Eindrücke vom Aufbau revolutionärer Kultur und Bildung in Nordsyrien

Marcel Cartier, Journalist und Internationalist aus London; für den Kurdistan Report September/Oktober 2017

Revolutionäre Kultur wird oft verstanden als die mühsame Schaffung von etwas völlig Neuem im Prozess der radikalen Transformation einer Gesellschaft. Die alten Ideen des Establishments werden auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen und massenhaft ersetzt durch solche, die früher unterdrückt wurden. Selbstverständlich war es bis heute in keiner Revolution je so einfach oder klar. Außerdem können in Gesellschaften, in denen indigene Kulturen durch die bestehende Macht unterdrückt wurden, diese marginalisierten und manchmal illegalen Ausdrucksformen aufgrund ihres Antagonismus zum Staat revolutionär sein, ungeachtet der Tatsache, dass sie in keiner bedeutenden Art und Weise »neu« sind. Wie die Realität heute in Nordsyrien, wo nicht nur die kurdische Sprache und Kultur, sondern auch diejenigen der 25 bis 30 dort ansässigen ethnischen Gruppen, die nicht arabisch sind, von Neuem analysiert und praktiziert werden.

Trotzdem steckt in der Realität eine »Rückkehr zum Alten« voller gravierender Widersprüche. Die kurdische Freiheitsbewegung spricht oft von einer »Rückkehr zur natürlichen Gesellschaft«, aber das ist nicht in einer starren Art und Weise gemeint. Wenn alle Elemente der kolonialisierten Kultur mechanisch praktiziert werden, ist es nicht das Gleiche, wie eine revolutionäre Kultur zu erschaffen. Für die Radikalen in Rojava ist es nicht genug, dass »kurdische Kultur« in einem abstrakten Sinne zurückgewonnen wird. Es stellt sich die Frage, welche Art von kurdischer Kultur? Es besteht in der Tat ein tief greifender Unterschied zwischen der Kultur des engen und traditionellen Nationalismus der Offizialität des Bildungssystems in der kurdischen Region Iraks und etwa derjenigen der Internationalisten, die die Avantgarde der Veränderung in Nordsyrien bilden. Möglicherweise müssen Elemente der zurückgewonnenen Kultur, besonders wenn sie feudale Ideen repräsentieren, durch etwas ersetzt werden, das einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit darstellt.

Meine Herkunft, ein Hip-Hop-Künstler aus dem Westen, dessen Musik eine progressive, sozialistische Botschaft enthält, rief bei mir ein ernsthaftes Interesse an der Frage hervor, wie die Künste heute in Rojava praktiziert werden, fünf Jahre nachdem die so genannte demokratische Selbstverwaltung die Aufgabe, die Gesellschaft zu organisieren, vom syrisch-arabischen Staat übernommen hat. Ich war fasziniert zu sehen, was aus den alten Schulen geworden ist, in denen ausschließlich in arabischer Sprache und darüber hinaus ausschließlich die arabische Kultur, in einer ethnisch so vielfältigen Region, unterrichtet worden war.

In die »Şehîd Yekta Herekol«-Akademie eintreten

Die Stadt Tirbespiyê, nur dreißig Kilometer östlich von Qamişlo (Al-Qamischli) gelegen, der De-facto-Hauptstadt der Demokratischen Föderation Nordsyrien (DFNS), ist heute vielleicht nicht leicht auf einer Karte mit ihrem kurdischen Namen zu finden, da ihr offizieller Name innerhalb der syrisch-arabischen Republik noch immer al-Qahtaniyah lautet. In der Stadt mit ungefähr 16.000 Einwohnern ankommend, hält die Gruppe von Internationalisten, mit denen ich reise, zuerst an einem Checkpoint der Asayîş1 an. Nachdem wir durchgewunken wurden, kann ich eine Gruppe von vielleicht einem Dutzend Teenagern sehen, die sich darauf vorbereiten, unseren Zug am Haupteingang dessen, was eine der ersten revolutionären Akademien für die Ausübung der Künste in der Region darstellt, zu begrüßen. Als ich auf den Bürgersteig trete und zu den Toren der Institution hinaufgehe, greift ein junger Mann, nicht älter als achtzehn, nach meiner Hand und sagt auf Englisch: »Willkommen in der Akademie Şehîd Yekta Herekol.«

