Ein Brief an Ban Ki Moon: Nehmen Sie eine klare Position gegenüber dem alarmierenden Zustand in der Türkei ein

demirtasyüksekdagDemokratische Partei der Völker (HDP), 20.05.2016

Sehr geehrter Herr Generalsekretär,

Wir verfolgen aufmerksam den, auf Ihren Aufruf hin initiierten und am 23. und 24. Mai 2016 in Istanbul veranstalteten, “UN Weltnothilfegipfel”, der aufgrund der Kriege und der daraus geschuldeten Opfer dieser Welt notwendig ist. Diese Konferenz findet zu einer Zeit in einem Land statt, in dem Demokratie und gesellschaftlicher Frieden mit Staatsgewalt verdrängt wird, kurdische Gebiete immer mehr unter Gewalt und humanitäre Not leiden und die Welt Zeuge von tragischen Ereignisse für Flüchtlinge an den Grenzen dieses Landes wird.

Wir hatten die Hoffnung, dass anlässlich dieses Gipfels, der unter dem Motto “eine Menschheit, gemeinsame Verantwortung” stattfindet, internationale Mechanismen aufgrund der steigenden Menschenrechtsverletzungen in und um des Gastgeberlandes aktiv werden. Allerdings haben wir die große Sorge, dass das Erdogan Regime seine Gastgeberrolle dazu ausnutzen wird, seine Verbrechen vor dem nationalen und internationalen Recht zu verdecken. Wir sehen es als unsere Pflicht, Ihnen diese Sorge zusammen mit der Dimension, die die Verbrechen des autoritären Erdogan Regime angenommen hat, mitzuteilen.

Die AKP-Regierung, die noch vor nicht allzu langer Zeit als beispielhafte Regierung für die übrigen Länder des Mittleren Ostens gepriesen wurde, hat sich in den letzten Jahren zu einer Kraft entwickelt, die jeglichen Frieden und jegliche Stabilität in der Region sabotiert. Durch seine politische Haltung hat Herr Erdoğan von Anfang an zu einer Vertiefung der Krise in Syrien beigetragen, und dadurch den Krieg in Syrien in sein eigenes Land, als auch die Auseinandersetzungen im eigenen Land nach Syrien getragen. Das Schüren von regionalen Auseinandersetzungen durch das Erdoğan-Regime hat seinen dramatischen Höhepunkt erreicht, nachdem der Staatspräsident persönlich den Friedensgespräche mit der kurdischen Opposition, die seit dem Jahr 2013 geführt wurden, im April einseitig für beendet erklärt hat.

Seit rund einem Jahr wird jegliche Opposition, die sich gegen den Krieg und die Auseinandersetzungen der türkischen Zentralregierung stellt, unter dem Deckmantel von „Nationaler Sicherheit“ und „Anti-Terror Kampf“ gnadenlos kriminalisiert. Nachdem die Regierung selbst über Jahre Teil einer Friedensinitiative war, hat sie nun gegen 1128 Akademikern, die den Krieg in den kurdischen Regionen kritisierten, Untersuchungen und Verfahren aufgrund von vermeintlicher „Terror-Unterstützung“ eingeleitet. Dies ist wohl das eindrucksvollste Beispiel für die „Hexenjagd“ der Regierung gegen Demokratie- und Friedensaktivisten im eigenen Land.  Die Sicherheitspolitik deklarierte und keinerlei Maßstab kennende Politik des Erdoğan-Regimes, welche zur Verfolgung von politische Parteien, der Zivilgesellschaft, der Medien, Universitätsangehörigen und Arbeitnehmern führt, fungiert als Grundpfeiler einer neuen Türkei.

