Eine blutende Wunde: Die Hungerstreiks

Şebnem Korur Financi, Evrensel, 10.04.2017

Letzte Woche hatte ich die Gelegenheit, den Freunden in den Gefängnissen in Form meiner Kolumne einen Brief zu schreiben. Ich habe eine Zugfahrt genutzt, um diesen Brief fertigzuschreiben. Denn auf der einen Seite wollte ich das Briefeschreiben nicht weiter hinauszögern, da ich aufgrund der schnell wechselnden Tagesordnung unseres Landes immer wieder aufs Neue ansonsten mit neuen Aufgaben überhäuft werde. Auf der anderen Seite war die Reise mit der Bahn eine willkommene Gelegenheit, um meine stets angefangenen, aber nie zu Ende gebrachten Notizen in einen Brief auszuformulieren.

Ich mag es, unterwegs zu sein und erst recht mag ich Bahnfahrten. Die Bahnhfahrt passt im Gegensatz zum Flugzeug eher zu dem Rhytmus des Lebens. Der Unterschied, den ich stets zu schätzen wusste, liegt darin, dass im Gegensatz zum Flug klar ersichtlich ist, dass Zeit, Raum, die Städte und manchmal das sogar das Leben zusammen mit der Zeit dahin fließen.

Das Schreiben und insbesondere das Schreiben an Freunde in der Bahn kam mir so vor, als würde man dem schnell vorbeiziehenden Leben ein Komma setzen.

Während wir versuchen, ein wenig Ruhe in uns einkehren zu lassen, zogen andere Leben an uns vorbei. Junge Menschen befinden sich im Hungerstreik und sind gerade an einem Punkt angekommen, an dem ernste gesundheitliche Schäden auftreten können, weil sie keinen anderen Weg sahen, ihrer Stimme Gehör zu verschaffen, als ihre Körper und Leben dafür einzusetzen.

In den Gefängnissen der Hungerstreik in Şakran und befindet sich derzeit dort in den 50er Tagen. An der Yüksel-Straße im Zentrum von Ankara verlangen junge Menschen ihre Arbeit und somit ihre Zukunft zurück, und befinden sich in den 30er Tagen ihres Hungerstreiks. Diese Menschen und ihre Suche nach Gerechtigkeit haben ihren Platz in unseren Herzen. Während wir bei denjenigen, die nicht in den Gefängnissen sind, ein wenig aufatmen können, weil wir wissen, sie können Vitamen B1 nehmen und somit bleibende Schäden erst einmal verhinden, hören wir von diversen Gefängnissen, dass Präparate und Lebensmittel wie Vitamen B1, Wasser, Salz und Zucker, die für die Verhinderung bleibender Schäden bei Hungerstreiks von herausragender Bedeutung sein können,  ganz oder teilweise verboten bzw. unter Auflagen zur Verfügung gestellt werden. Dies bereitet uns ernsthafte Sorgen.

In meinen ersten Jahren in diesem Beruf in den 1980er Jahren haben wir stets Informationen aus den Gefängnissen gehabt. Die Bürde dieser Tage lastet noch auf mir. Sie wird allerdings noch schwerer, wenn man bedenkt, dass dieses mal keine unabhängigen Institututionen oder Ärzte den Fortschritt der Hungerstreiks kontrollieren oder die Gefangenen medizinisch behandeln kann.

In einer Zeit, in der Gespräche zwischen Anwalt und Mandant als Straftat gezählt werden und die Aufhebung eben dieser Einschränkungen zentraler Teil der Forderung dieser Hungerstreiks ist, ist es unmöglich geworden, verlässliche Informationen aus den Gefängnissen zu bekommen. Ich möchte dennoch auf die Informationen der Webseite der Istanbuler Ärtzekammer verweisen: Während des Hungerstreiks sollten die Streikenden so viel Wasser wie gewünscht, jedoch Minimum 5 große Gläser am Tag trinken. Zwei Teelöfel Salz, Füng Teelöfel Zucker, einen Teelöfel Karbonat und zwei Vitamin B Tabletten, da kein reines Vitamin B1 auf dem türkischen Markt zu finden ist.

Das Grundprinzip unseres Mediziner-Berufs ist es, die gesundheitliche Verfassung des Menschen stets zu schützen, fortzuführen und zu verbessern. Selbstverständlich zählt hierzu der Respekt gegenüber den Entscheidungen von Menschen, die sie aus freiem Willen heraus treffen. Wir können niemanden eine medizinische Behandlung aufzwingen, der es nicht möchte. Dies gilt auch für unsere Kollegen in den Gefängnissen, die diesen schweren Prozess begleiten müssen. Der Hungerstreik ist zweifelsohne ein schwerer Prozess. Wohlwissend, dass Menschen sterben, langfristige Schäden oder Behinderungen davon tragen können, aus Respekt vor den Entscheidungen der Menschen aber nur die nötigsten Maßnahmen treffen zu können, wird auch bei uns schwerwiegende Schäden hinterlassen.

An diejenigen, die versuchen stets auf dem aktuellen Stand zu bleiben und sich in der Tagesordnung des Landes verloren haben, kann ich sagen: ein bisschen weniger Tempo, dafür mehr Gehör für diejenigen, denen es allein bleibt, durch den Einsatz ihres Körpers und ihrer Gesundheit ihren Forderungen Ausdruck zu verleihen. Damit wir nicht noch mehr Schmerz erleiden müssen und die Gefangenen ihren Streik beenden können, ist die Erinnerung an den Wert eines jeden Lebens meine Pflicht.