Der Name der Institution, wie so viele andere heute in Nordsyrien, erweist seine Ehrerbietung einem Märtyrer der kurdischen Freiheitsbewegung. Yekta Herekol, 1968 in Dêrsim geboren, hatte bis in die frühen 1990er Jahre Theater in Ankara studiert, bis er mit der diskriminierenden Praxis des türkischen Staates gegenüber seiner ursprünglichen Kultur konfrontiert wurde. Nachdem er sich entschieden hatte, zur PKK in die Berge zu gehen, wurde er bei zwei Anlässen von den türkischen Behörden gefangen genommen, schaffte es aber schließlich ins Ausland, wo er seine künstlerischen Fähigkeiten weiterentwickelte. Während er seine Kultur in Griechenland und Russland frei praktizieren konnte, sehnte er sich jedoch nach dem Boden seiner Heimat und beschloss, nach Kurdistan zurückzukehren. 2003 kam er nach Rojava und schloss sich am 12. März 2004 Demonstrationen in Qamişlo an. Zwei Wochen später verbrannte er sich in Aleppo aus Protest, nicht nur gegen die Repression der Zentralregierung gegen die Kurden, sondern als eine Kritik an der Bewegung, »ihre Arbeit richtig zu machen und den Kampf zu verstärken«.

Während ich die Haupthalle der Akademie betrat, fühlte ich mich, als käme ich in ein Museum der Zukunft. Überall waren wunderschöne Malereien und Skulpturen zu sehen, wobei ich mich fragte, ob es möglich sei, dass solche jungen Menschen, wie ich sie gerade getroffen hatte, wirklich für solch wunderbare Kreationen verantwortlich waren. Wie sich herausstellte, waren all die hier zu sehenden Arbeiten die Leistungen dieser unglaublich talentierten Studierenden. Unserer Gruppe wurde eine Tour durch die zwei Geschosse der Akademie zuteil, Raum für Raum voller Utensilien zur Ausübung von Kunst – Kostüme für Theateraufführungen, Musikinstrumente, Pinsel und Staffeleien zum Malen. Im Innenhof war eine Grünfläche, die die Studierenden und Lehrer in naher Zukunft in einen Garten zu verwandeln planten. Wir wurden dann in die Küche geführt, wo eine kleine Gruppe von Studierenden das Mittagessen vorbereitete, bevor wir zu etwas gerufen wurden, das aussah wie eine Impro-Musical-Aufführung einer anderen Gruppe Jugendlicher.

Hevaltî (Genossenschaftlichkeit) zwischen Studierenden und Lehrenden

Es fühlt sich seltsam an, die Ausdrücke »Student« oder »Lehrer« zu benutzen, wenn von den Rollen derjenigen die Rede ist, die in der Akademie Bildung bekommen oder verantwortlich sind für deren Vermittlung. Tatsächlich ist der Unterschied sehr viel unschärfer als in Institutionen in kapitalistischen Gesellschaften oder möglicherweise sogar in einigen sozialistischen. Ich habe sehr schnell verstanden, dass die Beziehung zwischen Studierenden und Lehrern hier nicht dieselben Charakteristika von Unterordnung enthält, mit denen ich selbst aufgewachsen bin. Ich erinnere mich an die Schulzeit, mir wurde gesagt, was ich zu denken habe (im Gegensatz zu Methoden, wie man denkt), ich stopfte Informationen in mein Gehirn, stellte sicher, dass ich meine Lehrer nicht zu sehr herausforderte, und schrieb Klausuren, von denen ich das Gefühl hatte, sie seien Zeitverschwendung. Informationen für einen längeren Zeitraum zu behalten, war kaum einen Gedanken wert. Hier in Rojava traf ich auf etwas vollkommen anderes, einen Typus eines Lernparadigmas, das mich an die Ideen erinnerte, die in Paulo Freires Pädagogik der Unterdrückten2 vorgeschlagen wurden. Wie mir von einem Studierenden gesagt wurde, einem Siebzehnjährigen namens Gelhat: »Wir sind alle Studenten und Lehrer. Das ist die Art, wie wir organisiert sind und von der wir herausgefunden haben, dass wir so am besten lernen können.«

