Eine Botschaft an die Türkei, nicht nur an die Kurden

newroz 2013Von Orsola Casagrande* 23.03.2013

Abdullah Öcalans Newroz-Botschaft kann mit folgendem Satz zusammengefasst werden: „Es ist an der Zeit, die Waffen schweigen und Ideen sprechen zu lassen.“ Anders formuliert: Was gerade geschieht, ist ein Strategiewechsel. Die kurdische Freiheitsbewegung bewegt sich von einer bewaffneten Kampagne hin zu einer kulturellen Kampagne. In diesem Sinne ist Öcalans „Beteuerung“ besonders für die Guerillas von großer Wichtigkeit: „Dies ist kein Ende, sondern ein Neubeginn. Wir geben den Kampf nicht auf, wir beginnen einen anderen Kampf“, sagte er. Diese „Beteuerung“ ist notwendig, weil der Kurdenführer die Kämpfer nicht nur zur Ausrufung einer Waffenruhe, sondern auch zu einem Rückzug hinter die Grenzen des türkischen Staates aufgerufen hat.

Der Brief, den Öcalan über den Chef des türkischen Geheimdienstes (er leitet die Gespräche mit dem Kurdenführer) an die BDP (Partei für Frieden und Demokratie) geschickt hat, ist unmissverständlich und folgt den Vorschlägen aus der 2012 veröffentlichten Roadmap. „Die Periode des bewaffneten Kampfes endet und die Tür öffnet sich für demokratische Politik“ heißt es in dem Brief, und weiter: „Die Zeit ist gekommen, in der Streit, Konflikt und Feindschaft dem Zusammengehen, der Einheit, dem Wohl und der gegenseitigen Umarmung weichen.“

Wie schon die Roadmap lässt auch die Newroz-Botschaft die politische und strategische Reise Öcalans erkennen. Es ist eine Reise, die an dem Punkt angekommen ist, an dem die Notwendigkeit des bewaffneten Kampfes endet. Worum es dem Kurdenführer jetzt geht, ist der Aufbau einer neuen Gesellschaft, ist ein Modell für eine neue gesellschaftliche Organisierung, die zur Demokratisierung der gesamten Türkei führen soll. Die Ausgestaltung dieses neuen Modells (der Demokratischen Autonomie, die, wenn auch in Teilen revidiert, in den letzten Jahren umgesetzt wurde und weiterhin umgesetzt wird) geht einher mit der Schaffung von Bedingungen, die dem Frieden förderlich sind. Deswegen wurde die Guerilla in der Newroz-Erklärung dazu aufgerufen, eine Waffenruhe zu erklären.

Gleichwohl ist klar, dass sich Öcalans Botschaft nicht nur an die PKK richtet. Sie richtet sich auch an die türkische Regierung, die entscheiden muss, wie sie sie beantwortet. Die wahrscheinlich größte Herausforderung ist der Beginn der Friedensgespräche. Es ist kein Zufall, dass Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan nur drei Tage vor Newroz über die Möglichkeit der Einrichtung eines „wise men“-Komitees sprach, das für die Lösung einiger Fragen über den Rückzug bis zur Entwaffnung der Guerilla zuständig sein solle. In der Roadmap erklärt Öcalan detailliert, welche Schritte alle am türkisch-kurdischen Konflikt Beteiligten unternehmen müssen, um dialogfördernde Bedingungen zu schaffen. Wie bei allen Prozessen ist die Schaffung eines Umfeldes, in dem Vertrauen wachsen kann, eine unabdingbare Voraussetzung für den Beginn eines Dialogs. Faktisch bedeutet dies, einen Rahmen zu schaffen, in dem alle Parteien denselben Status besitzen und gleichberechtigt am Verhandlungstisch sitzen. Welche Schritte die türkische Regierung hierfür unternehmen wird, und wie zügig sie dies tut, wird von Bedeutung sein.

Öcalan war über die Jahre hinweg in der Lage, seine Vorstellungen von einem neuen Gesellschaftsmodells, einschließlich der für seine Umsetzung nötigen neuen Institutionen, zu diskutieren und zu erläutern. Eigenwillig hat er auch begonnen, ein neues Vokabular einzuführen, um Konzepte und Ideen zu definieren, die andernorts erst teilweise „definiert“ wurden (beispielsweise im Baskenland, wobei berücksichtigt werden muss, dass jeder Prozess und jedes Land seine eigenen Besonderheiten besitzt).

Aber vor allem war und bleibt es eine „Reise“, ein gemeinsamer Weg, trotz der langen Isolation, der Öcalan unterworfen war. Es sei daran erinnert, dass Öcalans Roadmap erst fertig gestellt wurde, nachdem der Entwurf von allen Teilen der kurdischen Bewegung diskutiert, verändert und zusammengefügt worden war. In Hunderten von Sitzungen und Versammlungen wurde über Öcalans Vorschlag diskutiert. Zu Newroz waren die KurdInnen also gut vorbereitet und bereit, und dies ist auch der Grund, warum der Brief des Kurdenführers mit so viel Enthusiasmus aufgenommen wurde. Es war nicht einfach, die kurdische Bewegung vorzubereiten, denn Öcalan hat zu einer anderen Sichtweise des Konflikts als solchen ermutigt. [Dies ist] ein Durchbruch, den die Regierung und intellektuelle und politische Kreise in der Türkei offensichtlich noch nicht geschafft haben. Hierin liegt wahrscheinlich auch die größte Gefahr: Dass ein nicht geringer Teil der Gesellschaft und der politischen und intellektuellen Klasse auf einen solchen Schock nicht vorbereitet sind. Der Punkt ist: Es geht nicht darum, „bloß“ über Frieden im klassischen Sinne (z. B. über die Ausrufung eines Waffenstillstands) zu reden, sondern es geht wirklich darum, das Diskursniveau anzuheben, indem man andere Formen, einschließlich einer neuen Art und Weise, über den Frieden zu reden, entwickelt. Es schließt die Verwendung eines neuen Vokabulars mit ein, was bedeutet, dass man riskiert, denjenigen, den man bislang als „den Anderen“ betrachtet hat, so zu sehen, als würde man sich selbst betrachten. So wird man dem „Anderen“ das wünschen, was man sich selbst wünscht.

Die Basken, und vor ihnen die Iren und Südafrikaner, sind mit dem Thema sehr vertraut. Für die Türkei ist es noch neu. Die Kurden haben Weitblick, Kreativität, Mut und Fantasie bewiesen. Sie haben die Hände nicht zurückgezogen, im Gegenteil, sie haben sie ausgestreckt. Wir werden sehen, ob die türkische Regierung und andere Akteure des politischen, intellektuellen und sozialen Lebens in der Türkei mutig genug sein werden, um diese wichtige Geste anzuerkennen und diese Hände zu schütteln.

Quelle: ANF, 23.03.2013, ISKU

*Anmerkung d.Ü.: Orsola Casagrande war Nordirland-Korrespondentin der italienischen Tageszeitung „Il Manifesto“ und übersetzte zahlreiche Bücher über den Irland-Konflikt, unter anderem die Aufsatzsammlung des Sinn Fein-Vorsitzenden Gerry Adams. Sie berichtete auch aus Diyarbakir, Istanbul und anderen Teilen der Türkei.

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