In diesem Umfeld wird jeder Journalist, der auch die kleinste kritische Meldung zu den Auseinandersetzungen in den kurdischen Gebieten aufs Blatt bringt, durch das Erdoğan-Regime zum  „Terror-Unterstützer“ erklärt, festgenommen und inhaftiert.  Ein ähnliches Schicksal erfahren Journalisten, die kritisch über die Syrienpolitik der Türkei berichten, wie das Beispiel der berühmten Journalisten Can Dündar und Erdem Gül unter Beweis stellt. Beide Journalisten hatten über die Waffenlieferungen der Türkei an dschihadistische Gruppen n Syrien berichtet und wurden anschließend aufgrund von „Vaterlandsverrat“ und „Spionage“ kriminalisiert und verurteilt.

Die Türkei hat sich mit der Ausweitung der bewaffneten Auseinandersetzungen im Land nicht nur zu einem totalitären System entwickelt, das die Rechte und Freiheiten ihrer Bürger massiv angreift. Sie hat. Mit den anhaltenden Kämpfen sind die kurdischen Bürgern und die syrischen Flüchtlinge im Südosten des Landes auch von einer humanitären Krise betroffen.

Wie verschiedene regionale und internationale Menschenrechtsorganisationen in ihren Berichten festgestellt haben, führt die Türkei seit rund einem Jahr unter dem Deckmantel der „Terrorbekämpfung“ Kollektivbestrafungen gegen die kurdische Bevölkerung in ihren Siedlungsgebieten durch. Die türkische Zentralregierung hat seit dem Juli des vergangenen Jahres durch die dutzendfache Erklärung von Ausgangssperren, die sowohl ihrer eigenen Verfassung als  auch den von der Türkei unterzeichneten internationalen Menschenrechtsvereinbarungen zuwiderlaufen, den gesamten Südosten zu einem einzigen Kriegsgebiet erklärt.

Bis dato wurden in sieben Provinzen und 22 Landkreisen, in denen bis zu 1,7 Mio. Menschen leben und in denen unsere Partei einen überdurchschnittlich hohen Wähleranteil hat, insgesamt 65 Mal Ausgangssperren verhängt, die mancherorts für wenige Tage und anderenorts über mehrere Monate aufrecht gehalten wurden. Vor Aushängung dieser Ausgangssperren, die stets von Polizei und Militäroperationen begleitet wurden, wurde die örtliche Bevölkerung nicht gewarnt. Folglich konnte sie zuvor keine Einkäufe tätigen oder sich anderweitig auf die Situation vorbereiten. Während der Operationen wurden gesamte Stadtteile, ohne Rücksicht auf Zivilisten, systematisch bombardiert und wahllos beschossen. Unzählige Dokumente beweisen, dass während der Belagerung Spezialeinsatzkräfte unzählige Wohnhäuser und Wohnungen der kurdischen Bevölkerung besetzt, in den Schlafzimmern der Wohnungen ihre Verbundenheit zum Staatspräsidenten Erdoğan in Form von Wandbemalungen zum Ausdruck gebracht und über die sozialen Medien rassistische Hassnachrichten aus diesen Wohnungen geteilt haben.

Wie das Antifolterkomitee in ihrem Bericht vom 13. Mai festgehalten hat, wurde in den Operationsgebieten vielfach gefoltert, gemordet und unverhältnismäßige Gewalt ausgeübt. Es wurden willkürliche Verhaftungen vorgenommen und das Privateigentum der Zivilbevölkerung wurde beschädigt. Nach unseren Erkenntnissen wurden durch diese Operationen mindestens 550 Zivilisten bei den Operationen ermordet und 350.000 Menschen wurden zur Flucht gezwungen. In Sur, Cizre, Nusaybin und Silopi wurden ganze Siedlungsräume den Erdboden gleichgemacht.

Nach den Operationen wurden die Ausgangssperren aufrecht gehalten, um die Beweise über die Tragweite der Menschenrechtsverletzungen und der Zerstörung zu vernichten. So wurde die Beweisaufnahme systematisch behindert. Viele Aktivisten, die sich dennoch zu Dokumentationszwecken versuchten in die betroffenen Gebiete zu begeben, wurden angegriffen und festgenommen.