Das bedeutet aber nicht, dass es keine offizielle Struktur gibt, natürlich gibt es die. Die Akademie hat eine Reverberî, grob übersetzt mit Führung, aber sie ist keine Administration, die gegenüber den dort Eingeschriebenen unantastbar wäre oder keine Rechenschaft abzulegen hätte. (Wie in jeder Verwaltung in Rojava müssen 50 % der Reverberî aus Frauen bestehen.) Es schien hier nicht diese einschüchternde Präsenz im Namen der Führung zu geben, an die ich mich in meiner Schule sehr gut erinnern kann. Wie einer dieser »Verwalter« sagte: »Wir haben ein wöchentliches Tekmîl (eine Kritik- und Selbstkritikrunde), wo die Studierenden und wir gemeinsam darüber reflektieren, was wir an uns kritisieren, was wir hätten effektiver machen können und welche Vorschläge wir haben, um weiterzumachen. Außerdem ist dies der Ort, wo Studierende die Reverberî kritisieren können. Unsere Beziehung basiert auf dem Konzept von hevaltî (Genossenschaftlichkeit). Es ist nicht hierarchisch.«

Für einen Fremden waren dies schockierende Konzepte, aber auf der anderen Seite schienen sie den gesunden Menschenverstand widerzuspiegeln. Welchen besseren Weg könnte es geben, um wirklich bis zur Wurzel dessen vorzudringen, wie eine Lernerfahrung gestärkt werden kann, als ein Forum, wie man es produktiver machen kann, anstatt Verbesserungsvorschläge zu unterdrücken? Das wirkte wie ein wirklich radikales Konzept, wenn man aus den Hallen des »Lernens« im Westen kommt. Es wirkte tief revolutionär zu denken, dass die Lehrer auf eine solch direkte Art und Weise kritisiert werden könnten, ohne es persönlich zu nehmen oder darauf mit »Disziplinarmaßnahmen« gegen die Studierenden zu reagieren.

Ich habe lange davon geträumt, die Barriere der Trennung und des »unantastbaren« Lehrers, der da war, um anorganisch Wissen in die Studierenden zu implementieren, niederzureißen, und hier sah ich genau das realisiert. Dann verstand ich, dass es nicht nur in meinen fremden Augen seltsam erscheinen musste – an einem Punkt mussten diese Studierenden exakt dasselbe gefühlt haben.

Ich war sehr neugierig, wie stark sich die Bildung in dieser Region des Landes verändert hat, seit 2012 die Selbstverwaltung die Aufsicht übernommen hatte. Eines der Mitglieder der Reverberî erzählte mir: »Diese Akademie war früher selbst ein Kulturzentrum des Staates. Aber damals war es unvorstellbar, dass junge Leute mit der Herkunft der heutigen Studierenden Zugang gehabt hätten. Es war für die Elite vorgesehen und vorrangig für Araber. Wir versuchen jetzt die Demokratische Nation aufzubauen, daher ist unser Ziel, Studierende unterschiedlichster Herkunft hier zu haben, nicht nur Kurden. Selbstverständlich war das bis jetzt wegen der Repression gegen die kurdische Kultur unser Fokus, da die Studierenden die arabische Kultur bereits aus ihrem früheren Unterricht vor der Revolution kennen.« Eine junge Frau von siebzehn Jahren ergänzte die Worte der Dozentin, sie sprach davon, wie unterschiedlich das Lernklima im Vergleich zu der Zeit vor 2012 jetzt war: »Ich erinnere mich daran, dass wir geschlagen wurden, wenn ein Student entdeckt wurde, wie er nicht adäquat den offiziellen Lehrplan einhielt. Jetzt geben wir den Unterricht. Es ist ein Unterschied wie Tag und Nacht.«

