Ein kurdischer Jugendlicher auf dem Pfad von Pozanti nach Osmaniye

ezgi basaranEzgi Basaran/Journalistin, Kolumnistin der türkischen Tageszeitung Radikal

Würden wir doch wie Pawlows Hund bellen1, und unsere Anforderung so einfach und niedrig halten, dass unser Hunger beim Läuten der Glocke empor kommt. Jedoch sind mittlerweile einige Ortsnamen existent. Ebenso wie beim Läuten der Glocke von Pawlow, ist das Ertönen von gewissen Namen ausreichend, um in die Tiefe von Übel, Scharm und Wut zu fallen.
Beispielsweise hat das Wort Uludere zur Folge, dass in uns Schmerz, Vereinsamung und Rage ausgelöst werden.
Oder auch Pozanti … Steine schmeißende Kinder widerfuhren in diesem makaberem Gefängnis Vergewaltigungen. Beschämung fühlt mensch beim Zuhören.

Genau darauf folgend Osmaniye … Dass die Gefangenen beim Eintreffen bis in den After durchsucht wurden, von der sogenannten Robocop-Einheit (Zusammensetzung aus den Wörtern Roboter und Knüppel) in den Zellen splitternackt ausgezogen und verprügelt wurden, kam während eines Besuchs von Parlamentsabgeordneten raus.
Scharm, Übel und Tränen.

Özgür Eksik, ist ein 19-jähriger Kurde, der wortwörtlich die Bedeutung seines Nachnamens zu leben hat. Wir sind es schuldig den Pfad von Pozanti und Osmaniye auch von ihm zu hören: „Weil ich am 1. September 2009 an der Friedenskundgebung teilnahm, wurde ich festgenommen. Es wurde auf jemanden auf einem Foto, auf dem im Tanzreigen tanzende Personen zu sehen und deren Gesichter verdeckt waren, gezeigt. Sie fragten mich, ob ich es sei. Ich war es nicht. Im E-Typ Gefängnis von Mersin wurde ich in die Zelle der Erwachsenen gesteckt. Von dem leitenden Gefängniswärter namens Durdu erhielt ich vor den Augen aller eine Tracht ‚Willkommens-Prügel‘. Nach dem 8ten Tag wurde ich nach Pozanti gebracht. Beim Eintreffen wurde ich von den Gefängniswärtern ausgezogen und mit einem Plastikrohr verprügelt. Der stellvertretende Leiter des Gefängnisses rief mich in sein Zimmer damit ich seine Hand küsse. Als ich mich dem verweigerte, wurde ich in eine Zelle mit Schwerverbrechern gesteckt. Sämtliche Fronarbeit der Zelle wurde mir aufgedrückt: Prügel, Übergriffe, einfach alles. Aus Furcht tat ich nachts kein Auge zu.
Als ich äußerte, dass ich in der Zelle für politische Gefangene möchte, wurde ich ins „Abrisszimmer“ gebracht, ausgezogen und mit Druckwasser und Rohren verprügelt. Zurück in der Zelle, konnte ich mich zwei Tage lang nicht aus dem Bett bewegen. Um Pozanti auf Papier niederzuschreiben reicht die Tinte meiner Feder nicht.“
Am nächsten Tag, setzte Özgür während des Hofgangs sein Bett und seine Decke in Brand, und wurde anschließend zwei Tage später nach Silifke verlegt. Sechs Monate später war er wieder auf freiem Fuß. Jedoch hatte das Ende keine Sicht. Nach der Stürmung seiner Wohnung am 14. Februar 2011 wurde er erneut festgenommen. Am 17. Februar wieder freigelassen. Immer noch kein Ende. 10 Tage später, also am 27.Februar wurde er wieder festgenommen und inhaftiert. Der Grund: „Sie sagten, dass ich der Jugendliche auf einem am 15. Februar 2011 vor einem Internetcafe geschossenen Foto sei. Ich sagte, dass ich es nicht bin und zu dieser Zeit eingesperrt gewesen war. Ich wurde in Haft gesteckt und zum Gefängnis von Osmaniye gebracht. Ich kann nicht niederschreiben, was dort die sogenannte ‚A-Mannschaft‘ der Gefängniswächter alles gemacht haben. Am 26. März 2011 wurde ich entlassen. Am 4. September wurde ich erneut aufgrund einer Aussage von jemanden, bei dem bekannt ist, dass es sich um einen Drogenabhängigen handelt, inhaftiert. Dieser Tag ist der heutige. Ich befinde mich im Gefängnis von Iskenderun. Bei dem Erzählten ist nichts erfunden. Das meiste wurde noch nicht erzählt. Um meine Unschuld zu beweisen, wollten wir die MOBESE-Aufnahmen (Aufzeichnungen von an öffentlichen Plätzen stationierten Kameras der Polizei), die Bewegungsortung meines Handys, Fingerabdrücke, alles was nötig war. Seit 9 Monaten warte ich darauf, ich warte, jedoch kommt nichts. Am 1. Oktober werde ich 20 Jahre alt. Mittlerweile verstehe ich viel besser, wie sehr uns der Staat liebt.“
Die Geschichte von Özgür ist wie der Faden eines Teppichs, der durch ähnliche Erlebnisse vieler der sich in politischer Gefangenschaft befindenden Jugendlichen gewoben wurde. So unfassbar, ein innerer Schmerz, es leid haben, daran kaputt gehen, gebrochen werden. Genau das ist Uludere, Pozanti, Osmaniye…
Die Worte, die in uns erklingen, die in einem Moment wieder empor treten. Unser Alltag wirkt noch erschwerter. Falls dem nicht so ist, dann soll Pawlow läuten, und wir werden unser Speichel fließen lassen und tanzen.

Notiz: Wenn wir das Sincan-Gefängnis vergessen, bleibt desto trotz des Gedächtnisses der Gefängniswächter. 10 Tage zuvor haben wir erfahren, dass die Kinder von Pozanti, die Vergewaltigung erleiden mussten, in einer als „Milder Raum“ gedeuteten Räumlichkeit gefoltert wurden. Was für ein Gerede war es nochmal? Der Folter null Toleranz, keine Probleme mit den Nachbarn. Rererö!

Quelle: Radikal, 14.06.2012, ISKU

Die Bezeichnung Pawlowscher Hund bezieht sich auf das erste empirische Experimentdes russischen Forschers Iwan Petrowitsch Pawlow zum Nachweis der klassischen Konditionierung.
Pawlow hatte im Verlauf seiner mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Experimente zum Zusammenhang von Speichelfluss und Verdauung beobachtet, dass bei Zwingerhunden schon die Schritte des Besitzers Speichelfluss auslösten, obwohl noch gar kein Futter in Sicht war. Er vermutete, dass das Geräusch der Schritte, dem regelmäßig die Fütterung folgte, für die Hunde mit Fressen verbunden war. Der vorher neutrale akustische Stimulus (Schrittgeräusch) werde im Organismus des Hundes mit dem Stimulus „Futter“ in Verbindung gebracht. Um diese Hypothese zu prüfen, gestaltete er 1905 ein aussagekräftiges Experiment: Auf die Darbietung von Futter, einem unbedingten Reiz, folgt Speichelfluss (unbedingte Reaktion), auf das Ertönen eines Glockentons (neutraler Reiz) nichts. Wenn aber der Glockenton wiederholt in engem zeitlichem Zusammenhang mit dem Anbieten von Futter erklingt, reagieren die Hunde schließlich auf den Ton allein mit Speichelfluss. Dieses Phänomen bezeichnete Pawlow als Konditionierung.

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