Das Erdoğan-Regime hat während der Operationen weder humanitäre Hilfe in die betroffenen Stadtgebiete zugelassen, noch den Lokalverwaltungen und humanitären Organisationen gestattet, zu den eingekesselten Zivilisten vorzustoßen. Menschen, die Hilfen in die belagerten Gebiete leisten wollten, wurden festgenommen und inhaftiert. Derzeit befinden sich 57 unserer Bürgermeister und Stadtverordneten in türkischen Gefängnissen. 28 Bürgermeister und 24 Stadtverordnete wurden des Amtes enthoben.

Die wohl bislang dramatischsten Ereignisse infolge der Operationen, die jegliches Recht und menschliche Verantwortung außer Kraft gesetzt haben, haben sich in Cizre ereignet, wo rund 30.000 Menschen ihrer Obhut beraubt  worden sind. Bei den über 79 Tage anhaltenden Ausgangssperren wurden mindestens 200 Zivilisten, die in den Kellern von Wohnhäusern Zuflucht gefunden hatten, kaltblütig ermordet.  Die humanitäre Hilfe, welche die Stadtverwaltung von Cizre, die Ärztekammer, die Architektenkammer und die Menschenrechtsstiftung den Menschen in Cizre bringen wollten, wurde an den Militärstützpunkten vor den betroffenen Stadtteilen gestoppt und unterbunden. Die Menschen wurden mit den drohenden Epidemien, mit ihrem Hunger und ihrem Durst über 79 Tage sich selbst überlassen. Ähnliche Zustände erleben wir derzeit weiterhin in den Städten Şırnak, Nusaybin und Yüksekova, die neben den Belagerungen durch das Militär auch aus der Luft angegriffen werden. Menschenrechtsvereine, die diese Zustände zu dokumentieren versuchen, werden vom Staatspräsidenten Erdoğan persönlich als Vaterlandsverräter und Terrorunterstützer denunziert.

Der Stadtbezirk Sur stellt unter Beweis, wie das Erdoğan-Regime die zuvor belagerten und bekämpften Stadtteile demographisch neu gestalten möchte. Für die zerstörten Teile des Stadtbezirks von Sur wurde der Beschluss einer „eiligen Verstaatlichung“ gefällt. Unter diese Verstaatlichung fallen neben den Wohngebieten der Menschen auch die Flächen, die zum kulturellen Erbe der Armenier und Suryoye in Sur gehören. Die Entscheidung zur Verstaatlichung wurde in keiner Weise zuvor mit der Lokalbevölkerung und ihren Vertretern erörtert. Die demokratisch gewählten Bürgermeister und Stadtverordnete von Sur wurden schlichtweg von der autoritären Zentralregierung übergangen. Die leidtragende Lokalbevölkerung wurde mit ihren Sorgen sich völlig selbst überlassen.

Das Tableau der Regierung im Umgang mit den Flüchtlingen ist nicht viel besser als mit den Kurden. Auch wenn das Erdoğan-Regime in der syrischen Krise eine pro-sunnitische und anti-kurdische Position einnimmt, darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die Regierung die Grenzen für die syrischen Flüchtlinge offen gelassen hat. Dennoch ist gerade der Umgang mit besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen, wie Minderheiten, Frauen, Kinder, Behinderte, sowie Homosexuellen desaströs. Auch wenn die Türkei mit der Aufnahme von syrischen Flüchtlingen richtig gehandelt hat, hat sie in Sachen Diskriminierung und Ausbeutung von Flüchtlingen innerhalb der Türkei kaum Präventivmaßnahmen  etabliert.