Die Struktur der Akademie

Das Unterrichten, von dem sie sprach, bedeutet, dass jeden Monat ein Studierender dafür verantwortlich ist, eine Unterrichtsstunde vorzubereiten und sie für den Rest der Klasse zu halten. In dieser Akademie, die erst im Herbst 2015 eröffnet wurde, gibt es aktuell 35 Studierende sowie vier von der letzten Schulungsperiode, die in einer unterstützenden Rolle noch verblieben sind. Anders als in Institutionen, die ich mein ganzes Leben gekannt habe, beträgt die Lerndauer hier nicht mehrere Jahre, sondern vielmehr fünfzehn Monate. Das wird nicht unbedingt als Idealdauer für einen Verbleib an dieser Akademie betrachtet, aber wie mir gesagt wurde, wurde sie wegen des Krieges verkürzt: »Wir haben im Allgemeinen dringende Bedürfnisse in der Gesellschaft, dass Studierende, wenn sie ihr Fach gut meistern, natürlich anderswo gebraucht werden, um ihr Fachwissen beizusteuern.« Die jüngste dieser Studierenden ist dreizehn, der älteste zwanzig. Anders als in unseren westlichen Gymnasien oder anderen Oberstufen gibt es keine Unterscheidung zwischen Noten oder Jahrgängen. Die Dreizehnjährigen sitzen im selben Unterricht wie ihre bis zu sieben Jahre älteren Mitstudierenden. Im aktuellen Bildungsabschnitt gibt es fünf Musiklehrer, vier unterrichten Film, und vier für Tanz. Der tägliche Unterricht besteht aus vier Stunden Unterricht am Morgen und drei am Nachmittag, fünf Tage die Woche. Das sind 35 Stunden Unterricht in der Woche.

Es heißt, dass der tägliche Betrieb der Akademie nicht nur von den Studierenden erledigt wird, sondern auf eine kollektive Art und Weise demokratisch von ihnen geplant wird. Zusätzlich zum Küchendienst werden die Logistik und die Reinigung des Zentrums auf kommunale Art und Weise durchgeführt. Dies ist ein Zentrum, in dem die Studierenden nicht nur tagsüber lernen, sondern auch schlafen und daher mit der Verantwortung betraut sind, sich um ihre Lern- und Wohn­atmosphäre zu kümmern.

Eher Akademien als Universitäten

Die Idee der freien Akademie (es gibt hier selbstverständlich keine Studiengebühren) war ein Vorschlag des Vorsitzenden der kurdischen Freiheitsbewegung Abdullah Öcalan, der ihre Etablierung als Möglichkeit sah, die bestehende Struktur der staatlichen Universitäten zu ersetzen. Wie mir erklärt wird, gibt es Gemeinsamkeiten mit traditionellen Universitäten oder Schulen in dem Sinne, dass es Prüfungen gibt, aber der Unterschied ist, dass Studierende, die nicht beim ersten Mal Erfolg haben, nicht durchgefallen sind oder aus der Akademie geworfen werden. Des Weiteren werden auch Diplome oder Zertifikate ausgestellt. Der primäre Fokus liegt dabei eher darauf, ein Fach oder eine Disziplin wirklich zu beherrschen, anstatt ein Stück Papier zu besitzen, um den Akademiebesuch zu beweisen und zu benutzen, um in der Gesellschaft »Erfolg« durch mehr Geldverdienen zu gewinnen als ohne Akademiebesuch. Wie ein Student zu mir sagte: »Vielleicht sieht es für dich oberflächlich aus wie eine Universität, aber der Inhalt ist radikal anders.«

Im Kontext unserer Gesellschaften denken wir möglicherweise oft über die Kunst, dass sie einzig und allein als Selbstzweck geschaffen wird. Das ist nicht notwendigerweise richtig, da jede Kunst eine ideologische Orientierung hat (auch die Kunst mit eingeschlossen, die vorgibt, über jede Ideologie erhaben oder nicht ideologisch zu sein). In dieser Akademie liegt ein Schwerpunkt auf den historischen, philosophischen, ästhetischen, ideologischen, politischen und sozialen Aspekten von Kunst und Kultur. Es gibt aktuell insgesamt dreißig Studiengebiete, die alle darauf abzielen, etwas zum von der Reverberî vorgebrachten Motto beizutragen: »Wir wollen einen Künstler schaffen, der fähig ist, den Machthabern die Maske herunterzureißen; einen Künstler, der die Grundlage dafür schafft, ihre Macht zu zerstören. Diese Institution holt unsere Stimmen und unsere Gefühle von unserem Feind zurück und gibt allen anderen Völkern eine Stimme, die durch das Besatzersystem unterdrückt werden.«

