden uneingeschränkt zu unterstützen

Deshalb ist es unsere Pflicht, den Widerstand der KurdInnen gegen die türkische Invasion uneingeschränkt zu unterstützen und die schmutzigen Spiele, welche die westlichen Mächte mit ihnen spielen, rigoros zu verurteilen. Während der souveräne Staat um sie herum allmählich in eine neue Barbarei versinkt, sind die KurdInnen der einzige Lichtblick. Und es geht nicht nur um KurdInnen, sondern auch um uns selbst und darum, welche Art von globaler Neuordnung entsteht. Wenn die KurdInnen aufgegeben werden, wird es eine neue Ordnung geben, in der es keinen Platz für den wertvollsten Teil des europäischen Erbes der Emanzipation geben wird. Wenn Europa die Augen von den KurdInnen abwendet, wird es sich selbst verraten. Das Europa, das die KurdInnen verrät, wird zum wahren Europastan!