Dass eine Vielzahl der Flüchtlinge in der Türkei unter äußerst schwierigen Umständen lebt, ist kein Geheimnis. Die internationale Gemeinschaft ist sich auch bewusst, dass die türkische Regierung die Flüchtlinge als Faustpfand im Umgang mit der EU ausnutzt. Auch ist hinlänglich bekannt, dass die EU es akzeptiert hat, bei den Menschenrechtsverletzungen des Erdoğan-Regimes gegenüber den Kurden zu schweigen, solange die türkische Regierung die Flüchtlinge von Europa fernhält. Den Preis für diesen Deal zahlen im Endeffekt die Flüchtlinge, die auf gefährlicheren Routen den Weg nach Europa suchen und in den Meeren ertrinken.

In der Praxis wird deutlich, dass das Erdoğan-Regime sich auch aus dieser Krise einen neuen Vorteil zu verschaffen sucht. Denn mit der Unterstützung der EU werden in Regionen, die vor allem von Menschen des alevitischen Glaubens besiedelt werden, Flüchtlingscamps errichtet. Die Errichtung dieser Camps nährt bei der alevitischen Bevölkerung die Befürchtung, dass inmitten ihrer Heimatgebiete militante Sunniten angesiedelt werden sollen. Die Regierung hingegen geht auf diese Befürchtungen der Bevölkerung nicht ein, sucht nicht den Dialog, sondern greift mit aller Gewalt die Proteste der Aleviten an und nimmt Aktivisten fest. Wir möchten unterstreichen: Wir sind ernsthaft besorgt, dass das Erdoğan-Regime die ethnisch-religiösen Auseinandersetzungen in Syrien aufgrund der Politik des türkischen Staates auch in die Türkei überzuschwappen drohen.

Sehr geehrter Herr Generalsekretär,

in Ihrem Bericht zum Gipfel in Istanbul betonen Sie ihre Vision, dass „das Vertrauen gegenüber der globalen Ordnung restauriert werden muss und die diejenigen, die in Krisengebieten  permanent mit ihren Bedürfnissen und ihren Ängsten allein gelassen werden, die notwendige Solidarität erwarten“. Aktuell leben in der Türkei Millionen Kurden und mehr als eine Millionen syrische Flüchtlinge eben ohne dieses Vertrauen an die globale Ordnung.  Denn in der  Türkei werden jeden Tag Kurden und Flüchtlinge ermordet.

Wir als Demokratische Partei der Völker führen unseren Kampf um Demokratie, Gerechtigkeit und Frieden in der Türkei fort, in der Hoffnung, dass wir eine Tages alle in unserer Heimat mit unseren grundlegenden Menschenrechten und unserer Würde leben können.

Wir glauben, dass es im Rahmen des ersten UN-Nothilfegipfels in Istanbul auch notwendig ist, eine klare Positionierung gegenüber dem alarmierenden Zustand in der Türkei einzunehmen und eine Perspektive für die humanitäre Krise im Land zu entwickeln.  Falls die Vereinten Nationen eine solche Positionierung nicht einnehmen sollte, werden die Menschen, die unter der gegenwärtigen humanitären Krise im Land leiden, einmal mehr Zeuge dessen sein, dass die globale Achtung der Menschenrechte den geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen geopfert werden. Und genau das würde eben ihr Vertrauen in die globale Ordnung weiter zerrütten und das Gefühl, allein gelassen zu werden, stärken.

Zum Abschluss möchten wir unsere Überzeugung zum Ausdruck bringen, dass die humanitären Krisen in Syrien, dem Irak, der Türkei und Palästina ein direktes Ergebnis von globalen geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen in den betroffenen Regionen darstellen, und wir deshalb fest daran glauben, dass diese von Menschen verursachten humanitären Krisen durch die Etablierung von lokal-demokratischen Autonomien, die im direkten Rechenschaftsverhältnis zur lokalen Bevölkerung stehen, überwunden werden können.

Hochachtungsvoll,

Die Demokratische Partei der Völker

Die Co-Vorsitzenden

Figen Yüksekdağ – Selahattin Demirtaş