Problemen und Widersprüchen begegnen

Wie bei jeder Institution in Rojava gibt es keinen Mangel an Problemen, die der Entwicklung im Wege stehen. Wie soll es letztendlich auch anders sein in einer Kriegssituation? Diese Revolution entfaltet sich nicht unter Idealbedingungen, sondern inmitten eines Szenarios, in dem das sprichwörtliche Überleben der Bevölkerung keine ausgemachte Sache ist. Trotzdem herrscht ein Klima voller Humor und Unbekümmertheit, das es schafft, die Atmosphäre der Akademie zu durchdringen. Als ich jemanden von der Reverberî nach dem Hauptproblem frage, mit dem die Akademie konfrontiert ist, sagt er, vielleicht halb im Scherz: »Du kennst die Jugend: Sie will nicht im Unterricht sitzen, sondern herumrennen und die ganze Zeit spielen!« Ich blicke hinüber zu einem der Studierenden, der mir ein verschmitztes Lächeln zeigt, diese Art von Lächeln, das mein Freund und ich immer hatten, wenn wir Unerlaubtes vorhatten im Unterricht. Nicht einmal hier, in einem kooperativen und demokratischen Lernumfeld, war der jugendliche Geist der Rebellion unvermeidlich.

Wieder ernster werdend sagt mir der Genosse von der Reverberî: »Jeder Studierende bringt den Einfluss des Besatzungssystems wie den Einfluss der traditionellen kurdischen Gesellschaft mit sich. Unser Ziel ist es, die Ideologien zu transformieren. Zehn Prozent unseres Kampfes sind gegen einen äußeren Feind gerichtet und neunzig Prozent nach innen.« Er bringt es außerdem faszinierend auf den Punkt, welche Art von Disziplin notwendig ist, um die Sozialisation der alten Gesellschaft zu überwinden: »Wenn du diesen jungen Leuten sagst, sie sollen bei den YPJ/G [Frauen-/Volksverteidigungseinheiten] kämpfen gehen, sind sie alle dabei. Wenn du ihnen aber sagst, setz dich hin und lies, sagen sie nein. Das Studium setzt immense Mühen voraus, möglicherweise noch mehr als das Kämpfen.«

Zusätzlich zu den erwähnten Problemen der Jugend wurde darauf hingewiesen, dass einige Studierende aufgrund des in der Gesellschaft noch immer vorherrschenden Traditionalismus durch ihre Familien daran gehindert wurden, die Akademie zu besuchen. Das unterstreicht die Wichtigkeit der Arbeit dieses Zentrums, denn was innerhalb dieser Hallen des Lernens passiert, hat eine dialektische Verbindung mit dem, was in der breiteren Gesellschaft passiert, inklusive der Ansichten von Müttern und Vätern. Es ist zu hoffen, dass Einstellungen in der älteren Generation, die ihre Söhne und Töchter daran hindert, an solche Orte des Lernens zu gelangen, alsbald verschwinden.

Die allmähliche, doch sehr reale Transformation menschlicher Wesen war in diesen Studierenden, die ich getroffen habe, ganz deutlich zu erkennen. Es war klar, dass sie revolutionäre Moral und Persönlichkeiten entwickelten. Die Akademie schickt jetzt schon einige ihrer Studierenden für einen Zeitraum von zwei Monaten in Städte wie Dêrik, Qamişlo und Kobanê, um zehn Menschen in den Künsten zu unterrichten. Sie werden mit einer Verantwortung betraut, die im Westen von irgendeiner Verwaltung einer Bildungseinrichtung keiner Jugend gewährt werden würde.

In die Zukunft tanzen

Ich gebe zu, dass ich niemals so sehr peinlich berührt gewesen bin wie an dem Abend nach dem Ende des Seminars für unsere internationalistische Gruppe über die Geschichte der Akademie und die Struktur des in Rojava entwickelten Lernens. Wir wollten die Nacht gemeinsam mit den Studierenden in der Akademie verbringen, und Aktivitäten, die die Grenze der Sprachbarriere überwinden, sind immer die besten Mittel, um Menschen auf bestimmte Art kennenzulernen. Die Peinlichkeit hatte schon Stunden zuvor während einer Programmpause begonnen, als mein »internationalistisches« Team das erleiden musste, was wohl zu den schrecklichsten Niederlagen im Volleyball zählt. Fairerweise muss uns zugutegehalten werden, dass die Studierenden der Akademie wohl täglich üben können, da sie ein Netz direkt vor dem Eingang ihrer Schule haben, daher konnten keine Wunder erwartet werden. Wie auch immer, ich hoffte sehnlichst auf eine göttliche Intervention, als sie uns an diesem Abend auf den Tanzboden zerrten, um am traditionellen kurdischen Tanz teilzunehmen.3 Unglücklicherweise gab es keinen Ort, um sich entweder vor den Augen der Studierenden oder ihren Kameras zu verstecken. Sie amüsierten sich recht herzlich auf unsere Kosten – naja, vielleicht nicht auf unsere Kosten, da wir vielleicht sogar noch lauter über diese »Peinlichkeit« lachten als sie.

Nachdem die Belustigung der abendlichen Stunden zu schwinden begonnen hatte, kehrten wir alle wieder in die Realität zurück, als wir merkten, wie spät es war. Um zehn Uhr abends sind die Studierenden normalerweise in ihren Zimmern, um sich für die Nacht fertig zu machen, aber es war beinahe elf Uhr und wir waren noch immer schweißgebadet von den vielen Stunden des Tanzens (ich gebrauche den Begriff in meinem Falle sehr frei). Gegenüber der Haupthalle leben einige der männlichen Studierenden, in einem mit Schlafsälen westlicher Universitäten vergleichbaren Rahmen. Wir gingen hinaus an die frische Luft und überquerten die Straße. Ich konnte nicht anders, als an meine College-Erfahrung vor fast fünfzehn Jahren zu denken. Ich erinnerte mich an die unzähligen Male, als ich nach den scheinbar nie enden wollenden College-Partys zu meinem Schlafsaal zurückkehrte, meistens betrunken und stolpernd. Um ehrlich zu sein, ich hatte nicht viel Respekt vor meiner College-Erfahrung, weil ich offen gesagt das Gefühl hatte, dass die Institution auch nicht viel Respekt vor mir hatte. Ich konnte mich nicht auf die Erfahrungen beziehen, mich gefühlt zu haben, als würde ich nicht viel lernen, wo ich mich niemals herausgefordert gefühlt hatte und die Lehrer sich verhalten hatten, als seien sie unantastbar. Es hatte mich nicht angesprochen. Der einzige Teil des Colleges, den ich wirklich genossen habe – und ich bin sicher, das gilt für einen riesigen Teil der College- und Universitätsstudierenden in den USA –, waren diese Partys an Freitag- und Samstagabenden, die wie eine Erholungspause von den die Woche über besuchten langweiligen, starren Kursen waren. Diese Entfremdung, die ich in der Schule gefühlt hatte, wandelte sich später in die Entfremdung von der Arbeit. Mein einziger Trost war es, freitagnachts auszugehen und die Existenz meiner Ausbeutung zu vergessen.

Hier war ich nun, inmitten des Krieges in Syrien, und ich fand etwas bemerkenswert anderes. Ich wünschte mir, ich könnte wieder so alt sein wie diese Studierenden, so dass ich solch ein Lernzentrum besuchen könnte wie das, das ich gerade betreten hatte. Da gäbe es nicht diesen Hang, »betrunken zu werden«, oder den Versuch, andere interessante Ausflüchte aus den banalen und erstickenden Grenzen der westlichen Universitäten zu finden. Hier wurde eine Pädagogik entwickelt, die die Studierenden als Macher ihres eigenen Schicksals respektiert, als Teil von etwas Größerem, und eine Bewegung zur Befreiung des Menschen. Das Beispiel, das ich gesehen hatte, war sehr eindrücklich. Obwohl ich mich im Westen glücklich schätze, jede Nacht friedlich zu schlafen ohne die Sorge, dass faschistische Truppen auf meiner Türschwelle auftauchen, beneide ich gleichzeitig die Jugend von Rojava, dass sie den Luxus hat, ein vollkommen neues Bildungs- und Kultursystem zu schaffen. Es ist eine Kostbarkeit, die natürlich in keiner Weise luxuriös ist, da die Selbstverteidigungskräfte für die Verteidigung dieser Studierenden täglich mit ihrem Blut bezahlen. Um Lincoln Steffens zu zitieren, der die Sowjetunion in den frühen Jahren nach der Revolution besichtigt hatte: »Ich habe die Zukunft gesehen und sie funktioniert.« Aber dieses Mal lasst uns hoffen, dass die Zukunft noch schöner und siegreicher geschrieben wird.